Auch wenn Labour-Chef Ed Miliband unablässig sein rhetorisches Talent bemüht – er wirkt nicht wie der siegessichere Herausforderer von Premier David Cameron. Im Augenblick hängt dies maßgeblich damit zusammen, dass in Schottland alle Umfragen die Scottish National Party (SNP) weit vorn sehen. Je nach Institut beeindruckt die Partei mit einem Vorsprung zwischen 14 und 28 Prozent vor Labour. In Parlamentssitze umgerechnet würde die Differenz noch deutlicher ausfallen: mindestens 35 und bis zu 55 Mandate für die SNP – höchstens 20 und schlimmstenfalls nur vier für Labour. Miliband scheint in Schottland inzwischen unbeliebter als Cameron. Es werden schon Wetten abgeschlossen: Die London School of Economics beziffert die Wahrscheinlichkeit, da
dass Labour am 7. Mai in Schottland das schlechteste Wahlergebnis seiner Geschichte einfährt, auf immerhin 80 Prozent.Dabei hatte die Partei beim Unterhausvotum von 2010 noch fast jeden ihrer Sitze mit über 20 Punkten Vorsprung vor der SNP gewonnen. Insofern nehmen die meisten Experten an, dass der Abstand zwischen SNP und Labour bis zum Wahltag noch schrumpft. Schließlich gelten Umfragewerte als Schnappschüsse. Will heißen, ob die SNP ihr momentanes Hoch tatsächlich in Stimmenanteile ummünzen kann, bleibt ebenso fraglich wie das Bemühen der Labour Party, binnen zwei Monaten den Abwärtstrend umzukehren. Weil aber am 7. Mai ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Labour und den Torys zu erwarten ist, könnte gerade das Ergebnis in Schottland den Ausschlag dafür geben, wer triumphiert. Allerdings wird für beide Parteien kein überzeugendes Resultat prophezeit, sondern lediglich ein Wert um die 30 Prozent. Da die Liberaldemokraten gleichfalls schwächeln, kämen die drei bisherigen Parlamentsparteien zusammen auf so niedrige Quoten wie noch nie.Anti-Westminster-StimmungZwar spricht der namhafte konservative Meinungsforscher Rob Hayward von einer „Tory-Schüchternheit“, die Sympathisanten seiner Partei daran hindere, politisch Farbe zu bekennen. Nur war die letzte Unterhauswahl, bei der sich ein solcher Effekt behaupten ließ, 1992. Seither haben die Institute ihr Handwerkszeug kontinuierlich verfeinert, sodass die letzten Umfrageresultate vor der Wahl von 2010 bei Labour und den Torys näher als zwei Punkte am offiziellen Endergebnis lagen. Wird sich diese Präzision wiederholen? Zweifel sind angebracht, ob die Demoskopen dem Wandel Großbritanniens von einem Drei- zu einem Fünf-bis-sechs-Parteien-System und der damit einhergehenden Fragmentierung der Wählerschaft bereits gewachsen sind.Der Schwund bei Labour und Konservativen geht auf eine „Anti-Westminster“-Stimmung zurück. So können sich die Grünen – auf der Insel als Alternative zum Establishment noch unverbraucht – Hoffnung auf bis zu zehn Prozent der Stimmen machen, so viel wie seit 20 Jahren nicht (2010 lagen sie bei gerade einem Prozent). Ausgerechnet Premier Cameron verlangt nun, dass Grünen-Chefin Natalie Bennett auch zu Fernsehdebatten der Parteiführer vor der Wahl gebeten werden soll – neben ihm selbst und den Spitzenleuten von Labour, Liberaldemokraten und der rechtsgerichteten UK Independence Party (Ukip). Klarer Trend: Die Grünen sind im Aufwind.Damit spaltet sich das linke Wählerspektrum, was eine doppelte Bedrohung für Labour verheißt. Zum einen droht Ed Miliband Stimmen direkt an die Grünen zu verlieren – zum anderen könnten sich auch Wähler der Liberaldemokraten, die unlängst noch zu Labour neigten, den Grünen zuwenden. Damit sind einige der Parlamentssitze in Gefahr, auf die Labour für einen Sieg angewiesen wäre: Traditionelle Bastionen wie Brighton Kemptown, Stroud, Pudsey, Hove und Norwich haben sich zu Hochburgen der Grünen gemausert. Auch den Liberaldemokraten macht die „Grüne Welle“ natürlich zu schaffen. Die Partei des amtierenden Vizepremiers Nick Clegg sieht sich hin- und hergerissen zwischen einer eher restaurativen oder einer eher linken Ausrichtung und ist besorgt um die Wahlkreise im Südwesten Englands, die sie gegen die Torys zu behaupten strebt.Doch auch die rechte Wählerschaft zerfasert, weil sich die anti-europäische und rechtspopulistische Ukip wenig um die alte Ordnung schert. Ihre Umfragewerte liegen seit Anfang 2015 stabil bei 15 Prozent. Das würde zwar nach geltendem Mehrheitswahlrecht bestenfalls auf eine Handvoll Abgeordneter hinauslaufen, könnte aber über viele zwischen den großen Parteien umkämpfte Mandate entscheiden. Während die Ukip von Parteichef Nigel Farage etwa im Wahlkreis Great Grimsby zur direkten Bedrohung für Labour wird, müssen die Torys um über 100 Parlamentssitze bangen, die sie wegen zu Ukip überlaufender konservativer Wähler an Labour verlieren könnten.Gerade weil das Wahlverhalten weniger berechenbar ist als früher, gewinnt die Frage an Bedeutung, welche Partei bei den Themen Vertrauen erwirbt, die den Wählern am wichtigsten sind. So genießt bei der Gesundheitspolitik Labour die größte Zustimmung und kann sich die Hände reiben, weil laut der jüngsten Umfragen die Sorge um den Zustand des staatlichen Gesundheitsdienstes wächst. Fast alle Institute benennen den National Health Service (NHS) als „dringendstes Anliegen“ der Wähler. Und selbst das konservativ orientierte YouGov sieht den NHS – knapp hinter Immigrationsdebatte und Wirtschaft – als eines der drei großen Themen vor dem Urnengang Anfang Mai.Erschütterte GewissheitenZum ersten Mal in der jüngeren Geschichte rechnen die britischen Wähler schon im Vorfeld der Abstimmung mit verbindlichen Koalitionsaussagen. Wie sich dies auf Faktoren wie die taktische Stimmabgabe auswirkt, ist unmöglich vorherzusagen. Das bedeutet, Ergebnisszenarien lassen sich in der neuen Fünf-bis sechs-Parteien-Landschaft kaum erstellen. Nur so viel steht fest, die Anti-Westminster-Parteien auf der linken wie der rechten Seite erschüttern schon vor dem 7. Mai ein lange monolithisch wirkendes, teils saturiertes System, was in unterschiedlichem Maße die Aussichten für die drei großen Parteien trübt. Ob der Höhenflug der neuen Akteure bis zum Mai anhält oder sich eine Bewegung der Etablierten ergibt, wird über Dutzende von Parlamentssitzen entscheiden. Wie Labour in Schottland abschneidet, das kann für die künftigen Machtverhältnisse im Unterhaus und damit die Regierungsbildung den Ausschlag geben. Aus diversen losen Enden wird sich das Gewebe der Koalitionsmöglichkeiten bei diesen Wahlen zusammenfügen.Placeholder authorbio-1