„Glauben Sie ernstlich, dass Jeremy Corbyn eine Wahl gewinnen kann?“ Das ist derzeit der Standardeinstieg in Fernsehdebatten. Rechts sitzt ein Blair-Jünger, links ein Corbynist und in der Mitte der unparteiische Moderator, wobei „unparteiisch“ in dieser seltsamen Zeit heißt, man geht davon aus, dass die Labour-Partei gerade Selbstmord begangen hat.
Die ehrliche Antwort wäre: Ich weiß es nicht. Wenn sich die politische Tektonik verschiebt, dann oft abrupt. Die Erdrutsche, die in Schottland die SNP oder in Griechenland die Linksallianz Syriza an die Macht gebracht haben, sahen die Verfechter des Status quo noch einen Monat zuvor nicht kommen. Die politische Stimmung im Jahr 2020? Unmöglich vorauszusagen. Das Bild von einer Bevölkerung, die einheitliche Positionen der „Mitte“ vertritt, ist jedenfalls trügerisch. Um das zu sehen, muss man sich nur anschauen, was heute alles Mitte sein soll, vor fünf Jahren aber noch als rechts galt.
Ich weiß also nicht, ob Corbyn Parlamentswahlen gewinnen kann, und es ist mir auch egal. Wichtiger als zu gewinnen, ist zu wissen, wofür man steht. An dieser Stelle brennt bei den New-Labour-Ideologen verlässlich die Sicherung durch: Es sei hirnrissig, einen „Unwählbaren“ zum Chef zu machen. Das bedeute einen Freibrief für die Tories. Außerdem hätten die anderen Kandidaten für den Labour-Vorsitz doch auch Werte vertreten.
O ja. Die listeten sie vor der Wahl sogar auf, und einer dieser Werte war es, „starke Werte zu haben“. Die restlichen waren entweder sehr schwammig („soziale Gerechtigkeit“) oder identisch mit konservativen Werten („Arbeit muss sich lohnen“) – oder beides zugleich: „Anständigkeit“; „Bürgerrechte gehen mit Verantwortung einher“ und so weiter. Wie auch immer Corbyns Chancen in fünf Jahren stehen: Eine Partei, die als ihren Wert aufzählt, „starke Werte zu haben“, ist tot.
Im Unterhaus versagt
Die Frage lautet also nicht, ob Corbyn „wählbar“ ist, sondern ob Labour unter seiner Führung eine wirksame Opposition bilden kann. Vor dem neuen Parteichef bot Labour gar keine Opposition mehr. Dass es die Partei im Sommer nicht fertigbrachte, gegen die neuen Sozialgesetze zu stimmen, war einer der zynischsten politischen Momente, die ich je erlebt habe.
Ein erster Erfolg Corbyns ist, dass Politikerinterviews, in denen Abgeordnete auf jede Frage eine vorgestanzte Antwort geben, nicht mehr funktionieren. So wurde das neue Mantra der Torys – „Labour ist jetzt eine Bedrohung für unsere nationale Sicherheit, für die Sicherheit unserer Wirtschaft und die Sicherheit unserer Familien“ – sogleich zur Lachnummer.
Dabei haben die Konservativen diese Art von Interviewbaustein nicht erfunden. Legendär ist der Auftritt des damals frischgebackenen Labour-Chefs Ed Miliband von 2011, als er sechsmal denselben Satz sagte, im Glauben, der würde dann nur einmal gesendet. Bei New Labour galt die Regel, dass ein Interview nie ein echtes Gespräch werden durfte.
Mehr noch als die zunehmende Ähnlichkeit zwischen den großen Parteien war es dieser Stil, der die Politikverdrossenheit grassieren ließ. Die Taktik „Formel statt Antwort“ wurde zur Norm unter den britischen Amtsträgern. Wenn nun ein Politiker ausschert und tatsächlich auf die Fragen antwortet, die ihm gestellt werden, riskiert er zwar, dass man ihm seine Worte gnadenlos verdreht, doch lässt er alle anderen läppisch erscheinen.
