Im Frühjahr 2018 wurde New York völlig unvermittelt von einer sehr speziellen Art der Lebensmittelknappheit heimgesucht. Regale in Lebensmittelläden blieben plötzlich leer, Cafés hängten Schilder aus und mussten enttäuschte Kunden abweisen. Die ganz Verzweifelten grasten Läden von Williamsburg bis Harlem ab, doch es half alles nichts: In New York war die Hafermilch alle.
Nicht nur in New York: Die gesamten USA litten unter Lieferausfällen von Oatly, einer schwedischen Hafermilchmarke, deren rasanter Aufstieg vom obskuren verdauungsfördernden Gesundheitsprodukt zur Milchalternative schlechthin sogar Oatly selbst überrumpelt hatte. Seit der Markteinführung in den USA 2016 hatte Oatly seinen Kundenstamm von einer Handvoll angesagter New Yorker Coffee-Shops auf mehr als 3.000 Cafés und Lebensmittelgeschäfte im ganzen Land ausgeweitet und seine Produktion um 1.250 Prozent gesteigert. Im Spätsommer 2018 hatte das Unternehmen noch immer Schwierigkeiten, die Nachfrage zu stillen.
Zum Glück besteht, was Milch angeht, im Jahr 2019 wenigstens kein Mangel an Alternativen zur Milch-Alternative mehr. In den Supermärkten quellen die Kühlregale über, so groß ist die Auswahl: Mandelmilch, Haselnussmilch, Milch aus Erdnüssen, Erdmandeln, Walnüssen, Cashews – und das sind nur die Nüsse. Kokos, Hanf, Dinkel, Quinoa, Erbsen – was auch immer: Irgendwo gibt es mit Sicherheit schon ein Health-Food-Start-up, das versucht, Milch daraus zu pressen – oder besser gesagt: „Mylch“, denn nach EU-Recht ist es verboten, Produkte, die nicht von Säugetieren produziert wurden, als Milch zu bezeichnen.
Heute scheint es undenkbar, dass 2008 Sojamilch fast die einzige Alternative zu Kuhmilch war. Für alles andere musste man sich in Naturkostläden und Reformhäusern nach tristen Tetra Paks voll Reismilch durchschlagen, die sich mit anderen verdauungsfördernden Heilmitteln das Regal teilten. „Die totale Nische: Nur etwas für Leute mit Laktoseintoleranz, für Veganer und Vegetarierinnen – ein Randgruppenprodukt“, erinnert sich Oatly-Kreativdirektor John Schoolcraft.
Daran hat sich einiges geändert. In den USA kauft mittlerweile fast die Hälfte aller Konsumenten auch Pflanzenmilch. In Deutschland, wo Soja-, Getreide- und Nussmilch bis zum Jahr 1990 verboten waren, nimmt der Konsum von Pflanzenmilch ebenfalls zu. Einer neuen Studie der Gesellschaft für Konsumforschung zufolge konsumieren hierzulande 16 Prozent der Befragten Milchalternativen. Weltweit wird der Wert der Branche auf 16 Milliarden Dollar geschätzt.
Der Verfall der Esskultur
In Großbritannien führten die schrumpfende Nachfrage nach Kuhmilch sowie fallende Preise zwischen 2013 und 2016 zur Schließung von 1.000 Milchviehbetrieben. Die Reputation von Milch als gesundem Lebensmittel hat in letzter Zeit ziemlich gelitten: Es wachsen die Bedenken gegen mit Antibiotika vollgestopfte Kühe, die Sorge um Tierquälerei und die Umweltschädlichkeit der Milchindustrie. Dazu kommen vermehrt Diagnosen von Laktoseintoleranz.
Hinter dem Boom pflanzenbasierter Milchprodukte steckt mehr als nur das Bedürfnis, mal alternative Milch zu probieren. Für viele Konsumenten stellen Mandel- und Hafermilch einen grundsätzlichen Schritt zu einem bewussteren, nachhaltigeren Lebensstil dar. Für Kritiker hingegen sind sie wenig mehr als sehr clever vermarktete und mit Zusätzen versetzte Nuss-Säfte – ein Symptom für alles, was an der heutigen Esskultur falsch läuft. So ist es zu einem seltsamen Ringen gekommen: auf der einen Seite eine neue Industrie, die etwas ersetzen will, von dem sie sagt, dass es verzichtbar sei. Auf der anderen Seite die traditionelle Milchwirtschaft, die sich seit mehr als einem Jahrhundert als die Grundlage einer gesunden Ernährungsweise präsentiert – und dabei die Tatsache ausblendet, dass der Großteil der Welt problemlos ohne Milchprodukte auskommt.
