Filmfestival Cannes Das Filmfestival von Cannes hat begonnen, 20 Regisseure konkurrieren um die "Goldene Palme". Darunter vier Frauen. Rekord! Erkundungen in einer männerlastigen Branche
Im vergangenen Jahr gab es beim Filmfestival in Cannes einen Aufschrei: Keine einzige Frau stand im Wettbewerb um die Goldene Palme. Die britische Regisseurin Alicia Duffy zeigte zwar ihren Debütfilm in der Nebenreihe Quinzaine des Réalisateurs und mit den Britinnen Sophie Fiennes und Lucy Walker waren zwei Frauen für ihre Dokumentationen nominiert, der Wettbewerb war jedoch eine rein männliche Angelegenheit. Dieses Jahr sind – vielleicht aus Zufall – vier Regisseurinnen mit von der Partie: Die Britin Lynne Ramsay mit We Need to Talk About Kevin, die Australierin Julia Leigh, die Französin Maїwenn Le Besco und die Japanerin Naomi Kawase. Das sind noch immer nur vier von insgesamt 20 Filmemachern – aber deprimierenderweise so viele weibliche
e weibliche Teilnehmerinnen wie noch nie.Ramsay findet das „empörend“. „Es herrscht zahlenmäßig ein solches Ungleichgewicht“, sagt sie. Le Besco, die mit Polisse, ihrem dritten Film in Cannes dabei ist, berichtet, ihr begegne in der Filmindustrie „totaler und permanenter“ Sexismus. „Männer mögen es nicht, von Frauen etwas gesagt zu bekommen – sie fühlen sich entmannt, manipuliert, bewertet. Hält hingegen ein Mann die Zügel in der Hand, fühlen sie sich einfach von einem Regisseur angeleitet."Ramsey hat andere Erfahrungen gemacht. Sie sagt, ihr sei nie offener Sexismus begegnet, sie habe aber beobachtet, dass männliche Regisseure, die Forderungen und Ansprüche stellen, „als künstlerisch, kreativ und integer gelten, wohingegen Frauen eher als schwierig betrachtet“ würden. Das Geschlechterungleichgewicht ähnelt für sie einem „Land, in dem nicht gefilmt wird und das keine Stimme hat. Das ist eine wirklich wichtige Sache.“Schlag nach bei ShakespeareWoher kommt dieses Ungleichgewicht? Wie sich in den Führungspositionen anderer Branchen – etwa in Politik und Wirtschaft – weniger Frauen finden, gibt es auch weniger Frauen unter den Filmemachern. „Die Frauen sind auf dieser Welt außen vor“, da sei die Filmbranche nur ein Beispiel, sagt die Dokumentarfilmerin Sophie Fiennes, deren Film über den Künstler Anselm Kiefer Grass (Over Your Cities Grass Will Grow) im vergangenen Jahr an der Côte D’Azur gezeigt wurde. Sie kann sich noch erinnern, wie sich in ihr der Wunsch regte, Filme zu machen: „Ich war vierzehn und habe als Babysitterin gearbeitet. Ich habe Werner Herzogs Kasper Hauser gesehen und war mir absolut sicher, dass ich so etwas auch machen wollte. Ich dachte: Wie kann ich das nur anstellen, und dass ich mich vielleicht als Mann verkleiden müsste – beinahe wie bei Shakespeare, wie Viola – um da reinzukommen.“Für Penny Woolcock, die unter anderem John Adams Oper The Death of Klinghoffer verfilmt hat, ist die Sache klar: „Frauen haben Kinder, so einfach ist es meiner Ansicht nach. Regisseurinnen haben entweder wie ich schon sehr jung Kinder bekommen, haben gar keine, können sich eine Betreuung leisten oder es macht ihnen nichts aus, ihre Kinder immer wieder über einen sehr langen Zeitraum nicht zu sehen.“ Sie beschreibt das Filmemachen als ein „brutales“ Regime, das auch vor und nach den Dreharbeiten eine manische Fokussierung auf ein Projekt verlange. Bei einem Dreh müsse der Regisseur zwölf Stunden am Tag und sechs Tage die Woche präsent sein. Ramsay nennt es „eine Berufung, eine alles verzehrende Arbeit, die zum ganzem Leben wird.