Gewaltausbruch in der Westbank: Für Palästinenser Normalität

Meinung Es ist kein Zufall, dass die israelischen Streitkräfte der eskalierenden Siedlergewalt nichts entgegensetzen. Für Palästinenser ist sie Alltag. Und jetzt sitzen die Siedler in der Regierung
In der Westbank nichts Neues: Eine Palästinenserin steht im Türrahmen ihres zerstörten Hauses
In der Westbank nichts Neues: Eine Palästinenserin steht im Türrahmen ihres zerstörten Hauses

Foto: IMAGO/Zuma Wire

Hunderte israelische Siedler fielen in der Nacht zum Sonntag über die palästinensische Stadt Huwara in der Nähe von Nablus im Westjordanland her. Palästinensische Zivilisten wurden angegriffen, Dutzende von Gebäuden und Autos in Brand gesetzt und ein Mensch erschossen.

Unter dem Eindruck des Gewaltausbruchs rufen Beobachter nach einer „Rückkehr zur Ruhe“ in Palästina. Aber solche schwachen Rufe sind nicht mehr angemessen – falls sie es jemals waren. Denn sie ignorieren die Rolle der immer wieder eskalierenden Siedlergewalt als Pfeiler des israelischen Regimes über die Palästinenser. Die faktische Straffreiheit der Täter, die Ermöglichung der Gewalt durch die Armee und die Verweigerung grundlegender Rechte sind Ausdruck der bestehenden Ordnung. Die Eskalation vom Sonntag ist insofern weder ein außergewöhnliches Ereignis noch eine vorübergehende Störung, sondern Ausdruck des Status quo in Palästina.

Schon vor der Bildung des neuen Kabinetts von Benjamin Netanjahu stellten informierte Beobachter die staatliche Unterstützung der Siedlergewalt im Westjordanland fest. Doch dieses Mal sitzen die Hauptbrandstifter in der Regierung. Die Gewalt wird nun von einer Regierung gefördert, in der rechtsextreme, ultranationalistische Siedler die Königsmacher sind. Das Kabinett ist entschlossen, Zerstörungen palästinensischer Häuser noch zu verstärken und die Siedlungstätigkeit auszuweiten. Ihre Palästinapolitik ist hart – und geprägt von Rache.

Verurteilte Rassisten in der Regierung

Ein jüngstes Beispiel dafür ist ein vom israelischen Parlament mit überwältigender Mehrheit verabschiedetes Gesetz, das den Innenminister ermächtigt, politischen Gefangenen, die wegen Terrorvergehen verurteilt wurden und von der Palästinensischen Autonomiebehörde finanzielle Unterstützung erhalten, die israelische Staatsbürgerschaft oder den Aufenthaltsstatus zu entziehen. Der israelische Minister für nationale Sicherheit, der diese Kampagne anführt, wurde 2007 von einem israelischen Gericht wegen „Aufstachelung zum Rassismus und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ verurteilt.

Das deutlichste Beispiel kam jedoch diese Woche. In einer Vereinbarung der Regierungskoalition erhielt der Finanzminister, selbst ein Siedler, weitreichende Zuständigkeiten für zivile Angelegenheiten im Zusammenhang mit den Siedlungen im Westjordanland. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil das Westjordanland eigentlich unter Militärverwaltung stehen sollte. Die neue Regelung normalisiert den Status der Siedler im Verhältnis zu den israelischen Behörden. Sie werden wie normale Bürger behandelt, obwohl allein ihre Anwesenheit in einem besetzten Gebiet ein Kriegsverbrechen darstellt.

Die israelische Zeitung Haaretz nannte diese Vereinbarung einen Schritt in Richtung „vollständige Apartheid“. Andere sahen darin einen Akt der „De-jure-Annexion“ und damit einen Verstoß gegen die – kürzlich im Fall der Ukraine bekräftigten – Regeln, die die gewaltsame Verschiebung von Grenzen verbieten.

Hinter der Besatzung verbirgt sich Expansionismus

Obwohl diese bürokratische Neuorganisation der israelischen Herrschaft über das Westjordanland nicht auf eine gesetzliche Annexion hinausläuft – was das israelische Parlament im Falle von Ost-Jerusalem und den Golanhöhen getan hat -, sind die Auswirkungen auf das Leben der Palästinenser identisch. Die Siedler im Westjordanland, die im Obersten Gerichtshof, im Parlament und in der Regierung sitzen, versuchen, die israelische Vorherrschaft über alle Palästinenser zu festigen. Und dieses Kabinettsabkommen beschleunigt lediglich den Prozess der Landnahme. Langsam aber sicher würde der rechtliche Deckmantel der vorübergehenden militärischen Besetzung, der bisher den Expansionismus der Siedler verschleiert hat, verschwinden.

Schon vor dem Abkommen war klar, dass seit 1967 währende militärische Besatzung nicht als vorübergehend angesehen werden kann. Israel herrscht über alle Palästinenser zwischen Fluss und Meer, gewährt ihnen keine gleichen Rechte und verweigert Millionen von ihnen das Wahlrecht. Jüdische Bürger werden systematisch gegenüber den Palästinensern privilegiert und von ihnen abgegrenzt. Die Doktrin der „eisernen Mauer“ zielt darauf ab, den Palästinensern das Leben schwer zu machen, damit sie das Land verlassen oder sich mit ihrem minderwertigen Status abfinden. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die mit der ethnischen Säuberung der Palästinenser drohen und eine „zweite Nakba“ in Aussicht stellen, sind Teil des Mainstream-Diskurses in Israel.

Reicht es aus, nach jahrzehntelanger Besatzung und Annexion die Rückkehr zur Ruhe zu fordern? In Osteuropa hat eine rasche und bedingungslose internationale Mobilisierung die Ukrainer in ihrem Kampf gegen die russische Besatzung und Annexion unterstützt. Auch die Palästinenser brauchen Unterstützung, um Widerstand zu leisten und ihre Rechte durchzusetzen. Anstatt eine Rückkehr zum Status quo zu fordern, müssen wir die Verhältnisse grundlegend überdenken, um Freiheit und Gleichheit für alle zu gewährleisten.

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Geschrieben von

Nimer Sultany | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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