In einem hübschen kleinen Haus in den Weinbergen von Napa im Norden Kaliforniens bietet man mir an, von einer Käseplatte zu kosten, eine Siamkatze streicht um meine Beine. Margaret Keane, 87, sitzt zurückhaltend in einer Sofaecke und fragt, ob ich auch ein paar Macadamianüsse knabbern wolle. Schwer vorzustellen, dass diese Frau an einem der großen Kunstbetrugsfälle des 20. Jahrhunderts beteiligt gewesen sein soll.
Die Geschichte beginnt 1946 in Berlin. Der junge US-Amerikaner Walter Keane ist nach Europa gekommen, um Maler zu werden. Dort sieht er Kinder, die sich mit großen Augen um Essensreste aus Mülltonnen streiten. Es rührt ihn. „Ich fing an, diese schmutzigen, kleinen Opfer des Krieges zu zeichnen. Sie waren geistig und körperlich versehrt. Zerrissene Hosen, verfilzte Haare, Rotznasen. Das war der Punkt, an dem mein Leben als Maler ernsthaft begann“, sagte er einmal rückblickend.
15 Jahre später galt Keane als künstlerische Sensation. Die Vorstädte in den USA waren seit Kriegsende explosionsartig gewachsen, Millionen Menschen suchten etwas, mit dem sie ihre Eigenheime dekorieren konnten. Sehr beliebt waren Bilder von Hunden, die Billard oder Poker spielten. Wer etwas melancholischer gestimmt war, legte sich eine Kopie von Keanes traurigen Kindern zu. Einige hielten ebenso traurig dreinblickende, ebenso großäugige Pudel in den Armen. Andere waren als Harlekine oder Ballerinen gekleidet. Sie wirkten unschuldig und schienen nach etwas zu suchen.
Walter Keane selbst war, seinen Biografen Adam Parfrey und Cletus Nelson zufolge, kein sonderlich melancholischer oder sanfter Mensch, sondern ein Trinker, der die Frauen liebte – und vor allem sich selbst. Über sein erstes Treffen mit seiner späteren Frau Margaret erzählte er 1983 in seinen Memoiren The World of Keane: „Sie sagte zu mir: ,Du bist der größte Künstler, den ich je gesehen habe. Und du siehst auch noch am besten aus.‘“ Jenes Gespräch soll 1955 bei einer Kunstausstellung in San Francisco stattgefunden haben. Walter Keane war damals noch völlig unbekannt. Später in der Nacht, schrieb er in seinen Memoiren weiter, habe Margaret ihm gesagt, er sei auch der beste Liebhaber der Welt. Die beiden heirateten.
Der Beste seit El Greco
Wenn Margaret Keane sich an diese Ehe erinnert, sagt sie: „Es stimmt, er war so liebenswürdig anfangs, er konnte jeden bezaubern.“ Doch dann kommt sie schnell auf den Club Hungry I in San Francisco zu sprechen, wo sich Mitte der 50er die Beatniks trafen. Walter und Margaret Keane waren da schon ein Paar, und er hatte den Club zu seinem kleinen Universum gemacht. Während Comedians wie Lenny Bruce und Bill Cosby auf der Bühne standen, verkaufte er dort Bilder – mit großäugigen Kindern. Eines Abends begleitete Margaret ihn in den Club. „Jemand kam zu mir herüber und fragte mich: ‚Malen Sie eigentlich auch?‘ Plötzlich schoss mir der Gedanke durch den Kopf: ‚Gibt er etwa meine Bilder als die seinen aus?‘ Ich war schockiert.“ Und genau so war es: Walter Keane hatte seine Kunden angelogen. Margaret hatte die bunten Kinderbilder gemalt, für die er sich feiern ließ. Margaret war außer sich und forderte ihren Mann auf, den Schwindel sofort zu beenden. Aber er weigerte sich. So arbeitete sie weiter und nickte zehn Jahre lang mit gespielter Bewunderung, wenn Walter Journalisten erzählte, er sei der beste Maler seit El Greco.
Warum hat sie das mitgemacht? Die ersten beiden Jahre ihrer Ehe seien glücklich gewesen, sagt sie. Doch mit dem Abend im Hungry I habe sich alles geändert. „Er versuchte, sich herauszureden. Wir bräuchten das Geld. Es sei zu spät für die Wahrheit. Er sagte: ,Jetzt glauben sowieso schon alle, die Bilder sind von mir. Wenn ich plötzlich sage, dass sie von dir sind, stiftet das nur Verwirrung, und die Leute fangen an, uns zu verklagen.‘“ Sein Lösungsvorschlag habe darin bestanden, dass sie ihm beibringen sollte, wie man diese Motive male. „Als es ihm dann nicht gelang, war es meine Schuld. ,Ich würde es schaffen, wenn du mehr Geduld mit mir hättest‘, beschwerte er sich. Dabei hab ich es wirklich versucht. Es war nur leider unmöglich.“ Margaret wollte da schon weg von ihm – aber wie sollte sie für sich und ihre Tochter sorgen? „Also habe ich mich schließlich darauf eingelassen. Es hat mich innerlich in Stücke gerissen.“
Anfang der 60er Jahre verkauften sich Drucke und Postkarten mit Keane-Motiven millionenfach. Prominente wie Natalie Wood, Joan Crawford, Dean Martin und Jerry Lewis leisteten sich Originale. Margaret Keane hat nie unmittelbar etwas von dem Geld gesehen. „Wir zogen in ein schönes Haus mit Swimmingpool, hohem Zaun und Personal. Ich brauchte mich um nichts weiter zu kümmern und konnte mich ganz aufs Malen konzentrieren.“ Sie lächelt verzagt. „Im Pool waren praktisch immer drei Leute am Nacktbaden“, prahlte Walter Keane in seinen Memoiren. „Jeder trieb es mit jedem.“ Die Beach Boys schauten vorbei oder Maurice Chevalier. Margaret Keane bekam all diese Leute kaum zu Gesicht. Sie musste ja malen. Manchmal 16 Stunden am Tag.
„Wusste das Hauspersonal, was vor sich ging?“, frage ich sie. „Nein, die Tür war immer verschlossen, und die Vorhänge waren zugezogen.“ – „Sie haben all die Jahre hinter geschlossenen Gardinen verbracht?“ – „Ja. Wenn er unterwegs war, rief er fast stündlich an, um sicherzugehen, dass ich nicht ausgegangen war. Ich saß im Gefängnis.“ – „Wussten Sie von seinen Affären?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Irgendwann war mir egal, was er so trieb.“
„Es muss sehr einsam gewesen sein“, sage ich. „Ja. Er hat nicht geduldet, dass ich Kontakt zu Freunden pflegte. Er war eifersüchtig und herrschsüchtig. Gleichzeitig hat er mir gedroht: ‚Wenn du es jemandem erzählst, lass ich dich umlegen.‘ Ich wusste, dass er Kontakte zur Mafia hatte. Er machte mir wirklich Angst. Einmal hat er versucht, mich zu schlagen, da habe ich gesagt: ‚Wenn du das noch einmal tust, bin ich weg.‘“ Sie macht eine Pause. „Aber ansonsten ließ ich ihm leider alles durchgehen. Das war wahrscheinlich das Schlimmste.“
Eines Tages forderte er sie auf, ein ganz besonderes, ein gewaltiges Bild zu malen. Es sollte sein Meisterwerk werden. „Er gab mir einen Monat dafür.“ Das Meisterwerk erhielt den Titel Tomorrow Forever. Auf ihm sind genau 100 großäugige Kinder zu sehen. Sie stehen hintereinander, in einer langen Reihe, die bis zum Horizont reicht. Das Werk schaffte es zur Weltausstellung von 1964 in New York. Walter Keane kommentierte diesen Erfolg in seiner Biografie wie folgt: Seine verstorbene Großmutter habe in einer Vision zu ihm gesprochen. „Michelangelo hat dich für den inneren Kreis nominiert. Denn dein Meisterwerk Tomorrow Forever wird in den Herzen und Gedanken der Menschen weiterleben wie Michelangelos Arbeit in der Sixtinischen Kapelle von Rom.“
Der Kunstkritiker John Canaday fand in der New York Times deutlich prosaischere Worte für Tomorrow Forever: „Diese geschmacklose Nullachtfünfzehn-Arbeit enthält ungefähr 100 Kinder und ist damit ungefähr 100 Mal so schlecht wie ein durchschnittlicher Keane.“ Die Organisatoren der Weltausstellung reagierten auf diese vernichtende Kritik und hängten das Gemälde wieder ab. „Walter war außer sich“, erzählt Margaret. „Mich hat verletzt, dass sie abfällig darüber redeten. Als die Leute sagten, es sei nur gefühliger Kitsch, hat mich das wirklich getroffen. So viele andere liebten und lieben die Bilder. Kleine Kinder mögen sie sehr, sogar Babys. Also sagte ich mir: Ich werde weitermalen.“
Showdown in Honolulu
Damals hätte Margaret auf die Frage, was sie inspiriere, geantwortet, die Bilder flössen einfach aus ihr heraus. Heute sagt sie: „Diese traurigen Kinder verkörperten meine eigenen Gefühle, die ich nicht anders ausdrücken konnte. Ihre Augen suchten und fragten nach Gründen. Warum gibt es so viel Traurigkeit auf der Welt? Warum müssen wir krank werden und sterben? Warum schießen die Menschen aufeinander?“ – „Warum ist mein Mann so verrückt?“, schlage ich noch vor. „Warum bin ich in diesen Schlamassel hineingeraten?“, sagt Margaret und nickt.
