Gräuelszenen für das globale Publikum

USA Goya zeichnete eine Leichenschändung in den Napoleonischen Kriegen. Er hielt eine Szene des Grauens fest - die US-Marines hingegen erzeugten eine solche erst fürs Bild

Es ist ebenso sehr ein Dokument des Informationszeitalters wie das eines Kriegsgräuels. Ein in dieser Woche anonym auf YouTube eingestelltes Video zeigt offenbar vier US-Marines beim Urinieren auf die Leichen von Afghanen. Sie posieren für die Videokamera in den Händen eines fünften Marines und vollziehen ihre „große Tat“ gegen die Toten, so scheint es, im vollsten Bewusstsein dessen, was sie da tun.. Sie tun es, um gesehen zu werden, wohl wissend, dass sie gefilmt werden. Gut möglich, dass der eigentliche Sinn dieser Handlung darin besteht, sie zu filmen und die Welt im Netz daran teilhaben zu lassen.

Vergleiche mit früheren Vorfällen unter Beteiligung amerikanischer Soldaten, wie die Folter im irakischen Abu Ghraib-Gefängnis, drängen sich auf. Gleichwohl besteht ein Unterschied zwischen der Folter und dem Missbrauch an lebenden Gefangenen wie in Abu Ghraib und der Schändung der Körper von Toten. In seiner Grafik „Große Heldentat! Mit Toten“ fing Goya die Sinnlosigkeit und Feigheit der Gewalt gegen gefallene Feinde ein (vorausgesetzt, dass auf dem Video Taliban-Kämpfer und keine Zivilisten zu sehen sind). Er enthüllte während der Napoleonischen Kriegen das schmutzige Geheimnis, dass inmitten des Hasses und der Wut der bewaffneten Auseinandersetzungen die Schändung von Toten gedeihen kann.

Die wirklich bemerkenswerte Parallele zu Abu Ghraib liegt sicher nicht in der Natur der Verbrechen, sondern in dem Drang, sie zu fotografieren – und zu teilen. Vielleicht werden Gewehre zukünftig mit eingebauter Kamera und einem Button geliefert, welcher es ermöglicht, Szenen von der Front sofort zu mit anderen zu teilen. Diese Bilder einer rituellen Beleidigung der Gefallenen tauchen in einer Welt auf, in der die Kommunikation noch omnipräsenter ist als 2004. Zu dieser Zeit kursierten die Fotos der Gefängniswärter von Abu Ghraib, die mit schikanierten Gefangenen posierten. Ich erinnere mich, dass ich seinerzeit diese Bilder mit Horrorfilmen verglich, um mir einen Kontext vorstellen zu können, in dem Menschen so beiläufig ihre Macht missbrauchen und ihre Verbrechen so unbekümmert fotografieren.

Doch nun erscheint eine solche Art und Weise der Selbstdokumentation von Gewalt und Grausamkeit nicht länger überraschend.Was wird heute eigentlich nicht öffentlich geteilt? Was wäre zu privat oder beschämend für YouTube? Das Video der urinierenden Soldaten erscheint vor diesem Hintergrund noch nicht einmal so extrem oder schockierend – es nimmt einfach seinen Platz unter all den anderen Videos ein, die jeder schaut und über die jeder twittert.

Der Makel des Voyeurismus

Soldaten haben ihre Verbrechen allerdings bereits lange vor der Erfindung digitaler Videos mit der Kamera dokumentiert. Der SS-Mann Jürgen Stroop, Befehlshaber bei der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto 1943, bewahrte sich ein Fotoalbum, das seine Errungenschaften visuell feierte. Es ist die Quelle eines der berühmtesten Bilder des Holocausts: ein jüdischer Jungen hebt bei seiner Verhaftung die Hände. Ein weiteres Fotoalbum über das Warschauer Ghetto von einem deutschen Soldaten nennt sich selbst ein „kulturelles Dokument für Adolf Hitler“. Was dachten die ersten „professionellen“ Kriegsfotografen im 19. Jahrhundert eigentlich über das, was sie da taten? Als Matthew Brady und andere Fotografen ihr Equipment auf Planwagen luden und den Armeen in die Schlachten des Amerikanischen Bürgerkrieges folgten, handelten sie nicht im Auftrag von Zeitungen oder des Kriegsministeriums. Sie sahen einfach eine Gelegenheit und ergriffen sie.

Von Beginn an, so könnte man argumentieren, war die Kriegsfotografie anrüchig, ein schmutziges Geschäft, dem der Makel des Voyeurismus anhaftete. Das Verlangen, die Toten einer Schlacht zu sehen, wurde von Brady in krasser Form bedient. Seitdem ist aus der Kriegsfotografie ein Beruf und sogar eine Kunst geworden. Sie wird inoffiziell durch die Entscheidungen der Redakteure reguliert, was gezeigt werden darf und was nicht – aber der voyeuristischen Impuls ist unserem Verlangen nach Kriegsfotos weiterhin inhärent.

In diesem Sinne ist das, was wir hier sehen, auch ein Beispiel für die Demokratisierung von Fotos und Film im digitalen Zeitalter. So wie jeder inmitten des Geschehens einer Revolution oder eines Krawalls mit seinem Handy ein Foto schießen und es verbreiten kann, bevor die Profis am Ort des Geschehens eintreffen, so haben diese Soldaten ihre hässlichen Taten anscheinend selbst gefilmt. Für Matthew Brady war der Krieg eine grauenvolle Gegebenheit, die gezeigt werden sollte. Dieses Video legt nahe, dass der Krieg nun ein Gräuelszene ist, die inszeniert werden muss, damit man sie teilen und darüber reden kann.

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Übersetzung: Steffen Vogel
Geschrieben von

Jonathan Jones | The Guardian

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