Erleben wir gerade einen Moment des echten Wandels? Die Schriftsteller Pankaj Mishra und Viet Thanh Nguyen im Gespräch über „Black Lives Matter“, dem im Harper’s Magazine erschienenen offenen Brief zur Verteidigung der Meinungsfreiheit und darüber, wie es jetzt weiter geht.
Pankaj Mishra: Black Lives Matter hat die lange überfällige Neubewertung der Dinge aus der Perspektive der langjährigen Verlierer der Geschichte erzwungen. Dabei geht es nicht nur um fest verwurzelte Ungleichheit im politischen und ökonomischen, sondern auch im intellektuellen und künstlerischen Bereich. Allerdings ist der Weg noch weit. Ihr kürzlich veröffentlichter Artikel zu Spike Lees neuem Film über afro-amerikanische Soldaten im Vietnamkrieg „Da 5 Bloods“ weist darauf hin: Da ist ein gefeierter afroamerikanischer Filmemacher, immerhin der Film-Biograf von Malcom X , der amerikanischen Klischees von Vietnamesen und nicht-weißen Ausländern im Allgemeinen erliegt.
Ein anderes Beispiel ist der preisgekrönte Schriftsteller, der kürzlich twitternd betonte, dass viele Afroamerikaner „im Ausland für Demokratie kämpfen“. Man vergleiche diese sorglose Euphemisierung amerikanischer Gewalt in zahlreichen Ländern mit Muhammad Alis prinzipientreuer Weigerung, sich am Angriff auf Vietnam zu beteiligen. Solch naiver Amerikanismus ist erstaunlich. In der Vergangenheit gingen führende afro-amerikanische Köpfe und Künstler*innen – vom Bürgerrechtsaktivisten W.E.B. Du Bois bis zu Sängerin Nina Simone – einfach von einer Solidarität mit anderen Völkern auf der Welt aus. Ihnen war klar, dass die Misere der langjährigen Opfer der Sklavengesellschaft und Gesellschaften, die von rassistischem ethnischen Überlegenheitsdenken geprägt werden, eng miteinander verknüpft sind. Was ist passiert, dass diese Verbindung getrennt wurde?
Viet Thanh Nguyen: Ich denke ebenfalls an schwarze Radikale wie Du Bois und Martin Luther King, die in den USA am bekanntesten für ihre Rassismus-Kritik innerhalb der amerikanischen Gesellschaft sind. Dabei war Du Bois nach der Veröffentlichung seines, zum Manifest der Bürgerrechtsbewegung gewordenen Buches „The Souls of Black Folk“ („Die Seelen der Schwarzen“) in seinem Leben und Denken viel internationaler ausgerichtet. Und King hielt 1967 ein Jahr vor seinem Tod die Anti-Kriegs-Rede „Beyond Vietnam“ („Jenseits von Vietnam“). Die Rede verknüpft Rassismus gegen Schwarze mit dem rassistischen amerikanischen Krieg in Vietnam und andernorts. Für King war klar, dass Beides nicht voneinander trennbar ist. Seine Bürgerrechtsmitstreiter dagegen wollten nicht, dass er in diese Richtung ging. Auch heute noch ist dieses, aufs Inland zentrierte Denken stark vorhanden.
Einerseits gibt es die positive Zugkraft, amerikanisch zu sein, verwirklicht in der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten, die für viele Amerikaner ein so wichtiges Symbol war, insbesondere für schwarze Amerikaner. Dem gegenüber steht das Schreckgespenst der Bestrafung. Muhammad Ali wurde bestraft, King wurde ermordet, die Black Panther – die Mao lasen und sich als Teil einer Revolution der sich entwickelnden Welt verstanden – mit Gewalt unterdrückt. Obama, Beyoncé, Kanye West, Michael Jordan und all die anderen Vertreter der schwarzen ökonomischen, kulturellen und politischen Elite sind zwar international, aber nicht im radikalen Sinne. Es ist ein rassistisch motivierter Widerspruch in einer globalen kapitalistischen Wirtschaft, wenn die Moderatorin Oprah Winfrey einerseits Milliardärin sein und trotzdem in einem Luxusgeschäft wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit beurteilt werden kann. Die liberale bis gemäßigte linke Position wäre zu garantieren, dass Oprah ohne Rassismus Milliardärin sein kann, selbst wenn viele schwarze Amerikaner*innen (aus Gründen von Rassismus und Kapitalismus) arm bleiben.

