Gerade brennen ein paar Sicherungen durch

Großbritannien Mit dem neuen Labour-Chef Jeremy Corbyn definiert sich die britische Opposition nicht nur neu – sie könnte auch wieder dem gerecht werden, was mit dem Wort gemeint ist
Jeremy Corbyn gewinnt an Medienpräsenz
Jeremy Corbyn gewinnt an Medienpräsenz

Foto: Carl Court / Getty Images

Glauben Sie ernstlich, dass Jeremy Corbyn eine Wahl gewinnen kann?“ Das ist derzeit der Standardeinstieg in Fernsehdebatten. Rechts sitzt ein Blair-Jünger, links ein Corbynist und in der Mitte der unparteiische Moderator, wobei „unparteiisch“ in dieser seltsamen Zeit heißt, man geht davon aus, dass die Labour-Partei gerade Selbstmord begangen hat.

Die ehrliche Antwort wäre: Ich weiß es nicht. Wenn sich die politische Tektonik verschiebt, dann oft abrupt. Die Erdrutsche, die in Schottland die SNP oder in Griechenland die Linksallianz Syriza an die Macht gebracht haben, sahen die Verfechter des Status quo noch einen Monat zuvor nicht kommen. Die politische Stimmung im Jahr 2020? Unmöglich vorauszusagen. Das Bild von einer Bevölkerung, die einheitliche Positionen der „Mitte“ vertritt, ist jedenfalls trügerisch. Um das zu sehen, muss man sich nur anschauen, was heute alles Mitte sein soll, vor fünf Jahren aber noch als rechts galt.

Ich weiß also nicht, ob Corbyn Parlamentswahlen gewinnen kann, und es ist mir auch egal. Wichtiger als zu gewinnen, ist zu wissen, wofür man steht. An dieser Stelle brennt bei den New-Labour-Ideologen verlässlich die Sicherung durch: Es sei hirnrissig, einen „Unwählbaren“ zum Chef zu machen. Das bedeute einen Freibrief für die Tories. Außerdem hätten die anderen Kandidaten für den Labour-Vorsitz doch auch Werte vertreten.

O ja. Die listeten sie vor der Wahl sogar auf, und einer dieser Werte war es, „starke Werte zu haben“. Die restlichen waren entweder sehr schwammig („soziale Gerechtigkeit“) oder identisch mit konservativen Werten („Arbeit muss sich lohnen“) – oder beides zugleich: „Anständigkeit“; „Bürgerrechte gehen mit Verantwortung einher“ und so weiter. Wie auch immer Corbyns Chancen in fünf Jahren stehen: Eine Partei, die als ihren Wert aufzählt, „starke Werte zu haben“, ist tot.

Im Unterhaus versagt

Die Frage lautet also nicht, ob Corbyn „wählbar“ ist, sondern ob Labour unter seiner Führung eine wirksame Opposition bilden kann. Vor dem neuen Parteichef bot Labour gar keine Opposition mehr. Dass es die Partei im Sommer nicht fertigbrachte, gegen die neuen Sozialgesetze zu stimmen, war einer der zynischsten politischen Momente, die ich je erlebt habe.

Ein erster Erfolg Corbyns ist, dass Politikerinterviews, in denen Abgeordnete auf jede Frage eine vorgestanzte Antwort geben, nicht mehr funktionieren. So wurde das neue Mantra der Torys – „Labour ist jetzt eine Bedrohung für unsere nationale Sicherheit, für die Sicherheit unserer Wirtschaft und die Sicherheit unserer Familien“ – sogleich zur Lachnummer.

Dabei haben die Konservativen diese Art von Interviewbaustein nicht erfunden. Legendär ist der Auftritt des damals frischgebackenen Labour-Chefs Ed Miliband von 2011, als er sechsmal denselben Satz sagte, im Glauben, der würde dann nur einmal gesendet. Bei New Labour galt die Regel, dass ein Interview nie ein echtes Gespräch werden durfte.

Mehr noch als die zunehmende Ähnlichkeit zwischen den großen Parteien war es dieser Stil, der die Politikverdrossenheit grassieren ließ. Die Taktik „Formel statt Antwort“ wurde zur Norm unter den britischen Amtsträgern. Wenn nun ein Politiker ausschert und tatsächlich auf die Fragen antwortet, die ihm gestellt werden, riskiert er zwar, dass man ihm seine Worte gnadenlos verdreht, doch lässt er alle anderen läppisch erscheinen.

Zurück zum Tory-Mantra von der Bedrohung der nationalen Sicherheit. Seit jeher ist es Strategie der Konservativen, die Gefahren progressiven Denkens aufzublähen. So bekämpften sie die schottische Unabhängigkeitsbewegung, und so führten sie ihre Wahlkampagne 2015: „Tories oder Chaos“. Das Problem ist, sie mussten dafür die Unterschiede zwischen sich selbst und Labour grotesk übertreiben, so dass die Strategie gerade jetzt, da es wieder Unterschiede gibt, nicht mehr greift. Wenn der Premierminister per Twitter davor warnt, dass ein weißbärtiger Mann mit Strickjacke die Sicherheit britischer Familien bedrohe, klingt das nur noch dämlich.

Idiotische Wortspiele

Was mit Corbyn als Oppositionsführer anders wird, zeigt sich daran, wie er die traditionelle wöchentliche Fragestunde an den Premier nutzen will: Er will seine Fragen per Crowdsourcing zusammenstellen und sich die idiotischen Wortspiele sparen, die derzeit als Parlamentarismus gelten. Die Leitfrage für die Opposition selbst – so viel lässt sich schon sicher sagen – wird nicht mehr lauten: „Wie können wir gewinnen?“, sondern „Wem können wir helfen?“

Die Haltung von New Labour war: Niemandem, solange wir nicht regieren. Wenn Corbyn es nun schafft, die britische Politik so weit durchzurütteln, dass all das leere Gerede einem Wettstreit wirklich verschiedener Ideen weichen muss, hat auch die Opposition endlich wieder einen Sinn.

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Übersetzung: Michael Ebmeyer
Geschrieben von

Zoe Williams | The Guardian

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