Großbritannien: Die Tories verlieren. Gewinnen die Gewerkschaften?

Analyse Die marktradikale Premierministerin Liz Truss ist weg, eine Streikwelle rollt durchs Land: Britische Gewerkschaften haben Oberwasser im Königreich. Doch auf sie wartet wohl die nächste schwere Herausforderung: eine Labour-Regierung
Liz Truss erklärt in der Downing Street ihren Rücktritt
Liz Truss erklärt in der Downing Street ihren Rücktritt

Foto: Dan Kitwood/Getty Images

Was für eine großartige Zeit ist das doch gerade, um in Großbritannien Gewerkschafter zu sein! Die arbeitnehmerfeindliche Premierministerin ist gerade zurückgetreten. Eine in jüngerer Vergangenheit beispiellose Streikwelle rollt durch das ganze Land, und das mit ungewöhnlich großer öffentlicher Unterstützung. Das Modell des freien Marktes, das seit den 1980er Jahren das Arbeitsleben für so viele Briten so hart gemacht hat, ist jetzt weithin diskreditiert – nicht zuletzt dadurch, dass Liz Truss für dieses Modell steht. Eine Wirtschaft, in der Gewerkschaften etwas gelten und nicht abgetan oder gehasst werden, ist möglich.

Noch bevor Liz Truss zurückgetreten war, waren bei der Konferenz des Gewerkschafts-Dachverbands Trades Union Congress (TUC) in Brighton gerade folgende Worte zu hören: „Wir gewinnen.“ Gesagt hat sie TUC-Generalsekretärin Frances O'Gradyben, und das klang nicht nach Wunschdenken: Über Brightons Strandpromenade strahlte die Sonne, in den Sitzungsräumen war die Vorfreude spürbar, neue Gewerkschaftsgrößen wie Mick Lynch von der Gewerkschaft für Eisenbahner, Schiffs- und Transportarbeiter (RTM) oder Sharon Graham von der zweitgrößten Einzelgewerkschaft Unite strahlten eine Zuversicht aus, die verblüfft – nach all den vorsichtigen, niedergerungenen Gewerkschaftsführern zuletzt. Graham brüstete sich gegenüber dem Morning Star damit, dass Unite in diesem Jahr 81 Prozent der Auseinandersetzungen gewonnen habe.

Urabstimmung, Streik, Sieg

Bei fast jeder Veranstaltung sprachen die Delegierten aufgeregt über Streiks: über bevorstehende Urabstimmungen, das Gefühl der Solidarität durch den Besuch der Streikposten der anderen und das Potenzial für „koordinierte“ Aktionen. „So einen Kongress hat es seit Jahren nicht mehr gegeben“, sagte Mark Serwotka, Vorsitzender der Beamtengewerkschaft PCS, bei einer besonders mitreißenden Veranstaltung am Rande. Wenn die Gewerkschaften während der Lebenshaltungskosten-Krise viele Tarifauseinandersetzungen gewinnen könnten, so Serwka, würden sie mehr Mitglieder anziehen und gewerkschaftsfeindliche Gesetze außer Kraft setzen. Es bestünde dann „die Möglichkeit, dass ein ganz anderes Land entsteht“.

Doch in dem Maße, in dem die Gewerkschaften ehrgeiziger geworden sind, stehen sie auch politisch isolierter da. Für die Konservativen sind die Streiks sowohl eine tiefe Bedrohung – die falsche Art von „Disruption“ – als auch eine mögliche letzte Chance, ihre Regierung zu retten. In der Fragestunde mit der Premierministerin versprach die zum Scheitern verurteilte Truss zuletzt wiederholt, dass die Regierung „Schritte einleiten wird, um gegen die militanten Gewerkschaften vorzugehen“. Trotz ihrer Chaos-Performance kündigten die Tories tags darauf ein Gesetz an, das Arbeitnehmer zwingen würde, bei den Bahnstreiks ein Mindestmaß an „Service“ aufrechtzuerhalten. Die Konservativen, wer auch immer sie als nächstes anführen wird, rechnen damit, dass ein Kampf mit den Gewerkschaften, während ihre Auseinandersetzungen in den kalten Monaten andauern, und eine weitere Verschärfung der britischen Streikgesetze die Wähler zurückgewinnen wird, die eine Abneigung gegen vermeintlich hochnäsigen Arbeitnehmer haben.

Labour und der Arbeitskampf

Mag sein. Aber selbst wenn sich dieser Ansatz als zu sehr an die Zeit Maggie Thatchers angelehnt erweisen sollte, stehen die Gewerkschaften vor einer weiteren Herausforderung: einer Labour-Regierung unter Keir Starmer. Er hat die Streiks nur allgemein als Ausübung eines Rechts unterstützt und sein Schattenkabinett angewiesen, sich nicht an Streikpostenketten zu beteiligen. Jüngst wurde der Labour-Abgeordnete Sam Tarry – im Juli als Schattenminister entlassen, weil er die Streikenden zu stark unterstützt hatte – von der Partei auch als Kandidat für die nächsten Wahlen abgewählt. Unter Starmer, wie auch unter vielen früheren Labour-Führern, hat die Partei, die weitgehend gegründet wurde, um die Sache der Gewerkschaften im Parlament zu unterstützen, beschlossen, dass diese Unterstützung selektiv sein soll.