“ Die dänische Filmemacherin Frederikke Aspöck, deren Erstling Out of Bonds in Cannes in einer Sondervorführung gezeigt wurde, sagt, in ihrer Heimat erführen weibliche Filmschaffende gerade wachsende Begeisterung: Anfang diesen Jahres gewann Susann Biers In a Better World den Oscar für den besten fremdsprachigen Film und Lone Scherfigs Film An Education (2009) war für so ziemlich jeden Preis nominiert. Ohne ihren „fantastischen Ehemann“, der sich um ihre zwei kleinen Kinder kümmere, könnte sie ihren Beruf aber nicht ausüben. „Für manche in der Filmwelt tätige Frauen ist dann ein Bürojob in der Branche attraktiver“, weiß sie. Und es stimmt: In anderen Bereichen der Filmindustrie wie den Produzenten sind Frauen nicht ganz so rar.Die Australierin Julia Leigh, deren „erotisches Märchen“ Sleeping Beauty bereits vor seiner Premiere am Montag für eine Menge Aufsehen gesorgt hat, erzählt, hinter ihrem Debüt hätten viele Frauen gestanden – Leighs Produzentin und die oberste Wächterin der Finanzen bei den australischen Filmförderern sind beides Frauen. Sie hat außerdem das Glück gehabt, in Jane Campion, deren Film Das Piano als einziger von einer Frau gedrehter Spielfilm jemals eine Goldene Palme gewonnen hat, eine Mentorin gefunden zu haben. Wie stark Campions Karriere durch den Erfolg von Das Piano befördert wurde, unterstreicht, wie wichtig die Sprungbrett-Funktion des Festivals ist. Andrea Arnold hatte für einen Kurzfilm bereits einen Oscar gewonnen, als ihr erster Spielfilm Red Road 2006 in Cannes Premiere hatte. Dass sie dort dann den Preis der Jury gewann, war für ihren Aufstieg zur europäischen Arthouse-Ikone von entscheidender Bedeutung.Männer werden nie gefragtWenn aber so viele Frauen bei der Produktion und Finanzierung von Filmen mitwirken, was ist dann das Problem bei der Regie? Steckt noch mehr dahinter als die Anforderungen von Kinderbetreuung und Familie? Außer Le Besco haben nur wenige Regisseurinnen das Gefühl, es gebe am Set Autoritätsprobleme. Ramsay, die als Kamerafrau gearbeitet hat, bevor sie zur Regie wechselte, sagt, man müsse sein Handwerk beherrschen – dann werde man eher respektiert. Woolcock lacht, wenn sie daran zurückdenkt, wie sie als junge Regisseurin drei Jahre lang jede Ausgabe des Fachmagazins American Cinematographer durchgelesen hat, um das Gefühl zu haben, sie wüsste genug, um ihre männlichen Kollegen hinter der Kamera herumkommandieren zu können. Es sei bei der Arbeit aber nie darum gegangen, der Chef zu sein, vor allem nicht, seitdem sie erkannt habe, dass man nicht mit Leuten arbeiten sollte, die man nicht mag.Rachel Millward, die das britische Frauenfilmfestival "Birds Eye View" kuratiert, denkt, dass bei der Sache noch etwas anderes im Spiel ist: Dass es nämlich auch zu wenig Frauen gebe, die für den Film schreiben. „Es gibt in diesem Geschäft immer noch Barrieren, die für Frauen nicht leicht zu überwinden sind.“ Sie spricht von der Tatsache, dass es enorme geschäftliche Anstrengungen erfordert, wenn man Filmdrehbücher schreibt. „Man muss Leute kennen, über ein Netzwerk verfügen und für den Markt schreiben.“ Das gleiche gelte in noch stärkerem Maße für Regisseure, sagt sie: „Wenn es darum geht, Geld für einen Film aufzutreiben, braucht man ein gewaltiges Selbstbewusstsein, damit sich einem all diese Türen öffnen und muss über eine unglaubliche Überzeugungskraft und Führungsfähigkeiten verfügen. Frauen werden auf breiterer gesellschaftlicher Ebene nicht darin bestärkt, sich diese Fähigkeiten anzueignen.Vielleicht besteht dennoch ein wenig Grund zur Hoffnung. Großbritannien kann eine zunehmende Zahl international anerkannter Fimemacherinnen verweisen: neben Ramsay und Arnold gibt es Joanna Hogg, Sam Taylor-Wood, Antonia Bird, Beeban Kidron, Phyllida Lloyd und Gurinder Chadha. Die BFI-Regisseurin Amanda Nevill spricht davon, dass sich eine Tür geöffnet habe und sich mithilfe der weiblichen Türöffner in anderen Positionen der Filmindustrie eine schrittweise Veränderung vollziehe. „Frauen sind definitiv im Kommen“, sagt Ramsay. „Da draußen gibt es noch viele interessante Regisseurinnen und es wird in Zukunft noch großartige Filmemacherinnen geben. Ich bin den Frauen dankbar, die mir vorangegangen sind und ohne Zweifel bewiesen haben, dass Frauen genau so in der Lage sind, großartige Filme zu machen, und zwar großartige Filme aller Art." Und: Ich vermute, dass männliche Filmemacher äußerst selten danach gefragt werden, wie es für sie ist, als Mann Regie zu führen.“
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