Seit Juni kamen 150.000 Menschen ins Flüchtlingslager Dadaab im Norden Kenias, vier Fünftel davon Frauen und Kinder. Viele sind oft hundert Kilometer zu Fuß gelaufen, um das überfüllte Camp zu erreichen, das inzwischen als Kenias drittgrößte Stadt gilt. Dabei bekommen wir von der Hungersnot in Somalia nur diejenigen zu sehen, denen diese Flucht gelingt. Wer zurückbleibt, der bleibt außerhalb der Reichweite von Fernsehkameras und Hilfsorganisationen.
Inzwischen steigen die Voraussagen, wie viele Menschen noch 2011 sterben könnten, auf erschütternde 750.000 – mehr als doppelt so viele wie bei der Hungersnot in den neunziger Jahren. Obwohl die Gewalt damals heftiger tobte, sagt Mark Bradbury, Somalia-Experte des Rift Valley Institute, das sich mit Ostafrika beschäftigt und Büros in Kenia sowie London unterhält. Bradbury stellt die entscheidende Frage: Warum liegt die vermutete Todesrate heute so viel höher?
Nach der Hungersnot in Äthiopien 1984/ 85 wurde oft erklärt, so etwas dürfe nie wieder passieren. Seither wurden Millionen in Systeme zur Vorhersage und Vorwarnung investiert. Ostafrika ist zwar anfällig für derartige Katastrophen, die Lehre aus Äthiopien vor einem viertel Jahrhundert bestand aber in der Erkenntnis – Hungersnöte entstehen nicht durch Naturgewalten wie Dürren, sondern dadurch, dass sie von Menschenhand verschlimmert werden. Für die Hilfsorganisation Oxfam hat die Welt auf dramatische Weise versagt, als es galt, ihrer kollektiven Verantwortung für Somalia nachzukommen, denn diesmal habe das Frühwarnsystem funktioniert – bereits vor einem Jahr wurden Warnungen laut, unaufhaltsam ziehe ein Desaster herauf. Weshalb wird sich diese Lebensmittelkrise dennoch zur schlimmsten Hungersnot auswachsen, die Somalia je erlebt hat?
Kein Zutritt mehr
Die Schätzungen der möglichen Opferzahlen schafften es in den vergangenen Wochen kaum noch in die Hauptnachrichten europäischer Fernsehanstalten. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den zehnten Jahrestag von 9/11 oder die UN-Palästina-Debatte. Beinahe routinemäßig wurde übersehen, dass Somalias Elend mit dem 11. September 2001 zusammenhängt. Sollten sich einmal Historiker mit dem Somalia der ersten Jahrzehnte im 21. Jahrhundert beschäftigen, werden sie erkennen, dass dieses Land – neben Afghanistan und dem Irak – den Antiterror-Krieg mit extrem vielen Menschenleben bezahlt hat. Im Irak kam der Tod durch Bomben, in Somalia durch Hunger: Es sind unmittelbare Folgen eines gewaltsamen Extremismus, der von verfehlter US-Politik mit hervorgerufen wurde. Denn die Katastrophe in Somalia geht darauf zurück, dass dort von der US-Politik seit 9/11 „humanitärer Raum“ und das für effektive Hilfe unabdingbare Prinzip der Neutralität zerstört wurden. Das ist der gravierende Unterschied zur Hungersnot 1992/93, als die Krieg führenden Clans die Neutralität der humanitären Hilfe noch anerkannten, statt sie als Instrument einer westlichen Strategie zu betrachten. Heute gewähren die Al-Shabaab-Milizen, die weite Teile Somalias kontrollieren und als erklärte Islamisten handeln, den meisten westlichen Helfern keinen Zutritt mehr.
Das Welternährungsprogramm (WFP) musste sich 2009 mit der Konsequenz zurückziehen, dass es momentan niemanden mehr gibt, der den logistischen Aufwand bewältigen könnte, um benötigte Nahrungsmittel auszuliefern. Dass die al-Shaabab fremden Beistand ablehnen, kommt in allen Medienberichten über die Hungersnot zur Sprache. Ausgelassen wird in der Regel jede Erklärung, warum die Milizen so reagieren. Eine Ausnahme ist der US-Journalist Jeremy Scahill, der enthüllte, dass die CIA in Mogadischu ein geheimes Gefängnis und Ausbildungscamp unterhält. Seine Berichte zeigen, das Misstrauen der al-Shabaab gründet in einem Jahrzehnt arglistiger Einwirkung der USA auf Somalia.
Seit Ende 2001 wurde das Land in den Anti-Terror-Kampf hineingezogen. Die Präsenz einer kleinen Zahl von Leuten mit Verbindungen zu al-Qaida genügte zu der Annahme, Somalia könnte Zufluchtsort für aus Afghanistan geflohene Mitglieder der Organisation werden. Kurz nach 9/11 froren die USA die Vermögen des größten somalischen Geldtransferanbieters al-Barakat ein, der gleichzeitig eine Säule der Ökonomie des Landes war. Viele Somalis in den ohnehin von Siechtum gezeichneten Städten verloren dabei ihr Geld. Zugleich wurden Organisationen kriminalisiert, die unter Verdacht standen, an sie ausgezahlte Hilfsgelder könnten in die Hände von Leuten geraten, die Kontakte zu al-Qaida und zum Terrorismus unterhielten.
Während alle Welt auf die 2001 in Afghanistan und 2003 in den Irak einmarschierenden US-Truppen blickte, begannen im ohnehin bereits chaotischen Somalia vom US-Stützpunkt in Dschibuti aus verdeckte Operationen. Immer wieder übertrieben lokale Warlords die von al-Qaida ausgehende Gefahr und verstanden es, die Angst der USA für ihre Zwecke auszunutzen. In Somalia haben die Amerikaner diejenigen, die sie als ihre Feinde betrachteten, verhört, ermordet und mit Drohnen bombardiert, während vermeintliche Freunde finanziert wurden, um Stellvertreterkriege zu führen – Feinde wurden zu Verbündeten und umgekehrt. Bestes Beispiel für diese Metamorphose ist der derzeitige Präsident Sheikh Ahmed, der heute den Rückhalt des Westens genießt, aber noch 2006 einer durch die USA unterstützten äthiopischen Invasion weichen musste.
Nationalistischer Zorn
Die Ursprünge der al-Shabaab liegen im fatalen – leider von der EU geteilten – US-Kalkül, die äthiopische Besatzung Somalias mit Luftangriffen zu flankieren und die relativ moderate Union Islamischer Gerichte (DMG) aus jeder Regierungsverantwortung zu kippen, obwohl es der als einziger Organisation gelungen war, in Somalia eine gewisse Ordnung herzustellen. Danach kam den al-Shabaab die tief sitzende Feindschaft gegenüber Äthiopien zugute, um auf einer Welle des nationalistischen Zorns viel Macht zu gewinnen. Der Journalist Jeremy Scahill kommentiert düster: „Eine verheerende US-Politik hat letztendlich jene Bedrohung verschärft, die eigentlich beseitigt werden sollte.“ Es sei enttäuschend, so Scahill, dass Obama den Krieg gegen den Terror auch in Somalia intensiviert und gewalttätige Operationen abgesegnet habe. Nur will keine Hilfsorganisation die Dinge verkomplizieren, indem sie die Politik zu sehr ins Spiel bringt. Oxfam zieht es vor, die schlimmste Dürre seit 60 Jahren in den Vordergrund zu stellen, statt die US-Administration oder die britische Regierung zu kritisieren. Nur die Vereinigung Ärzte ohne Grenzen wirft den USA unumwunden vor, bei den al-Shabaab die Überzeugung befördert zu haben, Hilfe sei ein Instrument westlicher Politik, dessen man sich auch in Afghanistan und im Irak bediente. Deshalb müsse sie zurückgewiesen werden.
Leider haben sich weder Politiker noch Medien angesichts der Hungersnot in Ostafrika mit der unverantwortlichen Politik der USA beschäftigt. So konnte es dazu kommen, dass es auf einem Nebenschauplatz des Anti-Terror-Krieges brutaler zugeht als auf der Hauptbühne – Konsequenz dessen ist die somalische Tragödie.
Madeleine Bunting ist Kolumnistin des Guardian. Sie schreibt über den Islam und Nahost, Wissenschaft und Ethik.
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