Starmer sagt, dass Labour die Gewerkschaften gegen die Angriffe der Tories verteidigen wird. „Wenn sie weitere Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte oder des Streikrechts vorschlagen“, sagte er auf der TUC-Konferenz, „werden wir uns dagegen wehren und diese Einschränkungen wieder aufheben“. Die Labour-Partei verspricht auch, die Rechte am Arbeitsplatz in vielerlei Hinsicht auszuweiten, was den Gewerkschaften gefällt, etwa durch das Verbot von Null-Stunden-Verträgen. Eine Starmer-Regierung würde versuchen, die Wirtschaft in arbeitnehmerfreundlicherem Sinne umzugestalten – „eine Wirtschaft, die für die arbeitenden Menschen arbeitet“, wie er es nennt.

Wenig Applaus für Keir Starmer

Eine Starmer-Regierung wäre jedoch auch dem Druck ausgesetzt, den Arbeitnehmern keine Priorität einzuräumen: von knauserigen Arbeitgebern, die mit dem Status quo gut gefahren sind; von einer Bank von England, die in Sachen Inflation eher sorgenvoll auf die Masse der Normalverdiener und nicht auf die reiche Elite blickt; und von den angespannten öffentlichen Finanzen des Vereinigten Königreichs, die es sehr verlockend erscheinen lassen, den Beschäftigten des öffentlichen Sektors keine angemessenen Lohnerhöhungen zu gewähren. Einer der unausgesprochenen Gründe, warum Starmer die Labour-Partei von den Streiks ferngehalten hat, ist neben dem Wunsch, Angriffen der Tories auszuweichen, dass er sich darauf vorbereitet, solche Konflikte vom Sitz des Premierministers in der Downing Street auszuführen.

Viele britische Gewerkschafter – zu viele – sind mittleren Alters: alt genug, um sich daran zu erinnern, dass New Labour nur gelegentlich die Gewerkschaften gegenüber anderen Interessen bevorzugte, zum Beispiel bei der Einführung des Mindestlohns. Das hilft zu verstehen, warum die Labour-Partei auf der TUC-Konferenz nur selten und wenn, dann kühle Erwähnung fand und weshalb der Beifall für Starmers Rede eher respektvoll, nicht enthusiastisch ausfiel. Labour mag an der Schwelle zur Macht stehen, und die Tories mögen implodieren, aber die Gewerkschafter legen Wert darauf, sich nicht zu sehr aufzuregen. Die Pressemitteilung, die die Beamtengewerkschaft PCS wenige Minuten nach Truss' Rücktritt verschickte, war nicht feierlich formuliert, sondern forderte stattdessen Wahlen und „eine Regierung, die die geplanten Kürzungen im öffentlichen Dienst stoppt [und] unseren hart arbeitenden Mitgliedern eine über der Inflation liegende Lohnerhöhung gewährt“.

Ran an die Profite der Unternehmen

Einige Gewerkschaften sehen sich zunehmend als dritte Kraft der britischen Politik: Sie sind auf nationaler Ebene ebenso aktiv wie Labour oder die Tories, aber keiner Partei verpflichtet und haben den Ehrgeiz, das Land zu verändern. Die Streiks sind ein Element dieser Entwicklung. Ihre grundlegende Forderung, die über jede Lohnforderung hinausgeht, lautet, dass ein dauerhaft größerer Anteil der Unternehmensgewinne oder der Staatshaushalte an die Arbeitnehmer gehen soll. Das wäre eine gewaltige Veränderung, die Umkehrung eines jahrzehntelangen Trends.

Aber die Gewerkschaften haben ein noch größeres Ziel. RTM-Chef Mick Lynch sagte in Brighton, er wolle, dass die Gewerkschaften ihre Aktivitäten auf die Umweltbewegung und die Bewegung für soziale Gerechtigkeit ausdehnen und „Menschen coachen und anleiten, um die Demokratie der Arbeiterklasse wiederherzustellen“. Unite-Chefin Sharon Graham sagte dem Morning Star, dass die Gewerkschaften „die Politik vorantreiben“ und dauerhaft in sozial gefährdeten Communities präsent sein müssen, um Menschen „jedweder politischen Tradition“ zu helfen und Themen wie „Alters- und Nahrungsmittelarmut“ anzusprechen.

Jeremy Corbyn 2.0

In der Blütezeit der Gewerkschaften in den 1970er Jahren wollten einige führende Persönlichkeiten wie Jack Jones, dass die Gewerkschaften einen ähnlich großen Einfluss haben. Dies gelang ihnen kurzzeitig, bevor der Thatcherismus dieses Experiment beendete. Die Vorschläge von Lynch und Graham deuten auch darauf hin, dass die Selbstermächtigung, für die der vormalige Labour-Chef Jeremy Corbyn steht, mit anderen Mitteln fortgesetzt wird – das Ganze füllt ein Vakuum, welches durch die Marginalisierung der Labour-Linken entstanden ist.

Die vergangenen zwölf Jahre der Tory-Herrschaft und die schon viel länger andauernde Konterrevolution gegen die Arbeitnehmer haben endlich eine starke gewerkschaftliche Antwort hervorgebracht. Sie zu befriedigen oder zu besiegen, wird für jede Regierung eine Herausforderung sein.

Andy Beckett ist Kolumnist des Guardian.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Andy Beckett | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden