In einem vollständig kontrollierten System hätte die Putin-Partei Einiges Russland ohne Weiteres einen Sieg eingefahren. Doch hat der Premierminister eine Fassade nominell demokratischer Institutionen errichtet, die nun außer Kontrolle geraten sind. Die Wählerschaft gibt zu verstehen, wie sehr sie sich von der herrschenden Elite entfremdet hat.
Wie sich das bei den im März anstehenden Präsidentschaftswahlen auswirken wird, ist die nächste große Frage. Den Protesten, die am vergangenen Wochenende in zahlreichen Städten stattgefunden haben, begegnete die Polizei mit weniger Gewalt, und die Medien berichteten mit mehr Respekt als in der Vergangenheit. Wird Putin diesen milderen Ansatz im Vorlauf zu den Wahlen im März auch weiterhin verfolgen? Sollte er bei diesem Votum weniger als die Hälfte der Stimmen bekommen, wird es eine zweite Runde geben, bei der sein Sieg keinesfalls garantiert ist, auch wenn noch mehr Stimmen gefälscht werden sollten als bei der jüngsten Duma-Wahl.
Aus den zurückliegenden Tagen lässt sich vor allem die Erkenntnis ziehen, dass die Post-Jelzin-Ära in Russland vorbei ist. Nach dem Einbrechen des Lebensstandards und der Massenprivatisierung in den neunziger Jahren sowie den ständigen Kämpfen zwischen dem damaligen Präsidenten und der Duma hat Putin das Parlament geschwächt und das Land zur Stabilität zurückgeführt. Dank in die Höhe schießender Öl- und Gaspreise konnte genug Geld nach unten durchsickern, um die Illusion eines sich schleichend verbreitenden Wohlstands zu fördern.
Doch jetzt hat es Russland – wie beinahe jede andere große Volkswirtschaft in Europa – mit jährlichen Haushaltsdefiziten zu tun. Ergebnisse des anerkannten Meinungsforschungsinstituts VtsIOM zeigen, dass für 53 Prozent der Russen ihr niedriger Lebensstandard ganz oben auf der persönlichen Prioritätenliste steht. Es folgen Inflation, Arbeitslosigkeit und die mangelhafte Gesundheitsversorgung. Annähernd 40 Prozent der Befragten klagen über Bürokratie und Korruption.
Vollkommen schutzlos
Nach den Wahlen der vergangenen Woche müssen Putin und Kollegen nicht nur für Wachstum und soziale Wohlfahrt sorgen, sondern auch für Rechtsstaatlichkeit, die Bürgern wie Unternehmen zugute kommt. Dies ist nicht gleichzusetzen mit Demokratie und Menschenrechten, welche laut der VtsIOM-Umfrage nur neun Prozent der Befragten für wichtig erachteten. Es wird oft leichthin gesagt, in Russland müsse erst eine Mittelschicht entstehen, damit die Demokratie sich festigen könne. Dabei besteht keine automatische Verbindung zwischen beidem. China und Singapur sind markante Beispiele für Länder mit autoritären Systemen und mit einer großen Mittelschicht. Russlands Problem besteht darin, dass keine Gesetze mit eindeutigen und durchsetzbaren Regeln existieren.
Das kommunistische System ist unter anderem deshalb zusammengebrochen, weil viele seiner einstigen Verteidiger ins Ausland reisten und sich dann die Konsumgüter, Modernität und intellektuelle Freiheit wünschten, die sie dort sahen. Russlands Postsowjet-Generation hat in weit größerer Zahl im Ausland studiert und schämt sich für die Kriminalität ihrer Regierenden. Kein Wunder, dass so viele junge Russen die Emigration wählen, wenn sie sehen, dass von der Gerechtigkeit nur Ausgewählte profitieren, die Reichen keine Steuern zahlen und Beamte Gebühren auf Dienstleistungen erheben, auf die Bürger einen Anspruch haben. Der bekannte TV-Moderator Vladimir Pozner sagte kürzlich zurecht, viele Russen fühlten sich „vollkommen schutzlos“. Igor Yurgens, Vorsitzender des Institutes für zeitgenössische Entwicklung (und ehemaliger Unterstützer von Präsident Medwedjew ), klagt, der Kreml unterschätze „die Kluft, zwischen einer hoch entwickelten, fortgeschrittenen Gesellschaft und den feudalen Beziehungen, die auf den oberen Ebenen der Staatsmacht wirken“. Um dies zu ändern, werden die Eliten ihre Haltung nachhaltig ändern müssen.
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