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In dieser radikalisierten Ökonomie ist „Black Lives Matter“ eine Idee, ein Meme, ein Satz, der vermarktet und vereinnahmt werden kann. Derzeit ist es relativ sicher, sich hinzuknien oder ein „Black Lives Matter“-T-Shirt zu tragen. Trotzdem fühlt sich dieser historische Moment anders an als alles, was ich je erlebt habe. Auch quantitativ anders, wenn man sich das Ausmaß der Proteste in den USA und anderen Ländern anschaut. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass sich das Denken über Rasse (im Sinne ethnischer Zugehörigkeit, Anm. d. Red.) in den USA wirklich verändert hat. Und da ethnische Zugehörigkeit nicht von Ungleichheit und Ausbeutung getrennt werden kann, könnte diese Veränderung des Denkens auch einen Wandel im Denken über die anderen damit verknüpften Themen sein. Oder siehst du das pessimistischer?
Pankaj Mishra: Ich würde sagen vorsichtig, nicht pessimistisch. Vielleicht weil ich den Widerstand gegen die „Black Lives Matters“-Forderung nach grundlegenden Veränderungen für tief verwurzelt halte, bei den Liberalen ebenso wie bei den White Supremacists mit ihrem Glauben an die Überlegenheit der Weißen. Nehmen wir beispielsweise den heimtückischen „Harper’s Letter“, einen offenen Brief im Harper’s Magazine, der etwas beklagt, was üblicherweise als „Cancel Culture“ – Boykott wegen beleidigender oder diskriminierender Aussagen – bezeichnet wird. Er tut das inmitten der katastrophalsten globalen Krise seit dem zweiten Weltkrieg und massiver Proteste gegen Rassismus, die Sie ganz richtig als transformativ bezeichnen.
Martin Luther King betrachtete den „Mäßigung“ propagierenden Hausierer als größere Hürde für das Erreichen sozialer Gerechtigkeit als die White Supremacists. Der Brief im Harper-Magazin ist ein Beispiel dafür, wie Eliten versuchen, die Rolle der moralischen Überlegenheit zu besetzen, wenn ihre Autorität als Schiedsrichter des intellektuellen und politischen Leben sowohl von der Linken als auch der Rechten in Frage gestellt wird. Der Brief wurde von Kulturkritiker und Autor Thomas Chatterton Williams initiiert. Selbsternannte Vertreter der Mitte, Gemäßigte ebenso wie Rechte mögen ihn für seine Überzeugung, das „Grundproblem für das Leben als Schwarzer“ in den USA sei eine „unfassbare Kleingeistigkeit“ sowie „moralische Infantilität und schamhafte Angepasstheit“.
Laut zu schreien, die „Meinungsfreiheit“ sei in Gefahr, ist zu einem Mittel geworden, sich als Hüter des „klassischen Liberalismus“ hervorzutun und sich moralischen und intellektuellen Glanz zu verleihen. Das Problem dieser reichen, mächtigen, aber tief unsicheren Minderheit ist, dass die Meinungsfreiheit für die meisten Menschen auf dieser Erde nie größer war.
„Voltaire und Kant hochzuhalten, wird nicht viele überzeugen“
Nach fast 25 Jahren Veröffentlichungen in Mainstream-Zeitungen kann ich bestätigen, dass der intellektuelle Diskurs nie offener und vielfältiger war. Ja, der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson drohte mir, mich wegen einer Buchrezension zu verklagen. Und Jordan Peterson nannte mich wegen eines Artikels einen „aufgeblasenen Idioten“, den er nur zu gern zusammenschlagen würde; aber wenn man eine Rolle im öffentlichen Leben spielt, muss man solche gemäßigten Verfechter der Meinungsfreiheit locker nehmen. Das Wichtige ist, dass heute sehr viel mehr Leute mit unserem Hintergrund in den Mainstream-Medien schreiben als noch Mitte der 90er, als ich anfing. Heute können wir eine Reihe von Themen mit einer Offenheit diskutieren, die Jahrzehnte lang einfach tabu war. Zudem wird das öffentliche Leben nicht länger von den so genannten klassischen etablierten Medien beherrscht. Man neigt dazu, sich auf das Gezanke und die Verfälschungen über Twitter zu konzentrieren. Aber was ist mit den Beiträgen von Historikern, Ökonomen und Soziologen über Twitter und in Web-Magazinen und kleinen Zeitschriften?
Las man in der Vergangenheit in Zeitungen wie dem Atlantic oder der New York Times Anleitungen für Kriege und Folter oder wurde der Aufstieg des indischen, Hindu-nationalistischen Ministerpräsidenten Narendra Modi in der Financial Times 2014 als „thrilling“ (spannend) bezeichnet, konnte man nichts tun, als einen inneren Schrei ohnmächtiger Verzweiflung auszustoßen. Heute rufen solche moralischen Obszönitäten eine sofortige Reaktion hervor. Als der New York Times-Kolumnist (und einer der Unterzeichner des Harper-Letter) Roger Cohen die politische Führung Modis befürwortete, brachte ihm das einen Tsunami an Kritik. Und wenn der Economist uns mit typischer Redegewandtheit rät, „einen Liberalismus der Aufklärung“ gegen Rassismus zu setzen, können viele Leute schnell darauf hinweisen, dass Voltaire Schwarzen nur unwesentlich mehr intellektuelle Fähigkeit als Tieren zusprach und Kant dachte, dass schwarze Menschen von Natur aus dumm seien.

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Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk, der das von Saudi-Arabien finanziell unterstützte Programm „Die Mitte erneuern“ des früheren britischen Premierministers Tony Blair leitetete, wurde sofort mit Widerspruch konfrontiert, als er einen Putsch in Bolivien als Triumph der Demokratie pries. Heute erkennen die Menschen, dass trotzige Rückzugsgefechte verzweifelt als klassischer Liberalismus ausgegeben werden; dass die Profiteure und Propagandisten eines Ausschlusssystems den politischen und intellektuellen Diskurs schon viel zu lange dominiert und bevormundet haben.
Die Leute, die früher Autorität und Wissen für sich in Anspruch nahmen, erleben endlich, dass sie hinterfragt werden. Dabei werden sie kaum jemanden überzeugen, indem sie Voltaire und Kant hochhalten. Eher wird man sie auffordern: „Lest und denkt auf einer breiteren Basis. Versucht, euch über unsere politischen, literarischen und philosophischen Traditionen zu informieren. Und vergesst nicht, einen Blick auf die Welt zu werfen, die ihr gemacht habt: Sie bricht gerade um euch zusammen.“ Und wenn sie sich auf diese Selbstbildung nicht einlassen wollen, dann sollten sie Leuten Platz machen, die jünger und klüger sind und bereit, mehr Arbeit reinzustecken. Denn es zeichnet sich das Debakel eines Bankrotts der Intelligenz und der politischen Klasse ab. Um die Frage zu beantworten: Ich bin nicht pessimistisch, aber ich bin überzeugt, dass sich sehr wenig verändert wird, solange diese beiden Gruppen nicht erneuert sind. Leider ist eine Erneuerung der politischen Führungsschicht einfacher als die einer bedeutungsvollen, sich selbst erhaltenden Klasse von Intellektuellen.
„An Universitäten gibt es kaum noch radikale Linke“
Viet Thanh Nguyen: Das Urteil zur politischen Klasse halte ich für ein bisschen optimistisch. Oder vielleicht ist Ihr Pessimismus bezüglich der intellektuellen Elite auch einfach nur größer als der in Bezug auf die Politik. Ich war fast drei Jahrzehnte lang an Universitäten unterwegs und es gibt dort kaum noch radikale Linke, auch wenn Trump und die Konservativen das behaupten. Die akademische Welt – zumindest in den Geistes- und Politikwissenschaften – neigt insgesamt zur progressiven Einstellung. Allerdings ist die liberale Mainstream-Intelligenzia stark geprägt von der Selbstgefälligkeit der Ivy League genannten Elite-Unis im Nordosten der USA. Daher haben Sie vielleicht doch Recht, dass Erneuerung dort noch schwieriger ist.
Ich bin neu in der Mainstream-Medienwelt und habe bisher glücklicherweise mit wohlwollenden Redakteur*innen zusammengearbeitet. Einer sagte mir, er freue sich, dass er ab und an ein bisschen von meinem Sozialismus unter die Leser*innen seiner Mainstream-Publikation bringen kann.
Ich wurde übrigens gefragt, ob ich den Harper’s Letter unterschreiben möchte. Mein Bauchgefühl empfahl mir, abzulehnen. Es entstand auch daraus, wie mir der Brief als „liberal“ beschrieben wurde. Ich bin kein Liberaler. Die erfrischende ebenso wie erschreckende Stärke der sozialen Medien ist es, dass sie Stimmen und Meinungen erlauben und ermutigen, die nicht liberal sind. Erschreckend ist das, weil wirklich widerliche Ideen und Persönlichkeiten florieren können; erfrischend, weil dort auch der Wille, der Macht die Wahrheit zu sagen, sehr stark ist.
In Ihrem neuen Buch gehen Sie davon aus, dass die neuen Medien die Verstärkung nicht-institutioneller Stimmen und die Schaffung ganz neuer Persönlichkeiten ermöglichen. Im schlimmsten Falle sind das „Influencer“ und „Vordenker“, Bezeichnungen, die mich schaudern lassen. Sie haben eng damit zu tun, die Idee als vermarktbaren Trend zur Ware zu machen. Der TED-Talk ist dafür exemplarisch. Sie sind Teil von Plattformen und Marken, komplett kompatibel mit (der US-Definition von) Liberalismus, Neoliberalismus und Kosmopolitismus. Im besten Falle sind diese Persönlichkeiten tatsächlich Intellektuelle. Dabei greife ich auf Antonio Gramscis Konzept der organischen Intellektuellen zurück: Organisch scheint das richtige Wort zu sein, um zu beschreiben, wie es einigen Leuten außerhalb des Mainstreams gelungen ist, die sozialen Medien zu nutzen, um Ideen voranzubringen. Natürlich nutzt Trump Twitter auch auf organische Weise. Aber stellen Sie ihn Alexandria Ocasio-Cortez gegenüber, die definitiv derzeit eine organische Intellektuelle ist. Ob sie es bleibt oder von der Macht vereinnahmt wird, bleibt abzuwarten.
Jemand wie Ocasio-Cortez oder die „Black Lives Matter“-Bewegung repräsentieren die schwache Hoffnung, dass die USA sich selbst aus ihren Widersprüchen heraushelfen kann. Sie zitieren den US-Schriftsteller James Baldwin als jemanden, der forderte, dass die USA sich über ihre fatale Geschichte der Eroberung, des Kriegs, des Völkermords und der Sklaverei Rechenschaft ablegt. Sich nicht mit diesen Tragödien auseinanderzusetzen, hat nach Ihrer Argumentation dazu geführt, dass Großbritannien und die USA Opfer ihrer eigenen rücksichtslosen Der-Gewinner-Bekommt-Alles-Varianten des Kapitalismus geworden sind. Gleichzeitig haben auch stark kapitalistische, diktatorisch regierte Staaten ihre eigenen Probleme mit der unkontrollierten Herrschaft über die Zivilgesellschaft und Minderheiten. Angesichts des Aufstiegs Chinas haben die USA drei Wahlmöglichkeiten: Erstens könnten sie ihre aktuelle Strategie weiter ausbauen, also auf ein multikulturelles militärisch-industrielles Gefüge setzen, das aus ethnisch und in Klassen getrennten Gesellschaftsteilen erwächst, deren Ungleichheit für das gesamte Gefüge bezahlt.
Die zweite Option wäre, den Forderungen der Black-Lives-Matter-Bewegung nachzugeben und die Nation zu zwingen, sich endlich der Wahrheitsfindung und Aussöhnung zu widmen, mit Entschädigungen und ökonomischer Umverteilung, die aus einer höheren Besteuerung der Reichen gespeist wird sowie einer vergleichsweise geringen Reduzierung des Verteidigungshaushalts. Die dritte Option wäre, das militärische Engagement sehr deutlich zu reduzieren und sich würdevoll in eine post-imperiale Macht wie Deutschland zu verwandeln, die besser darin ist, sich um ihre Bürger zu kümmern und ihre Interessen zu wahren, ohne globale Herrschaft anzustreben.
Die letzte Option wirkt im US-amerikanischen Kontext utopisch. Die zweite Alternative ist das Beste, was wir unter einer Biden-Präsidentschaft erhoffen können. Und selbst das scheint utopisch, außer dass zumindest die Idee von Entschädigungen als legitim diskutiert wird. Aber Biden könnte genauso leicht wieder in die erste Option zurückverfallen, die von Trump stark vertreten wird und in den vergangenen Jahrzehnten in den USA die breiten Rahmenbedingungen eines Zwei-Parteien-Konsenses bildete. Wenn ich das aufzähle, erinnere ich mich daran, dass ich vor allem jemand bin, der große Freude daran hat, Romane zu schreiben, wenn auch Romane, die versuchen, dieser Dynamik etwas entgegenzusetzen.