Aus Sicht der Wissenschaft ist es so: Wir kommen alle als Milchtrinker auf die Welt. Der Verdauungsapparat von Babys produziert das Enzym Laktase, das Laktose – den Zucker in Muttermilch wie auch Kuhmilch – in die Einfachzucker Glukose und Galaktose aufspaltet. Bei den meisten Menschen geht die Produktion von Laktase nach dem Abstillen drastisch zurück. „Aus Sicht des Menschen – oder eigentlich sogar aus der Sicht von Säugetieren im Allgemeinen – ist es die Norm, dass man die Muttermilch der eigenen Mutter toleriert und dann, wenn man älter wird, aufhört, Laktase zu produzieren und damit laktoseintolerant wird“, sagt Adam Fox, einer der führenden Experten für Lebensmittelallergien in Großbritannien. „Aber es gibt eine kleine Gruppe von Menschen mit einer Mutation, die bewirkt, dass sie bis ins Erwachsenenalter hinein weiter Laktase produzieren. Das sind Nordeuropäer, die Massai in Ostafrika und einige Gruppen von Arabern. Aber sie sind die Ausnahme, nicht die Regel.“
Die Spaltung in Milchtrinker und den Rest der Menschheit – tatsächlich eine Reihe von mehreren genetischen Mutationen – scheint vor ungefähr 10.000 Jahren stattgefunden zu haben, ungefähr zu der Zeit, als die Menschen Nutztiere domestizierten. Das ist der Grund dafür, warum in Ländern wie Großbritannien, Schweden und Irland über 90 Prozent der Erwachsenen in der Lage sind, Milch zu trinken, ohne irgendwelche negativen Nebenwirkungen zu verspüren, während weltweit zwei Drittel aller Erwachsenen als laktoseintolerant gelten. Für sie kann ein Glas Milch zu Blähungen, Bauchschmerzen und Durchfall führen. Laktoseintoleranz sollte aber nicht mit Kuhmilchallergie verwechselt werden – einer Immunreaktion auf die in Kuhmilch enthaltenen Proteine, von der etwa in Großbritannien ungefähr ein Prozent der Erwachsenen betroffen ist.
Selbst in Nordeuropa ist Milch, wie wir sie kennen, eine noch relative junge Erscheinung. Denn wenn Frischmilch nicht gekühlt wird, verdirbt sie schnell und kann eine Vielzahl tödlicher Erreger enthalten, einschließlich E.-coli- und Rindertuberkulose-Bakterien. Die Menschen haben sie die längste Zeit entweder sehr bald nach dem Melken verzehrt oder zu Käse und Joghurt weiterverarbeitet. Erst im 20. Jahrhundert, mit der Einführung der Pasteurisierung – bei der die Milch erhitzt wird, um alle Bakterien abzutöten, bevor sie in Flaschen abgefüllt wird –, wurde Frischmilch so sicher, dass viele Menschen sie regelmäßig trinken konnten.
Es war der Erste Weltkrieg, dem die Milchindustrie ihre Unterstützung durch die Politik verdankt. In Großbritannien mussten Nahrungsmittel rationiert werden, viele Kinder litten unter Mangelernährung. Die aufkommende Ernährungswissenschaft identifizierte Milch – mit ihrem hohen Eiweißgehalt und den gerade erst entdeckten „vitalen Aminen“ oder Vitaminen – als Lösung. Aufgrund von Preiskontrollen durch die Regierung wurde Milch nicht knapp. Heute würde man sagen, Milch wurde zum Superfood erklärt: als unendlicher Quell von Calcium, Proteinen und Vitaminen. 1946 verabschiedeten die Regierungen von Clement Attlee in Großbritannien und Harry S. Truman in den USA Maßnahmen, die sicherstellten, dass Milch im Rahmen von Schulspeisungen gratis zur Verfügung gestellt wurde.
