Covid-19 hat die Rivalität zwischen den USA und China heftig angefacht, obwohl doch der Drang nach mehr internationaler Kooperation vorherrschen sollte. Wenn die Annahme stimmt – dass es keine Rückkehr zur Zeit vor Covid-19 geben kann –, wirft allein das beunruhigende Fragen über den Wandel auf, der bevorsteht oder schon im Gange ist. Wie wird die Pandemie das künftige Verhalten von Nationalstaaten, Präsidenten und Regierungen beeinflussen – und deren häufig dysfunktionale Beziehungen zueinander? Wird sie das erlittene Trauma weiter entzweien?
Einige Analysten sind optimistisch und sehen positive Folgen der Pandemie auf die Umwelt, etwa in Norditalien oder in China, oder für die Beziehungen vormals verfeindeter Staaten, etwa des Iran und der Vereinigten Arabischen Emirate, die sich plötzlich arrangieren. Auf den Philippinen habe die Corona-Krise zu einer Waffenruhe mit aufständischen Kommunisten geführt. Dass kollektive, multilaterale Ansätze gerade jetzt von Wert sind, zeige sich sehr klar.
Freilich gibt es auch Pessimisten wie Stephen Walt, der an der Harvard University den Lehrstuhl für internationale Beziehungen innehat. Die Pandemie werde Staat und Nationalismus stärken, urteilt er im Magazin Foreign Policy. Die unterschiedlichsten Regierungen würden Notfallmaßnahmen ergreifen, um die Krise zu bewältigen, „und viele dürften nur ungern wieder auf diese neuen Befugnisse verzichten“.
Möglicher Tropfen
Unweigerlich wird Covid-19 den Machttransfer von West nach Ost beschleunigen. Im Vergleich mit China, Südkorea, den Philippinen und Singapur haben Europa und Nordamerika langsam und zu wenig entschlossen reagiert, wodurch der Westen weiter an Strahlkraft verliert. Auch dadurch werde die Hyperglobalisierung zum Rückzug gezwungen sein, so Stephen Walt, da sich die Menschen ihren nationalen Regierungen zuwenden, von denen sie Hilfe erwarten, die ihnen Unternehmen nicht geben können oder wollen. „Kurz gesagt: Covid-19 wird eine Welt erschaffen, die weniger offen, weniger prosperierend und weniger frei sein wird.“ Nach Covid-19 könne alles zur Disposition stehen. Ob Walt recht hat, kann nur die Zeit zeigen.
Nach anfänglichen Fehlern arbeitet die chinesische Regierung hart daran, die erstmals im November 2019 in Wuhan entdeckte Lungenkrankheit Covid-19 in eine nationale wie internationale Erfolgsgeschichte zu verwandeln (der Freitag 13/2020). Peking startet Hilfsaktionen etwa für Italien, spielt seine Soft Power aus – in den USA grassieren unter Trump grobe Inkompetenz und fatales, tödliches Missmanagement. „Von wegen ‚Make Amerika great again‘“, sagt Walt. Trumps „episches Versagen“ werde den Ruf des Landes als eines, das weiß, wie man die Dinge angeht, irreversibel ruinieren.
Unter ihm sind die USA außerstande, einem globalen Führungsvermögen gerecht zu werden. Allein der demütigende Umgang mit der Weltgesundheitsorganisation WHO, der die US-Beiträge entzogen werden, ist Beweis genug. Warum sollte China die Gunst der Stunde nicht nutzen, um seinem Verständnis von Global Governance Nachdruck zu verleihen? Und was wird sich an fernöstlicher Investitionsmacht zeigen, wenn nach der Krise die bereits vorhandene Infrastruktur des Projekts der „Neuen Seidenstraße“ genutzt wird, um in Zahlungsnot befindliche Staaten, nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa, zu unterstützen? Ohnehin wurde die Hegemonie der USA bereits vor Ausbruch der Covid-19-Krise durch Pekings kühle Rationalität infrage gestellt. Die Pandemie wird diese Tendenz beschleunigen. Geht sie in Richtung einer zentralisierten, autoritären Herrschaft, die sich neben China auch in Ländern wie Indien, Brasilien und der Türkei zeigt? „Skrupellose Regierungschefs könnten die Pandemie ausnutzen, um nationale oder internationale Krisen zu verschärfen, um gegen die innere Opposition vorzugehen oder Konflikte mit rivalisierenden Staaten eskalieren zu lassen, da sie annehmen, damit durchzukommen, während die Welt anderweitig beschäftigt ist“, warnt die NGO International Crisis Group in Brüssel.