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Pankaj Mishra: Ich fürchte, die aktuelle Dynamik weist darauf hin, dass eine tückische Zeit vor uns liegt. Die Pandemie ist nicht unter Kontrolle; weitere Leben und Existenzgrundlagen werden zerstört werden. Es ist auch nicht auszuschließen, dass es zu einem Zusammenstoß mit China als Ablenkungsmanöver kommt. Das ist nur einer von Trumps wahrscheinlichen Tricks, um seine Vertreibung aus dem Weißen Haus hinauszuzögern. Und eine Biden-Regierung besteht vermutlich aus zu vielen Leuten, die den Weg für Trump geebnet haben. Eine Quelle der Hoffnung in diesem düsteren Szenario sind Leute, die Sie als organische Intellektuelle bezeichnen.
Diese haben keine Referenzen des Establishments vorzuweisen und werden nicht durch Netzwerke arroganter Eliten oder rechter Geldbeutel unterstützt. Daher sind sie bösartigen Attacken ausgesetzt. Man sehe sich nur an, wie wahnsinnig und unbarmherzig die Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez und Ilhan Omar, die beide Kongressgeschichte geschrieben haben, von Rechten und Vertretern der Mitte schikaniert werden. Aber niemand sollte daran zweifeln, dass sie hier sind, um zu bleiben und zu kämpfen und die emanzipatorische Energie, die durch die Black-Lives-Matter-Proteste freigesetzt wird, wird sie stärken. Die wirkt sogar auf ältere Mainstream-Autoren, siehe Hilton Als schonungslosen Bericht über seine Erfahrungen als schwarzer Journalist in einer Welt der Weißen. Immer mehr Leute fühlen sich ermächtigt, Fragen aufzuwerfen, die sie in der Vergangenheit nicht öffentlich gestellt hätten.
„Überall sehen wir eine junge und sehr engagierte Generation“
Das an sich ist bereits eine große Befreiung für Seelen und Köpfen und eine enorme Ausweitung der Möglichkeiten. Zu den organischen Intellektuellen würde ich auch die Schriftsteller*innen zählen, die ein Bewusstsein für politische Instabilität und soziale Ungerechtigkeit mit der Muttermilch aufgesorgen haben und sich keine Literatur vorstellen können, die diese Erfahrung außen vor lässt. In seinem neuen Buch „Begin Again“ beschreibt Eddie Glaude, wie Baldwin als weniger guter Autor betrachtet wurde, nachdem er expliziter politisch wurde. Diese, mit dem Kalten Krieg verbundenen Gegensätze zwischen Kunst und Politik funktionieren nicht mehr. Das Coronavirus hat den langen imperialen Frieden Anglo-Amerikas zerbrochen. Die Annahmen und Ideologien, die tief in ihrer Selbstgefälligkeit wurzeln – sei es das Ende der Geschichte oder eine Kunst, die komplett von der Geschichte isoliert ist – können nicht mehr überzeugen.
Gebraucht werden frische Erzählungen dazu, wie wir an diesen Punkt gekommen sind, und was wir jetzt tun können. Überall sehen wir eine junge und sehr engagierte Generation, die zu solchen Erzählungen bereit ist. Im Weg stehen ihnen allerdings immer noch beachtliche Kräfte eines diskreditierten Status Quo.
Viet Thanh Nguyen: Bleibt zu hoffen, dass wir statt zwei Schritte nach vorn und einen zurück jetzt zwei Schritte nach vorn und einen zurück erleben werden. Denn einen erneuten Rückschritt, eine Gegenbewegung, wird es geben. Aber das Entscheidende an „Black Lives Matter“ und den massiven Protesten auf den Straßen weltweit ist eine Veränderung der Vorstellungskraft. Die Macht der Symbole, Ideen und Worte lässt sich nicht überschätzen, wenn es darum geht, den Menschen zu ermöglichen sich vorzustellen, was einst scheinbar unmöglich war.
Bewegungen treiben Politiker*innen, Intellektuelle und Schriftsteller*innen an, aber eben auch umgekehrt. Baldwin ist ein perfektes Beispiel für diesen dynamischen Prozess: jemand, der sich durch die Bürgerrechtsbewegung zum Handeln gezwungen sieht und dessen Worte uns helfen, unsere Gegenwart zu verstehen und unseren Kampf für die Zukunft zu rechtfertigen. Niemanden kümmert heute die Frage, ob er deswegen ein schlechterer Künstler sei. Vorerst wage ich daher zu hoffen.
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