Heute ist die Milchindustrie 400 Milliarden Dollar schwer. Ein globales, stark reguliertes Ungetüm, das Milch von 274 Millionen Kühen vermarktet. Doch für viele Verbraucher verliert die Milch zunehmend an Reiz. Während der durchschnittliche US-Amerikaner 1975 noch an die 130 Liter Milch pro Jahr konsumierte, waren es 2017 66 Liter. Seit 2012 ist der Milchverkauf um 15 Prozent gefallen. Für Deutschland gibt der Milchindustrie-Verband an, der Pro-Kopf-Konsum sei zwischen 2012 und 2017 von 54,7 auf 52,5 Liter pro Jahr gesunken.
Der Anteil der Milch am täglichen Getränkeverbrauch erodierte aufgrund einer beständigen Zunahme des Konsums von Softdrinks, Säften, Smoothies und abgefülltem Wasser. Doch keines dieser Produkte stellte eine existenzielle Bedrohung dar, da flächendeckende Werbung das Bild aufrechterhielt, Milch, Gesundheit und gute Ernährung stünden in Zusammenhang. Es ist dieses gesunde Image, das jetzt immer stärker infrage gestellt wird.
Neben den Vorwürfen der Tierquälerei häufen sich die Belege dafür, dass die Milchindustrie katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt hat. Die Viehwirtschaft produziert mehr Treibhausgase als Flug-, Schiff- und Straßenverkehr zusammen. Eine aktuelle Studie der Oxford University kommt zu dem Schluss, dass vegane oder vegetarische Ernährung die wichtigste Einzelmaßnahme darstelle, um den eigenen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern.
Nun ist pflanzliche Milch keine Neuentdeckung. In China wird Sojamilch spätestens seit dem 14. Jahrhundert hergestellt, vor allem als Vorprodukt für Tofu. Die erste schriftliche Erwähnung von Mandelmilch findet sich in einem Kochbuch aus Bagdad aus dem Jahr 1226, dem Kitab al-Tabikh.
Im Westen blieben Mandel- und Sojamilch außerhalb einer kleinen Gemeinschaft von Veganern, Vegetariern und dem ein oder anderen Exzentriker relativ unbekannt. 1956 gründete Leslie Cross, der damalige Vorsitzende der British Vegan Society, die Plantmilk Society. Cross, der insbesondere die Grausamkeit der Milchindustrie ablehnte, suchte einen pflanzlichen Milchersatz aus Nutzpflanzen, die in Großbritannien angebaut werden konnten. Er und andere Pioniere experimentierten viel mit Kohl, bevor sie sich schließlich auf die Sojabohne festlegten.
1981 entschloss sich ein junger belgischer Lebensmitteltechniker namens Philippe Vandemoortele, eine neue, sterile Verpackungstechnik zu verwenden, um darin Sojamilch zu verkaufen: Tetra Pak. „Angefangen habe ich in der Garage mit Töpfen, Pfannen und einer Mühle“, sagt der heute über 70-Jährige. „Ich war jung und sehr naiv.“ Vandemoortele nannte seine Sojamilch Alpro – die Rückmeldungen waren eher durchwachsen. Sein örtlicher Supermarkt weigerte sich, das Produkt ins Sortiment zu nehmen. „Der Einkäufer hat es probiert und gesagt: „Puh, das schmeckt ja furchtbar!“ Doch Vandemoortele ließ sich nicht entmutigen. 2017 machte Alpro, das inzwischen von Danone übernommen worden ist, 210 Millionen Euro Umsatz.
Der endgültige Durchbruch kam in den späten 1990ern, als ein Sojaunternehmen aus Colorado namens WhiteWave die eigentlich offensichtliche Entdeckung machte, dass sich das Produkt besser verkaufte, wenn es im Kühlregal neben der Kuhmilch stand. WhiteWaves neuer gekühlter Sojadrink, den das Unternehmen Silk nannte, wurde ein Renner. Zugleich gab es immer mehr Belege für den Zusammenhang zwischen hohen Cholesterinwerten und Herzerkrankungen, worauf sich Silk, Alpro und andere stürzten, um ihre Produkte als gesunde Alternativen zu vermarkten. Plötzlich war Soja etwas für jeden.
