Halt mal die Klappe

Hören Was in unsere Ohren dringt, lässt sich kaum kontrollieren. Bei Uber kann man jetzt den Fahrer stummschalten
Ausgabe 28/2019
Halt mal die Klappe

Illustration: der Freitag

Die Lautlos-Taste wurde 1956 von Robert Adler erfunden, einem in Österreich geborenen Ingenieur in Chicago. Sie war einer der vier Knöpfe auf seiner Space Command 400, der ersten kommerziell verfügbaren TV-Fernbedienung. Die anderen drei Tasten – An/Aus, Kanal vor und zurück – mögen wichtiger gewesen sein, doch Adlers Boss, Eugene F. McDonald, ehemaliger Nachrichtenoffizier der US Navy mit dem Spitznamen „Der Commander“, hatte auf der Abschaltfunktion für den Ton bestanden.

„Er hasste Werbung“, erinnerte sich Adler 1987. McDonald fürchtete, die ständigen Unterbrechungen würden das relativ neue Medium des Fernsehens zerstören. Also warb Zenith damit, die Lautlos-Funktion ermögliche es den Zuschauern, „bei ärgerlichen Werbeclips den Ton abzustellen“.

Kürzlich hat nun das Taxiunternehmen Uber damit begonnen, neue Funktionen für Nutzer zu testen, darunter eine, mit der man dem Fahrer das Wort verbieten kann. Quiet preferred – Ruhe bevorzugt – lautet der Euphemismus, den Uber verwendet. Man kann aber auch auf happy to chat – Lust auf eine Unterhaltung – umschalten.

„Aus Sicht des Fahrers ist das unhöflich“, findet ein Uber-Fahrer aus Ost-London. „Und ehrlich gesagt auch beleidigend. Es bedeutet: ‚Halt die Klappe.‘ Das wiederum sagt eine Menge über Uber. Man reagiere damit auf die Sorge der Fahrgäste, die Fahrer könnten sie im firmeneigenen Bewertungssystem negativ beurteilen, wenn sie nicht mit ihnen reden wollten, behauptet das Unternehmen. Auf der anderen Seite hätten Fahrer Angst, ein Gespräch mit den Fahrgästen anzufangen – aus demselben Grund.

Aber wer von uns hat sich nicht auch schon einmal gewünscht, einen nervenden Kollegen, ein schreiendes Baby oder einen überfreundlichen Kellner zum Schweigen bringen zu können? Die Stummschaltung verspricht eine Welt, in der man selbst bestimmen kann, was zu einem vordringt, und in der sich missliebige Meinungen einfach ausblenden lassen.

Twitter hat bereits 2014 eine Lautlos- beziehungsweise Unsichtbar-Funktion eingeführt, die sich umgehend zur beliebtesten des Kurznachrichtendienstes entwickelt hat. Statt jemanden zu „blockieren“, von dem man nichts wissen möchte (was derjenige erfährt), kann man ihn seither diskret auf „stumm“ stellen (wovon er nichts mitbekommt). Reizvoll daran ist der Gedanke, dass Trolle sich die Finger wund schreiben und wundern, warum man nicht reagiert. 2017 legte Twitter dann mit einer Lautlos-Funktion nach, bei der bestimmte Themen ausgeblendet werden können: Wer etwa nichts über den Brexit oder das Champions-League-Finale lesen möchte, muss dies nun nicht mehr.

I <3 Mute Button

Wenn Sie einmal sehen möchten, wie es sich anfühlt, auf Twitter nur noch gut gelaunte Meldungen zu lesen, geben Sie einfach Mute Button in das Suchfeld ein: „Ich möchte meinem Mute Button dafür danken, dass er mich nie im Stich gelassen hat <3“, findet sich dort. Oder: „Der Mute Button gehört zu den 10 mächtigsten Dingen im Universum“; „Ich danke @instagram für die Erstellung seiner Mute Posts und Story Buttons“ und so weiter. Auch Instagram hat im vergangenen Jahr eine Mute-Funktion eingeführt, jetzt kann man sich die nervigen Ibiza-Selfies und Essensgeschichten seiner Freunde vom Leib halten, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen.

Der klinische Psychologe Paul Gilbert, Autor von Living Like Crazy (2019), interpretiert solche Reaktionen mit C. G. Jung: „Wir sind immer mehr auf unser öffentliches Bild fixiert“, sagt er. „Wir spielen den Leuten das vor, was sie sehen und hören wollen. In den sozialen Medien tun wir das die ganze Zeit.“ Für ihn stellt die Lautlos-Funktion von Uber eine willkommene Gelegenheit dar, um zeitweise aus diesen Rollen auszusteigen. „Menschen“, sagt er, „haben sich in kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern entwickelt, in denen sich alle kannten ... Wir sind nicht darauf ausgerichtet, die ganze Zeit mit Fremden zu interagieren. Das ist unglaublich anstrengend. Zumindest im Taxi hat man nun die Möglichkeit, einfach nur dazusitzen und zu schweigen.“

Kann sein. Verwirrend an der Ruhe-Funktion ist aber doch gerade, dass sie jede Möglichkeit der Kommunikation ausschließt und etwas automatisiert, das wir bislang mündlich verhandelt hätten. Auch der Uber-Fahrer weist darauf hin, dass es ihm nicht schwerfällt, zu erraten, wer sich gerne unterhalten würde und wer nicht. „Man fragt: ‚Wie heißt du? Wohin willst du?‘, und die Art der Reaktion zeigt einem deutlich, ob jemand reden möchte oder nicht. Die meisten Leute haben heute ohnehin ihre Kopfhörer im Ohr. Und normalerweise habe auch ich meine Bluetooth-Kopfhörer dabei.“

Er sei häufig auf Telegram, der in Russland entwickelten Messaging-App, die so ähnlich funktioniert wie WhatsApp. „Auf Telegram gibt es Gruppen von ungefähr 200 Fahrern – sie berichten live, was auf den Straßen passiert. Wenn man einen Unfall sieht, kann man ihn der Gruppe melden.“ Außerdem höre er Hörbücher, Vorträge, Radio, Podcasts.

Doch dieser Rückzug in unsere eigenen diskreten Geräusch- und Klangwelten ist eine eigene Form der Stillstellung. Wenn ich mich in dem Büro umblicke, während ich diese Zeilen tippe, hat mindestens die Hälfte meiner Kollegen einen Kopfhörer auf – je jünger sie sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit.

Diese Entwicklungen, sagt Tom Rice, Dozent für Schallanthropologie an der Universität von Exeter, „werden unter dem Begriff ‚Privatisierung des Hörraums‘ zusammengefasst. In Klangstudien wird oft darauf hingewiesen, dass wir zwar über Augen-, nicht aber über Ohrlider verfügen. Wir haben also keine Kontrolle darüber, was an unsere Ohren gelangt und was sich in ihnen ansammelt.“

Zweifelsfrei wird unsere Hörumgebung immer stärker überfrachtet − selbst zu Hause, wo Mikrowellen und Waschmaschinen uns anpiepen und in manchen Fällen sogar mit uns sprechen. Die meisten Leute stellen die Welt aber nicht stumm, weil sie sie überwältigend oder verwirrend finden. „Sie finden sie einfach langweilig“, sagt Rice. „Häufig denken sie, die Geräusche, denen sie ausgesetzt sind, seien es nicht wert, dass man sie wahrnimmt.“ Schließlich ist das Morgenkonzert der Vögel auch nicht mehr das, was es einmal war, und das allgemeine menschliche Geplapper wird vom Lärm von Druckluftschraubern, Lkws und Ed Sheerans Galway Girl übertönt, das aus der Beschallungsanlage des Supermarktes an unsere Ohren dringt.

„Wenn wir die Leute fragen, welche Dinge sie am modernen Leben am meisten stören, rangieren ‚ungewollte Musik oder Geräusche‘ unter den ersten fünf“, sagt der in Montreal lehrende Neurowissenschaftler Daniel Levitin, Autor von The Organised Mind (2015) Das hat viel mit der Art und Weise zu tun, wie unser Gehör funktioniert. „Wenn wir auf etwas schauen, dann scheint es draußen in der Welt zu sein. Geräusche und Klänge fühlen sich für die meisten von uns hingegen so an, als würden sie direkt aus unseren Köpfen kommen. Das macht sie intimer und aufdringlicher.“

Bald kommt der Babelfisch

Mit Kopfhörern, erklärt er weiter, könne man im besten Fall Kontrolle über seine Umgebung erhalten. Als Spotify-Nutzer die Songs teilten, die sie am häufigsten hörten, fiel auf, wie viele Titel die Begriffe „Wellen” oder „Regengeräusch“ enthielten, ein Hinweis darauf, dass viele Hörer einfach nur Ablenkungen vermeiden wollten. „Der schlimmste Fall ist aber“, sagt Levitin, „dass junge Leute Musik hören und glauben, sich dadurch besser konzentrieren und ihre Leistung erhöhen zu können. Es gibt aber sehr viele Studien, die zeigen, dass Musikhören der Konzentration unglaublich abträglich ist.“

Unterdessen können wir immer mehr von dem, was wir nicht hören wollen, tatsächlich ausblenden. Hearables, also drahtlose Ohrhörer, werden im Silicon Valley als die neuen, unmittelbar am Körper getragenen Geräte angepriesen. Amazon, Apple und Google arbeiten längst schon eifrig an In-ear-Technologien. Das Start-up Doppler Labs hat Produkte entwickelt, die versprechen, Hintergrundgeräusche herauszufiltern, die Stimmen bestimmter Sprecher zu verstärken und sogar eine Babel-Fish-Übersetzung in Echtzeit anzubieten.

Wir stellen uns die von virtueller Realität geprägte Zukunft oft so vor, dass unsere Augen als eine Art Schnittstelle fungieren. Diese Funktion könnten aber genauso gut unsere Ohren übernehmen. Wir wären dann in der Lage, Leute, die wir nicht hören wollen, buchstäblich auszublenden.

Doch was würde sonst noch alles stummgeschaltet? „Ein Argument ist“, sagt Rice, „dass dadurch auch die Qualität des öffentlichen Raums und des sozialen Gefüges leidet, wir zu atomisierten Individuen werden.“ Wenn wir die ganze Zeit nur Podcasts oder Musik oder White Noise hörten, entfernten wir uns von der Gesellschaft und nähmen uns die Möglichkeit, mit unseren Mitmenschen zu interagieren, ihnen zu helfen, Erfahrungen zu machen und Freude zu erleben. „Ich habe nichts gegen Kopfhörer, aber ich bin der Ansicht, dass man etwas aus seiner akustischen Umgebung lernen kann, indem man sich auf sie konzentriert.“ So kann man zum Beispiel darauf achten, welche Geräusche einem guttun. „Können Sie fünf Geräusche in ihrer alltäglichen Umgebung nennen, die Sie genießen und die Ihr Leben bereichern? Die Art und Weise, wie die Spüle gluckst; ein Vogelzwitschern; der Wind in den Bäumen … Übungen wie diese regen uns an, über unsere Klangumgebung nachzudenken und darüber, von welchen Geräuschen wir mehr in unserem Leben haben möchten – und welche weniger.“

Richard Godwin schreibt als freier Journalist für den Guardian

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Richard Godwin | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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