Nach zehn Jahren ließen die beiden sich scheiden. Margaret Keane versprach dem Ex-Mann, auch weiterhin heimlich für ihn zu arbeiten, und tat das auch, eine Zeitlang. Aber eines Tages entschied sie: „Keine Lügen mehr.“ So kam es, dass sie im Oktober 1970 einem Reporter der US-Nachrichtenagentur United Press International alles offenbarte.
Walter Keane ging in die Offensive: Er schwor, die Big Eyes alle selbst gemalt zu haben, und nannte Margaret eine „trinkende, sexuell ausgehungerte Psychopathin“, die sich mit mehreren Parkplatzwächtern eingelassen habe. „Ich konnte nicht glauben, dass er so viel Hass für mich empfand“, sagt Margaret.
Sie schloss sich den Zeugen Jehovas an, zog nach Hawaii und malte weiterhin Kinder mit großen Augen. Aber nun schwammen diese Kinder mit tropischen Fischen in azurblauem Wasser herum, und auf ihren Gesichtern war ein zartes, vorsichtiges Lächeln zu erkennen. Walter Keanes Leben nahm keine so glückliche Wendung. Er zog in ein kalifornisches Fischerdorf und trank von morgens bis abends. Den wenigen Journalisten, die ab und zu noch etwas von ihm wissen wollten, erzählte er, Margaret habe sich mit den Zeugen Jehovas verbündet, um ihn um sein Vermögen zu bringen. Daraufhin verklagte ihn Margaret Keane. Der Richter verlangte von beiden, sie sollten jeweils ein Kind mit großen Augen malen, im Gerichtssaal, vor allen Leuten. Margaret hatte ihr Gemälde in 53 Minuten fertig. Walter Keane gab vor, er leide unter Schmerzen in der Schulter und könne deshalb nicht malen.
„Da hängt es“, sagt sie und zeigt auf das gerahmte Porträt eines kleinen Mädchens mit wirklich riesigen Augen. „Ich habe es im Bundesgericht von Honolulu gemalt. Auf der Rückseite steht noch die Nummer, die es als Beweisstück bekam.“ Sie gewann den Rechtsstreit und bekam vier Millionen US-Dollar zugesprochen, sah aber nie einen Cent davon, denn der Ex hatte längst alles versoffen. Ein Gerichtspsychologe diagnostizierte ihm eine wahnhafte Störung.
„Wer unter einer solchen Krankheit leidet, glaubt wirklich an das, was er sich einbildet“, sage ich. „Manchmal ist der Betroffene davon überzeugt, ein Betrüger schmücke sich mit seinen Federn.“ Margaret denkt nach. „Lange habe ich mich sehr schuldig gefühlt“, sagt sie dann. „Warum schuldig?“, frage ich. „Wenn ich ihm gar nicht erst erlaubt hätte, die Bilder als die seinen auszugeben, wäre er nicht so krank geworden.“
Im Jahr 2000 starb Walter Keane. Unterdessen waren die großen Augen komplett aus der Mode gekommen. Woody Allen machte sich in seinem Film Der Schläfer (1973) über sie lustig, indem er eine lächerliche Zukunft inszenierte, in der diese Bilder quasireligiös verehrt werden.
Überraschend erfahren die Motive nun eine Renaissance: Kürzlich hatte das Biopic Big Eyes im US-Kino Premiere, Regie Tim Burton, mit Amy Adams als Margaret und Christoph Waltz als Walter Keane. Am 23. April startet der Film in Deutschland, die echte Margaret hat darin einen Gastauftritt: „Ich spiele eine kleine, alte Dame, die auf einer Parkbank sitzt.“
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