Gesetz des Dschungels

Leben im Krieg (II) Die Familie der Irakerin Tathamon Mohsen musste immer wieder vor religiösem Hass und Gewalt fliehen
Ausgabe 32/2014

Die 39-jährige Tathamon Abdel Mohsen sitzt zwischen dem Schwager und ihrer Tante im Wohnzimmer an der grauen Betonwand auf einem Stuhl. Sie trägt ein dünnes, gelbes Kopftuch, ihre Cousine eine weiße Dischdascha und die 75-jährige Tante einen schwarzen Tschador, ein großes dunkles Tuch, das ihrem Gesicht den Anschein steter Trauer verleiht. Tathamons Töchter – die vierzehnjährige Anis und die zehnjährige Aseel – spielen auf dem Boden und sehen mit einem Auge auf den großen Fernsehapparat. Auf der einen Hälfte des geteilten Bildschirms laufen Tom-&-Jerry-Comics, auf der anderen Tierfilme.

Während wir uns unterhalten, wird rechts gerade ein Gnu von einem Löwen erlegt, während links Tom mit einem Holzhammer Jerry nachstellt. Die Kinder wissen gar nicht, wohin sie ihren Blick richten sollen. Mir geht es genauso. Die Szenen auf dem Bildschirm sind ein guter Ausgangspunkt, um über das Leben im Irak zu sprechen, wo sich seit der US-Invasion 2003 den Gesetzen des Dschungels anpassen muss, wer überleben will.

Das Land hat in 30 Jahren drei Kriege und unzählige Aufstände erlebt. Ein Jahrezehnt lang litt die Bevölkerung unter Sanktionen. „Wir werden nie wieder wissen, was Sicherheit bedeutet“, glaubt Tathamon, deren Name so viel wie „Solidarität“ bedeutet. „Zu leben heißt für uns, permanent in Bewegung zu sein und immer wieder Dinge zurücklassen zu müssen.“

Verlorenes Paradies

Das Haus, in dem die Familie lebt, ist ein einfacher, enger Zweigeschosser in Bagdads östlicher Vorstadt Baladiyat. Seit acht Jahren wohnen sie hier zur Miete, ohne jemals wirklich heimisch geworden zu sein. Die Einrichtung ist anonym, im Wohnzimmer hängen keine Familienbilder, und im Erdgeschoss sieht man in einer rustikalen Küche die einzigen Regale, wo zwischen Tüten mit Thymian, Pfeffer und anderen Gewürzen ein Donald-Duck-Salzstreuer steht.

Im Erdgeschoss liegt ein leerer, unmöblierter Raum, in dem drei ausgefranste, rote Teppiche den Zementfußboden bedecken. Darüber schwingt das Pendel einer alten Uhr melancholisch aus. „Unser Leben hier ist sehr einfach – essen, trinken, schlafen“, sagt Tathamon, die als Beraterin im irakischen Kultusministerium arbeitet. „Wir gehen quasi nur zur Arbeit, um uns zu beweisen, dass wir noch leben.“

Gemessen am irakischen Standard geht es der Familie gut. Sie gehört zur Mittelschicht, und doch wünschen sich alle, sie könnten zu dem Leben zurückkehren, das vor dem Sturz Saddams in der westlichen Vorstadt Ghazaliyah einst möglich war. 2006 wurde es dort zu gefährlich. Plötzlich war die Gegend Epizentrum eines Machtkampfes zwischen sunnitischen und schiitischen Milizen. Bis heute hat sich daran wenig geändert. Im Gegenteil, es bleibt gefährlich. Eine Rückkehr der Familie dorthin rückt in weite Ferne.

Wie überall im Land dröhnen den ganzen Tag und die Nacht hindurch Stromgeneratoren. Vor schmiedeeisernen Toren stapelt sich Müll. Baladiyat war einst ein begehrtes, kosmopolitisches Quartier, in dem die Religion keine große Rolle spielte. Jetzt scheint es sich dem Rest der Hauptstadt anzugleichen – ein verlorenes Paradies.

Während ich zu Besuch bin, ist Amar, Tathamons Mann, bei der Arbeit. Nach dem Sturz Saddam Husseins war der 43-Jährige mehrere Jahre lang arbeitslos, jetzt hat er eine Vollzeit-Stelle im Ministerium für Wissenschaft und Technik. Doch der Traum aus Saddams Zeiten, Land zu kaufen und darauf Häuser für die Großfamilie zu errichten, hat sich erledigt. „Seit unserer Heirat sind wir schon viermal umgezogen“, sagt Tathamon. „Das hat viele soziale Kontakte zerstört.“ Arabische Gesellschaften sind oft in Clans organisiert. Gehen diese Bindungen verloren, kann es schwer sein, neue zu finden. Denkt sie daran, erneut wegzugehen? Tathamon nickt. „Ich habe Geld gespart und glaube, es ist das Beste.“ Wohin und wie, weiß sie nicht.

Chaos und Unsicherheit ziehen sich wie ein roter Faden durch unser Gespräch. Der Sturz der alten Ordnung hat das Gefüge der irakischen Gesellschaft verändert. Die Familie, die seit langem sozialistische Überzeugungen vertritt und an eine gerechte Verteilung von Reichtum glaubt, spürt den Wandel ganz deutlich. Heute würden die Iraker ihre Mitmenschen schnell verurteilen, sagt Tathamon. Früher sei es kein Tabu gewesen, Alkohol zu trinken und nicht religiös zu sein. Inzwischen habe sich das Identitätsgefühl der Menschen verengt, die Akzeptanz anderer Lebensformen sei zurückgegangen. „Ich empfinde nicht mehr die Empathie, die ich noch 2002 für die Menschen hatte“, sagt Tathamons Schwager, Abu Osama. „Jeder isoliert sich oder wird isoliert. Männer und Frauen reden nicht mehr miteinander. Wenn es ein Treffen gibt, sitzt man nach Geschlechtern getrennt. Alle sind religiöser geworden. Es ist aber nicht die Art von Religiosität, die wir einst gekannt haben. Jetzt trennt sie uns und zerrüttet die Gesellschaft.“

Die beiden Mädchen rennen nach draußen, um sich die irakischen Perlhühner anzusehen, die Salam, Tathamons Cousin, in einem Käfig hält. Auch er sitzt in der Runde, sagt aber nicht viel. Wie die Augen seiner 75-jährigen Mutter erzählt auch sein Blick von Verlusten. Im Vorjahr traf eine Mörsergranate ihr Haus im Norden Bagdads, tötete Salams Bruder und seinen Sohn Asmaa, die Schwester Amjad wurde schwer verletzt. Auch sie ist heute hier. Wo sich früher ihr linkes Auge befand, sitzt heute eines aus Glas. Ihre zertrümmerte Nase wurde von Chirurgen im Iran rekonstruiert. Ich frage vorsichtig, warum sie eine Abaya (ein traditionelles langes islamisches Kleid) trägt. „Trauer und Niedergeschlagenheit bringen einen dazu, sich Gott zuzuwenden“, antwortet sie sanftmütig.

Lange hatte niemand in der Familie Angst davor, zu zeigen, dass man ein säkulares Leben führt. Heute tragen einige der Frauen – mit Ausnahme von Tathamon – einen schwarzen Tschador. Für säkulare Sozialistinnen sehr ungewöhnlich. „In den 60ern hegten wir große Sympathien für die Kommunistische Partei“, sagt Salam, und seine müden Augen füllen sich für kurze Zeit wieder mit Leben. „Ich habe Mitglieder bei mir versteckt, wenn sie von Saddams Geheimdienst verfolgt wurden. Als einer meiner Freunde nach Indien floh, habe ich seine Familie aufgenommen. Ich habe diese Zeit genossen.“

Kugel im Briefumschlag

Tathamon versucht, weiter für ihre politischen Überzeugungen einzutreten, und kandidierte bei der Parlamentswahl im April für ein Parteienbündnis mit Verbindungen zur KP. Doch für einen Sitz im Parlament hat es nicht gereicht. „Ich bin mir nicht sicher, ob mir zu all den Veränderungen, die wir erlebt haben, wirklich etwas Positives einfällt“, sagt sie. Wie viele irakische Familien erinnern sich Tathamon und ihr Mann genau an den Moment, mit dem sich ihr Leben unwiderruflich veränderte. „Das war 2006, als wir unsere Wohnung verlassen mussten. Sie hinterließen einen Briefumschlag mit einer Kugel an unserer Tür. Kurz darauf wurde der Nachbar getötet. Was soll man tun, wenn die Polizei keinen Schutz geben will? Man war nicht mehr sicher, egal, ob man Schiit war oder Sunnit, in die Moschee ging oder nicht.“

Im Hochsommer 2014 können sich die Einwohner Bagdads in der ganzen Stadt frei bewegen, doch lauert der Tod hinter jeder Ecke. Während die Welt seit dem Abzug der Amerikaner vor knapp drei Jahren ihren Blick vom Irak abgewandt hat, setzten die sunnitischen Aufständischen ihren Kampf fort. Sie wollen den Machtwechsel zugunsten der schiitischen Mehrheit, den die Invasion von 2003 zur Folge hatte, wieder rückgängig machen.

Allein auf den Straßen von Baladiyat gab es seit Mai neun Anschläge, zumeist mit Autobomben, die gegen Polizeiposten oder schiitische Moscheen gerichtet waren. „Wir denken nicht viel über diese Dinge nach“, sagt Tathamon. „Wir sind abgestumpft und hoffen nur, dass nichts passiert, wenn die Mädchen zur Schule gehen.“

Im Juli ist es in Bagdad die meiste Zeit unerträglich heiß – bis zu 45 Grad. Die Stromversorgung für die Klimaanlagen ist unbeständig und kann nachts schon einmal für fünf Stunden ausfallen. Wenigstens kommt es bei der Wasserversorgung selten zu Ausfällen. Auf den Straßen von Baladiyat sind nur wenige Menschen unterwegs, auch in Tathamons Küche ist es ruhiger als sonst. Zur Zeit des Ramadan essen und trinken gläubige Moslems von Sonnnenaufgang bis -untergang nichts. Vor Tagen gingen Tathamon, Salam und dessen schüchterne Schwestern die kochend heiße Straße hinunter, um bei einem Händler, der am Straßenrand einen Stand hatte, Karpfen zu kaufen. Aus dem Fisch wird eine Delikatesse zubereitet, die man Masguf nennt, dazu gibt es Bohnen und Eintopf.

Als sie hören, dass jemand von meinen Begleitern Geburtstag hat, holt Tathamons Tochter Aseel ein Tablett mit Schokoladenplätzchen und einer Kerze, die nach dem Anzünden schnell wieder ausgeht. „Genau wie der Irak“, sagt Tathamon. Zum ersten Mal an diesem Tag lachen alle.

Martin Chulov berichtet für den Guardian aus dem Nahen Osten. Die nächste Folge gilt Familien in Syrien

Im ersten Teil der Serie berichtet Alec Luhn über die Lage in der Ostukraine

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Martin Chulov | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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