Graue Zellen für die Prosa

Neurologie Was große Literatur ausmacht? Alles eine Frage von Transmittern und Nervennetzen - glaubt sogar eine wachsende Zahl von Philologen

Es ist der letzte Schrei in den Literaturwissenschaften, Verfahren aus der Biologie auf das Studium von Literatur und von anderen fiktionalen Formen anzuwenden. Diese „Wissenschaft vom Lesen“, wie manche sie nennen, mischt einen der bislang abseitigsten und manchmal geradezu undurchdringlichen Forschungsbereiche ordentlich auf. Vergessen Sie den Strukturalismus und die poststrukturalistische Dekonstruktion! Neuro-Literaturkritik ist das neue Ding!

Im Laufe dieses Jahres wird eine Gruppe aus zwölf Studenten in Neuengland eine Reihe speziell entworfener Texte zu lesen bekommen. Während der Lektüre werden ihre Gehirne dann mit Hilfe eines Magnetresonanztomographen gescannt, um eine Art Landkarte ihrer neurologischen Reaktionen zu aufzuzeichnen. Diese Scans messen den Blutfluss zu den feuernden Synapsen ihrer Gehirnzellen. Das Verfahren soll einem Team aus Naturwissenschaftlern und Literaturprofessoren dabei helfen zu klären, wie und warum Menschen auf komplexe literarische Texte ansprechen – zum Beispiel auf die Werke von Marcel Proust, Henry James oder Virginia Woolf.

Hirn reagiert auf Weltliteratur

Die Studenten gehören zu einer Gruppe namens Yale-Haskins Teagle Collegium, die von Michael Holquist geleitet wird, einem Professor für vergleichende Literatur an der Yale University. „Wir sind eine Gruppe grundanständiger Wissenschaftler, die den ganzen Tag im Labor verbringen, und Humanisten, die sich zutiefst der Sache der Literatur verschrieben haben“, erklärt Holquist. Seine Teams haben Monate darauf verwendet, ihre Texte – oder so genannte Vignetten – zu verfassen. Sie sollen verschiedene Grade an Komplexität aufweisen, denn die Experten gehen davon aus, dass das Gehirn anders auf Weltliteratur reagiert als auf einen Zeitungstext oder einen Harry-Potter-Band. Das Ziel besteht Holquist zufolge darin, eine wissenschaftliche Grundlage dafür zu schaffen, um die Lesekompetenz von Universitätsstudenten zu verbessern.

Holquists Gruppe bearbeitet dabei allerdings nur einen Teilbereich der Neuro-Literaturkritik. Geistes- und Naturwissenschaft­ler aus verschiedenen Disziplinen arbeiten in verschiedenen Projekten zusammen, um die biologischen Vorgänge zu ergründen, die während des Lesens, Schreibens und Verarbeiten von Literatur ablaufen. „Lesen ist in unserem Gehirn fest verdrahtet. Es gibt bestimmte Gehirnzellen, die darauf reagieren – und die können wir untersuchen“, sagt Professor Richard Wise, Neurowissenschaftler am Londoner Imperial College.

Diese Art, mit Kunst umzugehen, mag einem zunächst widerstreben – wurde große und auch weniger große Literatur bislang doch ausschließlich mit Bezug auf andere geisteswissenschaftliche Felder untersucht: In Shakespeares Werken hat man philosophische Theorien erkannt und die verschiedenen moralische Blickweisen auf die Welt analysiert. Große literarische Werke wurden hinsichtlich der marxistischen Theorien interpretiert oder in Bezug auf die Geschlechterrollen. Oder aber man sah in ihnen das Produkt eines ganz bestimmten historischen, sozialen oder ökonomischen Kontexts.

Nun gehen die besagten Wissenschaftler aber her und behaupten, die Biologie und Chemie des Gehirns sei ein ebenso respektables Forschungsgebiet, das genau so erhellend sei wie diese jahrhundertealten Diskurse. Die Literatur habe ihre Wurzeln in dem, was sie mit unserem Gehirn anstellt oder vielleicht sogar in den beteiligten Genen. Die richtigen Neuronen anzuregen soll demnach ebenso von Bedeutung sein wie moralische Einsichten oder der gesellschaftliche Hintergrund. Manche empfinden dies als revolutionär. „Es handelt sich um eine der aufregendsten Entwicklungen des intellektuellen Lebens“, sagt Blakey Vermeule, Englisch-Professor an der Stanford University.

Nachhilfe in sexueller Auslese

Vermeule untersucht die Rolle der Evolution in der Literatur – einige nennen das „darwinistische Literaturwissenschaften“. Sie werfen einen Blick darauf, wie Humangenetik und Evolutionstheorie die Literatur formen und beeinflussen oder inwiefern Literatur selbst als Produkt der Evolution begriffen werden kann. Allein schon die Tatsache, dass ein Großteil der menschlichen Fiktion sich um die Suche nach einem passenden Gefährten dreht, lege nahe, dass Evolution im Spiel sein muss. Andere sind der Ansicht, man könne Literatur auch als ein Werben für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft oder sogar als eine Art Nachhilfe in sexueller Auslese betrachten. „Es ist nicht leicht möglich, Literatur ohne Berücksichtigung der evolutionären Perspektive zu beurteilen“, meint Professor Jonathan Gottschall vom Washington and Jefferson College in Pennsylvania.

Es gibt aber auch Kritiker dieser Art der naturwissenschaftlichen Literaturkritik. Einige sagen, die Leseerfahrung sei etwas zu Individuelles, um wissenschaftlich analysiert werden zu können. Andere fürchten, die Neurowissenschaft könne die künstlerischen und poetischen Vorstellungen der Geisteswissenschaften in den Hintergrund drängen. Wieder andere wenden ein, das Verfahren sei noch nicht ausgereift genug. „Mir kommt es schlicht dämlich vor. Der Verstand und das Gehirn sind zwei recht unterschiedliche Dinge, und niemand weiß, in welcher Beziehung die beiden zueinander stehen“, meint Dr. Ian Patterson, Fellow am Queen’s College, Cambridge. Dr. Nikolaj Zeuthen von der Universität Aarhus in Dänemark stimmt ihm zu: „Die Leseerfahrung ist etwas Subjektives, zu dem wir nur privaten Zugang haben. Es gibt mit ­Sicherheit nichts Elektrisches oder Chemisches an meiner Leseerfahrung mit Virginia Woolf. Wie wollen Sie also durch Aufnahmen vom Gehirn etwas darüber aus­sagen?“

Solche Argumente verfehlen nach Ansicht der Befürworter den Kern der Sache: Die Entdeckung der wissenschaftlichen Regeln, nach denen sich das Lesen vollzieht, mindere sicherlich nicht die ästhetische Erfahrung, glaubt Gottschall. „Zu wissen, wie die Bewegung eines Kometen zustande kommt, schmälert doch in keine Weise die Schönheit des nächtlichen Sternenhimmels“.

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Paul Harris/Alison Flood | The Guardian

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