Soja schmeckt nicht gut
Doch der Sojaboom hielt nicht lange an, vor allem, weil Soja nun mal nicht besonders gut schmeckt. Selbst moderne Sojamilch, die Zuckerzusätze, Dickungsmittel und andere Zusatzstoffe enthält, um die Eigenschaften echter Milch nachzuahmen, kann einen Anflug von Hülsenfrucht in Geschmack und Geruch nicht verbergen. Und Anfang der 2000er führte auch Sojamilch zu gesundheitlichen Bedenken: Sie enthält Phytoöstrogene, also Östrogen-ähnliche Verbindungen, deren Wirkung jener von Östrogen ähneln kann – eine Entdeckung, die zur Befürchtung führte, der Konsum von Soja könne Hormonstörungen bewirken und Männer „verweiblichen“. Klinische Studien haben seither gezeigt, dass derartige Befürchtungen überzogen sind. Trotzdem verbreiten manche Neonazis weiter die Verschwörungstheorie, Sojamilch werde heimlich vom System eingesetzt, um Männer zu entmännlichen. Bei Kundgebungen trinken sie deswegen Kuhmilch, um ihre „Überlegenheit in Verdauungsfragen“ unter Beweis zu stellen.
2008 dann witterte eine große Mandelbauerngenossenschaft in Kalifornien, die Blue Diamond Growers, eine Chance: Ihre Mandelmilch, Almond Breeze, stand seit Langem im Schatten von Silk, der führenden Sojamilchmarke der USA. Die kalifornische Mandelindustrie lancierte eine breit angelegte Marketingkampagne, finanzierte und veröffentlichte neue Studien über die gesundheitlichen Vorteile von Mandeln. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten: Hochglanzmagazine feierten Mandeln als das neue „Superfood“. Almond Breeze war so erfolgreich, dass es keine zwei Jahre dauerte, bis Konkurrent Silk seine eigene Mandelmilch auf den Markt brachte, um mithalten zu können. Schon 2013 hatten Mandeln Soja überholt und Mandelmilch sich als erfolgreichste Pflanzenmilch in den USA etabliert.
Heute macht Mandelmilch ungefähr zwei Drittel aller verkauften Pflanzenmilch aus, hat aber ebenfalls mit einem Imageproblem zu kämpfen: Es braucht 4,5 Liter Wasser, um eine einzige Mandel zu züchten, bei der es sich eigentlich nicht um eine Nuss, sondern um einen Samen handelt. In Kalifornien, wo 80 Prozent der globalen Mandeln produziert werden, macht der Mandelanbau geschätzte zehn Prozent des gesamten Wasserverbrauchs aus – ein kontroverses Thema in einem Bundesstaat, der häufig und zunehmend mit Dürren zu kämpfen hat.
Verbrauchern ist außerdem nicht entgangen, dass der tatsächliche Mandelgehalt der meisten Mandelmilchdrinks verschwindend gering ist. Sowohl Silk als auch Alpro enthalten gerade einmal zwei Prozent Mandeln. „Tatsächlich handelt es sich um eine Emulsion auf Wasserbasis, der Öle, jede Menge Zucker und Bindemittel zugefügt werden, erst dann kommen obendrauf noch ein paar Nüsse“, konstatiert der Forschungschef des US-Herstellers Elmhurst, der einst Schulen und Läden der Starbucks-Kette mit Milch versorgte, bevor er 2016 voll auf pflanzliche Milch umsattelte.
Die große Zeit der Mandelmilch ist heute vorbei, da sind sich die meisten Kenner der Branche einig. Im Moment gelten Kokosnuss- und Hafermilch als der letzte Schrei.Womit wir wieder bei der bizarren Hafermilchknappheit wären, die New York 2018 heimsuchte.
Als Toni Petersson 2012 als Chef bei Oatly anfing, hatte außerhalb von Schweden kaum jemand von Hafermilch gehört. Das Unternehmen war 1994 von Rickard Öste gegründet worden, einem Wissenschaftler der Universität von Lund. „Hafer ist wirklich ein Spitzengetreide“, sagt Petersson, „er wächst überall, enthält Kohlenhydrate, Fette, Eiweiß und Ballaststoffe.“ Verglichen mit Hafermilch sei Mandelmilch nichts weiter als „aromatisierter Pflanzensaft“. Also machte sich Petersson daran, den Ruf von Hafermilch von Grund auf zu verändern. Aus Oatly wurde Oat-ly!, und die Packungen zierten von nun an Botschaften der Oatly-Mitarbeiter, die ihre Kunden dafür beglückwünschten, Teil der „Post-Milch-Generation“ zu sein und sich dem „Kult“ angeschlossen zu haben – was nur halb ironisch gemeint war.
Oatlys Meisterstück aber war die Erfindung seiner „Barista Edition“. Das Problem mit den meisten pflanzlichen Milchdrinks ist ja, dass sie bei Erhitzung gerinnen und nicht schäumen wie Kuhmilch, das liegt an den Proteinen der Pflanze. Oatly hat den Vorteil, dass es schäumt und der Geschmack des Hafers von dem des Kaffees nahezu komplett überdeckt wird. Petersson ließ die Supermärkte links liegen und nahm die Hipster-Cafés Brooklyns in New York und Shoreditchs in London ins Visier. „Die Masse kommt aus dem Einzelhandel, aber die Nachfrage wird in den Cafés generiert“, erklärt Petersson. Der Aufstieg von Oatly lief nicht ohne Kontroversen ab. 2015 wurde das Unternehmen von der schwedischen Milchindustrie verklagt, weil es mit dem Slogan geworben hatte: „Wie Milch, aber für Menschen“, was Kuhmilch auf unfaire Weise herabwürdige. Oatly verlor den Prozess, verwendet den Slogan aber außerhalb von Schweden weiter – derzeit ist er etwa in deutschen Großstädten auf großen Werbeplakaten zu sehen.
Doch ob Milch pflanzlichen Ursprungs tatsächlich ein gesünderer Ersatz für Kuhmilch ist oder nicht, ist immer noch Gegenstand einer erbitterten Debatte. Es stellt sich die Frage, ob Milch auf pflanzlicher Basis mit zusätzlichen Vitaminen angereichert werden sollte, um Kuhmilch noch ähnlicher zu werden. Manche Firmen setzen Zusatzstoffe ein, andere tun dies nicht. Eine ungesüßte Mandelmilchmarke wirbt mit dem Spruch „50 Prozent mehr Calcium als Milch“ – enthält aber keinerlei Vitamin D, B12, Riboflavin oder einen der anderen Nährstoffe, die in Milch und anderen angereicherten Pflanzendrinks zu finden sind.
Die meisten Milchersatzprodukte auf Pflanzenbasis sind ganz versessen darauf, ihren Verbrauchern mitzuteilen, was sie nicht enthalten: Sie sind also laktosefrei, zuckerfrei, sojafrei, glutenfrei, genfrei, Bisphenol-A-frei – manchmal ist die Liste dessen, was alles nicht drin ist, länger als die der Inhaltsstoffe. So neurotisch ist unsere Esskultur also inzwischen, dass wir Lebensmittel nicht mehr aufgrund ihrer Nährstoffe konsumieren, sondern vielmehr dafür, was sie nicht enthalten.
Der Sorge der Nachkriegszeit, Kinder könnten unter Mangelernährung leiden, ist der Angst vor Fettleibigkeit gewichen. Und tatsächlich ist es ja so, dass jene zwei Drittel der Weltbevölkerung, die gar keine Milch trinken können, auch nicht vermehrt unter Osteoporose oder Rachitis leiden. In China und Japan sind diese Erkrankungen seltener als in Europa.
„Viele Wissenschaftler denken mittlerweile, dass die Idee, Kinder müssten unbedingt Milch trinken, um groß und stark zu werden, Quatsch ist“, sagt der Lebensmittelhistoriker Mark Kurlansky. „Auf der anderen Seite ist die Vorstellung, Milch sei schädlich und man solle stattdessen lieber Mandel- oder Sojamilch trinken, genauso Quatsch. Es handelt sich dabei schließlich um ein völlig unterschiedliches Nahrungsmittel.“
Dieses kollektive Unbehagen
Alle Ernährungswissenschaftler, mit denen ich gesprochen habe, betonen, dass Milch heute nicht gesundheitsschädlicher ist als in der Vergangenheit, eher im Gegenteil. Ebenso wenig konnte ich Experten finden, die mir aufgrund von Datenmaterial hätten belegen können, dass Laktoseintoleranzen zunähmen, auch wenn die meisten sagen, dass die Zahl der Selbstdiagnosen steige.
Was so viel heißt wie: Der Boom von Milch auf pflanzlicher Basis dreht sich nicht in erster Linie um Ernährung. Genauso wenig handelt es sich um eine Neuorientierung hin zu einer ethisch begründeten Ernährung auf pflanzlicher Basis – auf die ja eigentlich viel mehr Leute umsatteln sollten. „Diese Dinge sind wichtig, aber für die meisten Menschen sind es sekundäre Verkaufsargumente“, sagt Julian Mellentin von New Nutrition Business, einem Analysten der Lebensmittelindustrie. Laut Mellentin kaufen 90 Prozent der Käufer von pflanzlicher Milch zusätzlich andere Milchprodukte, etwa Käse oder Eis.