Zurück zum Tory-Mantra von der Bedrohung der nationalen Sicherheit. Seit jeher ist es Strategie der Konservativen, die Gefahren progressiven Denkens aufzublähen. So bekämpften sie die schottische Unabhängigkeitsbewegung, und so führten sie ihre Wahlkampagne 2015: „Tories oder Chaos“. Das Problem ist, sie mussten dafür die Unterschiede zwischen sich selbst und Labour grotesk übertreiben, so dass die Strategie gerade jetzt, da es wieder Unterschiede gibt, nicht mehr greift. Wenn der Premierminister per Twitter davor warnt, dass ein weißbärtiger Mann mit Strickjacke die Sicherheit britischer Familien bedrohe, klingt das nur noch dämlich.
Idiotische Wortspiele
Was mit Corbyn als Oppositionsführer anders wird, zeigt sich daran, wie er die traditionelle wöchentliche Fragestunde an den Premier nutzen will: Er will seine Fragen per Crowdsourcing zusammenstellen und sich die idiotischen Wortspiele sparen, die derzeit als Parlamentarismus gelten. Die Leitfrage für die Opposition selbst – so viel lässt sich schon sicher sagen – wird nicht mehr lauten: „Wie können wir gewinnen?“, sondern „Wem können wir helfen?“
Die Haltung von New Labour war: Niemandem, solange wir nicht regieren. Wenn Corbyn es nun schafft, die britische Politik so weit durchzurütteln, dass all das leere Gerede einem Wettstreit wirklich verschiedener Ideen weichen muss, hat auch die Opposition endlich wieder einen Sinn.
Kommentare 4
So ist es, Frau Williams. Derzeit ist es besser vorsichtig zu sein, mit gewagten Prognosen. Corbyn hat erst einmal Zeit und ist nicht sofort unter Druck. Er gewann überzeugend die Parteiführung, in einem echten, demokratischen Wettbewerb, nicht in einer Show, wie es auf dem Kontinent allzu viele Parteien exerzieren. Demokratisch und republikanisch ist, nun erst einmal einem definitiv anderen Politikerstil und einer deutlich linkeren Orientierung die Chance zu geben sich offiziell zu positionieren. Dann wird man sehen.
"Vor dem neuen Parteichef bot Labour gar keine Opposition mehr. Dass es die Partei im Sommer nicht fertigbrachte, gegen die neuen Sozialgesetze zu stimmen, war einer der zynischsten politischen Momente, die ich je erlebt habe." - Das ist fast in ganz Europa die Crux der Linksmitte- Parteien, die sich sozialdemokratisch nennen oder gar noch sozialistisch.
Ich denke, Corbyn wird zumindest einen Kurswechsel versuchen und das ist völlig im Sinne der Demokratie. Labour wird davon nicht untergehen. Scheitert der neue Chef, kommen wieder die technokratischen Leute, die schon während des Studiums in Oxbridge entschieden haben, dass sie in der Politik ganz vorn und oben was werden wollen, letztlich unabhängig vom Parteischild an der Bürotüre und einer weitreichenden inhaltlichen Strategie.
(Frau Williams Statement gut zu übersetzen, war wichtig! Danke Michael Ebmeyer)
Christoph Leusch
Und wer oder was ist der andere Teil des Problems? Da gibt es Politiker, die sind das Problem. Hat sein Vorgänger nicht auch das "Internet für sich zu nutzen gewußt"? Wer bietet den Menschen im Irak Hoffnung?
Und wer nutzt bei uns oder besser darf bei uns die Medien nutzen, während andere totgeschwiegen werden? Nicht nur in den deutschen Fox-Privatfunk-Anstalten. Und immer noch wird die "genehme Politik" bezahlt. Auch im Umgang der angeblich zivilisierten Politiker haben diese sich in Griechenland kein Ruhmesblatt verdient.
Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel!
Es ist beeindruckend, aber andererseits auch nicht überraschend, dass die Renaissance der Linken nun ausgerechnet von England (und den USA, wenn Sanders weiter so erfolgreich ist) ausgeht: Dort war die Politik immer schon pragmatischer und weniger ideologisch eingefahren, wenn es ernst wurde und die bisherigen Strategien in eine Sackgasse geführt hatten.