Fünf Ereignisse, die eine andere Welt hinterließen
Konferenz von Versailles
Die Versailler Konferenz von 1919 markiert den Untergang vieler Monarchien in Westeuropa. Sie steht für den Vormarsch der bürgerlich-repräsentativen Demokratie und den Beginn des „amerikanischen Jahrhunderts“.
Weltwirtschaftskrise
Die größte Wirtschaftskatastrophe des 20. Jahrhunderts beginnt 1929 an der Wall Street und führt zum Absturz des globalen Bruttoinlandsprodukts um 15 Prozent, wovon sich viele Länder bis zum Zweiten Weltkrieg nicht erholen.
Schlacht von Stalingrad
Sieben Monate dauern 1942/43 die Kämpfe an der Wolga. Nicht nur die größte Schlacht der Geschichte, auch der entscheidende Moment des Zweiten Weltkriegs. Der Mythos deutscher Unbesiegbarkeit wird zerstört.
Fall der Mauer
Ende 1989 wird mit den Wegfall der Systemgrenze zwischen Sowjetblock und Westen der 45 Jahre währende Kalte Krieg beendet. Als 1991 die UdSSR implodiert, bleiben die USA als alleinige Supermacht zurück.
11. September 2001
Die Angriffe auf New York und Washington zerstören die amerikanische Illusion eigener Unverwundbarkeit. Der daraufhin von den USA erklärte „globale Krieg gegen den Terror“ stärkt den antiwestlichen Islamismus.
Auch EU-Regierungschefs haben sich Notstandsbefugnisse zuerkannt, etwa Viktor Orbán in Ungarn: fünf Jahre Gefängnis, wenn jemand Falschinformationen verbreitet oder die staatliche Krisenabwehr behindert. Von Bolivien über Sri Lanka und den Irak bis in die USA werden Wahlen verschoben, Parlamente suspendiert und Ausgangssperren verhängt. Vielfach dürften solche Maßnahmen derzeit auf Beifall stoßen, doch was, wenn der Ausnahmezustand weiter verlängert wird und eine „zweite Welle“ der Infektionen in vermeintlich post-pandemische Zeiten hineinreicht? Mit den Staaten erstarken die Regierungen, sofern Hilfspakete noch nie da gewesenen Ausmaßes für Unternehmen und abhängig Beschäftigte geschnürt werden. Einige Analysten lässt das mutmaßen, der Staat sei zurück, um einer neoliberalen Marktwirtschaft – gewollt oder nicht – deren Grenzen vor Augen zu führen. „Die Pandemie könnte der Tropfen sein, der das Fass der Globalisierung zum Überlaufen bringt“, schreibt Robin Niblett, Direktor der Denkfabrik Chatham House. Die globale Wirtschaftsarchitektur, die im 20. Jahrhundert errichtet wurde, stehe auf dem Spiel. Man werde es daran sehen, dass künftig politische Führer „in einen offenen geopolitischen Konkurrenzkampf ziehen“.