Das aber bedeutet, dass die Faktoren, die uns dazu bewegen, Milch auf pflanzlicher Basis zu kaufen und zu konsumieren, von etwas Grundsätzlicherem bestimmt werden: Von einer Art kollektivem Unbehagen, dass etwas mit unseren Körpern nicht stimmt. Dass wir nicht so gesund und glücklich sind, wie wir es sein könnten – oder sollten. Und dass dafür doch etwas oder jemand verantwortlich sein muss.
Was, wenn viele Menschen gar nicht an Laktoseunverträglichkeit leiden, sondern an einer Unverträglichkeit ihres tatsächlichen Lebens? Dass manche Fälle von Laktoseintoleranz nicht medizinisch diagnostizierbar sind, heiße ja nicht, dass sie einfach so abgetan werden sollten, findet Julian Mellentin. „Es geht dabei ja nicht um eine Allergie. Sondern darum, wie Menschen sich fühlen, was ihr Wohlbefinden verbessert.“ Was kann man dagegen einwenden?
Vor Kurzem hat Oatly das nächste Ziel für Hafermilch ausgemacht: China. Die Verkaufszahlen seit dem Markteintritt 2016 sind vielversprechend. In China wächst die Nachfrage nach Milch, chinesische Unternehmen entdecken pflanzliche Milch und laktosefreie Alternativen. Für Petersson ist die Eroberung Chinas mehr als ein Geschäft. „Das Schlimmste, was aus ökologischer Sicht passieren könnte, wäre, wenn die Chinesen anfangen würden, Kuhmilch zu trinken“, sagt er, „es gäbe schlicht nicht genug Kühe auf der Welt, um das zu ermöglichen.“
Inzwischen sieht sich Oatly immer mehr Wettbewerbern gegenüber: Im Januar brachte Silk seine eigene Hafermarke auf den Markt, Oat Yeah. Doch manche Pflanzenmilchunternehmer sind vorsichtig. Die meisten wissen, wie schnell so eine Ernährungsmode – Saftkuren, Intervallfasten, Kokosnussöl – wieder vorbei sein kann. Mittlerweise ist etwa Kombucha der darmfreundliche Drink der Stunde. Julian Mellentin ist da schmerzfrei: „In drei bis fünf Jahren geht es mit der pflanzlichen Milch wieder bergab. Spätestens.“
Wie mit dem chinesische Milch-Boom umgehen?
Die ökologischen Folgen des Milchkonsums rücken vielerorts immer mehr in das öffentliche Bewusstsein. Für den Planeten ist es eigentlich gut, dass ein Großteil der Menschen laktoseintolerant ist. Doch Chinas Regierung hat andere Vorstellungen.
Um die eigene Produktionsfähigkeit unter Beweis zu stellen, setzt die Regierung schon lange auf Milch – gilt das Getränk doch vielen immer noch als gesund und stärkend. Da die meisten chinesischen Kinder nach dem Abstillen keine Lactase zum Abbau des Milchzuckers mehr erzeugen, startete die Regierung im Jahr 2000 eine Kampagne, um jedes Schulkind mit einem Glas Milch pro Tag zu versorgen – so soll die Verträglichkeit der Heranwachsenden gestärkt werden. Acht Jahre später folgte auf das Wachstum dann der Schock: ein Milch-Skandal brachte ans Licht, dass 22 chinesische Produzenten ihre Erzeugnisse mit Kunststoffvorprodukten gestreckt hatten. Knapp 300.000 Babys erkrankten, sechs von ihnen starben. Seitdem ist das Vertrauen der Einwohner in die heimische Produktion erschüttert, viele Eltern kaufen ihren Kindern importierte Milch. Die Regierung versucht zwar, das verlorene Vertrauen wieder aufzubauen. Doch ob China den steigenden Bedarf überhaupt selbst stillen kann, ist mehr als fraglich.
Wenn der Konsum von Molkereiprodukten weiter steigt, muss wohl eine andere Lösung für den wachsenden Bedarf gefunden werden. Importe über die „Neue Seidenstraße“ könnten hier zwar Abhilfe schaffen, Antworten auf die damit einhergehende Klimakatastrophe sind jedoch weiter außer Sicht.
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