Gewalt stützt das System

Krawalldemo Wenn Demonstrationen ein kommunikativer Akt sein sollen, was bitte sehr ist die Botschaft der Bank-Besetzer und Randallierer in London? Und an wen ist sie gerichtet?

In einer BBC-Nachrichtensendung war eine Teilnehmerin der G20-Proteste zu sehen, die zögerte, Gewalt gegen das Eigentum anderer, sowie Land- und Hausfriedensbruch zu verurteilen, weil sie „polyphone Regenwaldgesänge“ in den Hallen der Bank of England hören wollte.

Bildergalerie:Jane Stockdale hat exklusiv für den Freitag in London fotografiert - Bilder des Protests

Hätte ich mir einen Anti-G20-Demonstranten ausgedacht, der die Absicht verkündet, „polyphone Regenwaldgesänge“ in die Hallen der Bank einziehen zu lassen und somit die bestehende Weltordnung zu stürzen, hätten die Leser dieser Zeitung einhellig Einspruch erhoben. Kindisch hätten sie gesagt. Klischee. Von einem typischen selbstgefälligen rechten, verstockten Spötter. Was kommt als nächstes? Ein unerschrockener Anschlag auf eine „einbeinige lesbische Streetworkerin? Seitenhiebe auf „moderne Eltern“?

Aber die Frau war echt. Genau wie der Egomane mit der Knollennase, der die Bank of England in ein Bordell umwandeln wollte. Und dank ihnen wird es jedem selbstgefälligen rechten, verstockten BBC-Zuschauer – den Leuten eben, die überzeugt werden müssen – ein Leichtes sein, Sorgen angesichts des Klimawandels und der Armut in den Entwicklungsländern, die Missbilligung des unregulierten Kapitalismus, Menschenrechtsdemonstrationen und die Beschäftigung mit politischen Problemen wie unter anderem der Situation in Gaza und dem Irak in eine Schublade zu stecken und diese mit der Aufschrift „spinnerte Hippies“ zu versehen.

Sie werden jetzt vielleicht einwenden, es sei einfach, zynisch zu sein. Und Sie haben nur all zu Recht. Diese Art von Protest macht es simpel. Eine Demonstration mit einer solchen Bandbreite von Themen , die alle nichts miteinander zu tun haben, bleibt letztendlich inhaltslos. Was ist mit den Leuten, die auf der Seite Israels stehen und nicht an den Klimawandel glauben? Oder denjenigen, die für Planwirtschaft eintreten, deren Meinung nach aber die westlichen Truppen im Irak bleiben sollten? Was würde passieren – außer, dass die Leute sich am Kopf kratzen – wenn Barack Obama aus den Reihen der G20-Vertreter ausscheren, sich an die Menge wenden und sagen würde: „Ich bin eurer Meinung!“?

Wenn der Demonstrationszug ein kommunikativer Akt sein soll, dann ist es nur vernünftig zu fragen, was kommuniziert werden soll und an wen. Setzt er die G20-Chefs unter Druck auf ihrem Regulierungskurs eine bestimmte Richtung einzuschlagen? Oder wird ihnen einfach nur eine Hass-Botschaft übermittelt? Oder geht es nur darum, mit einem Plakat in der Hand einen schönen Tag an der frischen Luft zu verbringen und sich vielleicht ein bisschen mit einem Banker anzulegen?

Hat man gestern die Berichterstattung verfolgt – das mittlerweile alljährliche Ritual um die zwanzigjährigen Jungs mit Testosteronüberschuss, die sich umgeben von Schwaden rosafarbenen Gases mit Polizisten balgen, die ebenfalls um die zwanzig sind und an Testosteronüberschuss leiden, dann kann man sich schwerlich des Eindrucks erwehren, das Letzteres zutrifft. Für viele der Teilnehmer scheint es sich bei diesen Demos um ein Freizeitvergnügen zu handeln: Man kann vor seinen Kumpels angeben, Mädchen imponieren und den Adrenalinspiegel mal in die Höhe treiben. Das gilt selbstverständlich nicht für alle der Aktivisten – doch die ernsthaft Aktiven geraten eher in Gefahr, abgeschrieben zu werden, wenn sie mit diesem Haufen in Verbindung gebracht werden.

Dabei gibt es ernste Probleme. Der Gangsterkapitalismus hat die Weltwirtschaft ruiniert. Durch unseren Versuch, die eigene Haut zu retten, haben wir unseren Kindern und Kindeskindern noch viel Schlimmeres eingebrockt. Und wenn wir unseren CO2-Ausstoß nicht in den Griff kriegen - darüber ist die Wissenschaft sich offenbar einig – wird die gesamte Menschheit bald vor Problemen stehen, neben denen Schulden in Trilliardenhöhe wie eine Bagatelle wirken.

Doch abgesehen davon, dass es um all dies schlecht bestellt ist, dass alle Politiker Schurken sind und man sich der Macht – dem Lieblingsfeind aller Foucault-begeisterten Universitätsdozenten aus den Siebzigern – nicht beugen darf, fällt mir schwer auszumachen, was mit den gestrigen Protesten zum Ausdruck gebracht werden sollte.

Pauschale Verachtung für Politiker und den politischen Prozess, so verführerisch sie auch sein mag, führt als Ausgangspunkt zu nichts. Sie macht blind, eingehüllt in den eigenen Narzissmus lässt sie nicht mehr erkennen, dass es bessere und schlechtere Politiker gibt und entbindet einen von der Mühe, den Unterschied ausfindig zu machen.

Gesichtsbemalung, Weltmusik und „Power to the People“-Forderungen werden in dieser Welt absolut nichts verändern. Sich selbst überlassen wird das Volk auf Feldern sitzen, dort polyphone Urwalsgesänge einüben und sich an den behaarten Stellen ihrer Körper kratzen.
Wollen Sie etwas erreichen und tatsächlich etwas verändern, dann versammeln Sie sich und wählen Anführer. In Ermangelung einer besseren Bezeichnung, schlage ich vor, diese Anführer „Politiker“ zu nennen.

Ich habe mich schon zuvor gefragt, aus welchem Grund die G20 und die Welthandelsorganisation WTO ihre Zusammenkünfte an Daten wie dem ersten Mai oder dem ersten April ansetzen. Ist da irgendwo in den Strukturen dieser Organisationen etwas, das sich nach Terminen sehnt, die traditionell mit Umzügen und Tumult einhergehen?

Tumult-Festspiele sind nicht revolutionär, so sieht es nun mal aus. Sie ereignen sich statt der Revolution. Sie stellen die etablierte Ordnung für einen Tag auf den Kopf und festigen sie in Wirklichkeit dadurch. Wie schon der alte russische Witz sagt: der Weltfrauentag untermauere die Regel, dass die übrigen 364 Tage den Männern gehören.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Sam Leith, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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