Syriza war der Vorreiter, und ich habe im Januar gesagt: Wenn sie bis zum Herbst durchhalten und die Debatten in der EU aufmischen, haben sie gewonnen - dann wird sich nicht nur Griechenland, sondern die ganze EU verändern. Es ist natürlich noch zu früh, um Victory-Zeichen hochzuhalten, aber die Tendenz ist eindeutig. Es steht zu hoffen, dass auch die schnarchnasige SPD das beizeiten erkennt - oder will sie etwa Merkel den Ruhm überlassen, als erste die Zeichen der Zeit zu erkennen?
Bis 2020 wird sehr viel passieren. Schon jetzt pfeift das gegenwärtige wirtschaftspolitische Modell aus dem letzten Loch, und die Annahme, dass es in den nächsten 5 Jahren zu keiner ernsteren Krise kommt, ist schon extrem optimistisch. Gewinnen wird danach diejenige Partei, die als erste oder am überzeugendsten tatsächlich neue Konzepte anbietet - und da dürfte Labour unter Corbyn gute Chancen haben.
" starke werte" zu vertreten(gut-nachbar sein in europa, tolerant und friedlich bleiben,soziale konflikte moderieren) ist nicht kostenlos. die gebetsmühlen-artige wiederholung des staats-verantwortlichen einstehens beim kollaps-abwenden von system-relevantem wird um-interpretiert: politische willfährigkeit ist moralische anständigkeit. ein teil(partei) zu sein gilt garnichts in zeiten der groko, teilhabe am großen ganzen ist angesagt. wenn das bild vom sitzen im gleichen (rettungs-)boot eingetrichtert ist, kann der steuer-mann(-frau) oppositions-los diktieren: legt euch alle(besonders die, denen es schwerfällt) in die riemen, wer zum voran-kommen das meiste bei-trägt, auf konzipieren eigener bedürfnisse verzichtet, ist zwar nicht besonders lobenswert, tut aber seine pflicht, wird nicht getadelt und darf uns wählen. gründe, sich als retter in der not benutzen zu lassen gibts viele: die globalisierung schafft scharfe konkurrenz in der produktion( lohn-stück-kosten sind bedenklich hoch, trotz export-wm) und finanzierung(öffentlicher sparzwang, damit kredite nicht zu teuer werden, führt zu erhöhten folge-ausgaben/krediten, über die sich kredit-geber aus dem privat-sektor freuen können). staaten müssen statt bekriegt boykottiert werden, oder aus übergeordneten gesichtspunkten finanziert werden(etc). demografische bedrohlichkeiten(zu viel sorge-bereitende alte, zuwenig gescheite arbeits-kräfte als nachschub=facharbeiter,die zuviel kosten), finanz-tsunamis, gesundheits- und öko-aufwendungen, nebst human-pflichten gegen kriegs-flüchtlinge. kurz: wer als anständig gelten will, hat viel zu leisten(wenn man reiche steuerlich schonen will). das große ganze mit priorität, selbst-vergessen, im blick haben: tag-tägliche massage in den qualitäts-medien, lohn-forderungen,transfer-leistungen(sind allermeist: un-mäßig, unbezahlbar, bestenfalls aufzuschieben), eisenbahner,post-zusteller, erzieher,pflege-kräfte etc. sind alle, nach und nach, an den pranger zu stellen. der appell, sozial-verantwortlich zu handeln, ist meist eine abwehr gegen detail-orientiertes erfassen und zur geltung kommenlassen von spezifischen ungerechtigkeiten und notlagen. staats-männische konflikt-verleugnung in massenmedien ist system-erhaltend, aber auch in schneller abfolge der sozialen brennpunkte erschöpft sich das öffentliche interesse. zu profilierte partei-programme gelten als mehrheits-gift, auf dem sieger-treppchen gibts gedrängel, dort wollen alle sein. wer nicht (mit-)regiert ist ein verachteter verlierer. ausgegrenzt als pack und gesindel wird schneller als hingehört und gelten-gelassen(kommunikations-probleme mit unwilligen volks-teilen sind nicht von pappe). optimismus ist bürger-pflicht, aufbegehren gegen staatliche zumutungen wird populistisch ausmanövriert, kommt aber nicht zu seinem recht: ein zu pessimistisches panorama?