Für Robert Kaplan von der Eurasia Group stellt das „Coronavirus den historischen Marker zwischen der ersten und zweiten Phase der Globalisierung dar: Bei der Globalisierung 2.0 geht es um die Aufteilung des Globus in Großmachtblöcke mit eigenen expandierenden Militärapparaten und getrennten Versorgungsketten, den Aufstieg von Autokratien und klassenbezogenen Spaltungen, die Nativismus und Populismus hervorgebracht haben. Es geht um neue, wiedererstehende globale Blöcke“. Tritt das ein, ist mit einem verstärkten post-pandemischen Protektionismus zu rechnen. Durch die Corona-Folgen ökonomisch angeschlagen, werden Nationalstaaten versuchen, ihre Anfälligkeit für globale Bedrohungen erst recht zu minimieren. Die UN warnen bereits vor strengeren Einfuhrkontrollen und Sanktionen.
Albtraum oder Neuanfang
Die Pandemie und ihre Nachwirkungen können für ärmere Länder mit begrenzten Ressourcen, sich ökonomisch zu regenerieren, sowie für Geflüchtete und Menschen in Konfliktzonen verheerend sein. Der Report der International Crisis Group klingt unmissverständlich: „Was jetzt geschieht, birgt das Potenzial, in fragilen Staaten Verwüstungen und Unruhen auszulösen. Breitet sich die Krankheit in dicht besiedelten urbanen Zentren aus, ist sie möglicherweise kaum zu kontrollieren.“ Darin spiegelt sich die Angst, wie sie augenblicklich in den Townships von Johannesburg oder Nairobi (siehe Seite 7) herrscht. Da sich weltweit die Handelsflüsse verlangsamten oder unterbrochen seien, so der Bericht, dürfte das für rohstoffexportierende ärmere Länder mehr Arbeitslosigkeit bedeuten. „Besonders hart sind die Konsequenzen für diejenigen, die ein Konflikt wie in Nordsyrien gefangenhält, wenn – wie es sich abzeichnet – die Pandemie humanitäre Hilfsströme unterbricht, Friedensoperationen einschränkt und diplomatische Initiativen vertagt.“ Syrer, Afghanen, Somalier, Südsudanesen, Libyer oder Jemeniten könnten also am schlimmsten darunter leiden. Wohl darum haben die UN jüngst den Aufruf lanciert, dass humanitäre Hilfe in Höhe von zwei Milliarden Dollar unerlässlich sei. UN-Generalsekretär António Guterres verlangt „Billionen mehr an Finanzmitteln, um Millionen Tote zu verhindern“.
Die Pandemie rufe in Erinnerung, so der Brite David Miliband für das International Rescue Committee, dass wir als „globales Dorf“ gemeinsam vor den gleichen Herausforderungen stehen. Und dass es für deren Bewältigung der Auseinandersetzung mit extremen Ungleichheiten bedürfe. „Das Coronavirus ist nicht nur ein Problem für reiche Länder. Wir sind nur so stark wie das schwächste nationale Gesundheitssystem.“ Ob das Gehör findet, wird ein wichtiger Test sein. Elisabeth Braw vom Royal United Services Institute warnt denn auch vor einem Moment extremer geopolitischer Verwundbarkeit. „Das Virus ist eine perfekte Gelegenheit für die Gegner des Westens, um zu beobachten, wie und ob der eine große Krise bewältigt – oder auch nicht“, schreibt sie. Offenbar als Ermutigung wird derzeit vielfach der Verweis auf die 1930er bemüht, als es den USA schließlich gelungen sei, nach der Großen Depression eine kräftige Erholung einzuleiten.
Die Erwartung, dass die Zukunft aus einem global lähmenden Kampf zwischen den USA und China um Dominanz besteht, kann das allerdings nicht erschüttern. Ob in Zeiten der Großmachtrivalität die westlichen Demokratien auf längere Sicht in ihren Schneckenhäusern verharren oder zu einer neuen Art von pragmatischem Internationalismus finden, das kann niemand wissen. Albtraum oder Neuanfang, irgendwann wird das entschieden sein.
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