Herr Alsouki sucht das Glück

Reportage Weil er seiner Familie ein Leben in Sicherheit bieten will, macht sich Hashem Alsouki auf einen qualvollen Weg von Damaskus über das Mittelmeer bis nach Malmö
Ausgabe 25/2015

In der Dunkelheit auf See kann Hashem Alsouki seine Nachbarinnen nicht sehen, aber er hört sie schreien. Sie schreien seinetwegen. Es sind Afrikanerinnen, vielleicht aus Somalia, vielleicht auch aus einem anderen Land. Hashem liegt über ihnen und sie wollen, dass er verschwindet. Er will das auch, doch er kann nicht weg, auch über ihm liegt jemand und über dem vielleicht noch jemand. Zu Dutzenden sind sie in das kleine Holzboot gezwängt. Versucht einer aufzustehen, geben ihm die Schlepper einen Tritt. Nicht dass das Boot Schlagseite bekommt und kentert.

Es mag 23 Uhr sein, aber Hashem hat das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Am frühen Abend haben er und die anderen sich an einem Strand im Norden Ägyptens in diese Nussschale hineinstopfen lassen. Nun treibt das Boot im Mittelmeer und die Eingezwängten brüllen sich die Seele aus dem Leib.

Menschen aus ganz Afrika und dem Nahen Osten sind an Bord, Palästinenser, Sudanesen, Somalier. Und Syrer wie Hashem. Manche sind seit Jahren unterwegs. Sie wollen nach Schweden, nach Deutschland, irgendwohin, wo sie nach dem Zusammenbruch ihrer Heimatländer ein neues Leben anfangen können. Für diese Hoffnung riskieren sie die grauenhafte Überfahrt. Wenn alles gut geht, erreichen sie in fünf, sechs Tagen die italienische Küste. Im Moment wissen sie aber nicht, ob sie die Nacht überleben werden.

Sie kommen bei einem zweiten, größeren Boot an, dann bei einem dritten, noch größeren. In jedes neue Boot werfen die Schlepper sie wie Kartoffelsäcke. Etwas mehr Platz haben sie nun, aber ihre Kleider sind durchnässt. Sie zittern. Und würgen. Links von Hashem übergibt sich einer, Hashem bekommt alles ab. Und revanchiert sich, indem er sich auf seinen Nachbarn zur Rechten erbricht. Als er den Kopf hebt, sieht er, dass es allen so geht. Jeder hier ist bedeckt von Erbrochenem der Nachbarn. 2.000 Euro pro Kopf haben sie bezahlt, um auf andere Flüchtlinge zu kotzen.

Es ist eine weitere Demütigung auf Hashems langer Reise. Hashem ist ein etwas untersetzter 40-Jähriger mit sanftem Lächeln. Seine grauen Haare lassen ihn älter aussehen, als er ist. Im April 2012 verließ er sein Haus in Damaskus – alles, was davon blieb, ist der Schlüssel in seiner Tasche. Den Rest hat die syrische Armee gesprengt.

Patrick Kingsley ist Ägypten-Korrespondent des Guardian und für seine Auslandsberichterstattung mehrfach ausgezeichnet worden

Übersetzung: Michael Ebmeyer

Nun, drei Jahre später, flieht Hashem schon aus dem dritten Land. Er denkt an seine Kinder – Osama, Mohammed und Milad –, die noch in Ägypten sind. Er riskiert die Reise, damit sie es nicht tun müssen. Damit sie und ihre Mutter Hayam ihm, falls er es bis nach Schweden schafft, legal nachfolgen können. Für sich selbst sieht er keinen Grund mehr, zu hoffen oder zu träumen. „Ich setze mein Leben für etwas Größeres aufs Spiel“, hat er Freunden vor der Abreise gesagt. „Für meine drei Söhne. Und wenn ich es schaffe, vielleicht auch für meine Enkelkinder.“

Besonders denkt er an Osama, seinen ältesten Sohn. Der 15. April ist Osamas Geburtstag, und sein 14. Lebensjahr hat damit begonnen, dass der Vater weinte, sich für seinen Aufbruch entschuldigte und dann loszog. Im Kopf immer der Gedanke, dass er seine Familie vielleicht nie wiedersehen würde.

Auf den Tag genau drei Jahre zuvor fing Hashems Irrfahrt in Syrien an. Auch damals wurde Osamas Geburtstag unterbrochen. Hashem kam gegen 18 Uhr von der Arbeit nach Hause und setzte sich zu seinen Söhnen vor den Fernseher. Hayam, von Beruf Lehrerin, kochte das Abendessen. Hashem wollte beim Bäcker gleich noch den Kuchen für Osama abholen. Da klopfte es an der Tür. Nein, es hämmerte. Damit hatte Hashem nicht gerechnet. Als Angestellter der Wasserwerke war er dafür zuständig, jeden Monat die Rechnungen für die Einwohner von Damaskus und Umgebung auszudrucken. Zu politischen Themen hielt er den Mund.

Doch jetzt spielt das keine Rolle mehr. Die Schergen des Assad-Regimes gehen von Haus zu Haus und holen alle Männer ab. Ob es daran liegt, dass sie Sunniten sind und die Macht in den Händen der Alawiten liegt? Hashem kann nur mutmaßen. Vor der Tür stehen 20 Männer, und sie kommen seinetwegen. Bisher hat der Krieg die Kleinstadt Harran al-Awamid, ein paar Kilometer südlich von Damaskus, verschont. Doch seit ein paar Tagen wachsen die Spannungen. Das Regime hat zwei junge Männer getötet und ihre Leichen an ein Auto gebunden durch die Straßen geschleift. Freunde und Angehörige der Toten haben daraufhin öffentlich protestiert.

Und nun, als Hashem unter den Augen seiner Kinder in einen Transporter gezerrt wird, nimmt das Regime für die Proteste Rache. Ausgiebig. Hashem und seine Nachbarn werden zunächst in ein unterirdisches Geheimgefängnis am Flughafen von Damaskus gebracht und drei Tage später ins Hauptquartier des Flugsicherheitsdienstes. Dort sind hunderte Männer in Zellen unter der Erde zusammengepfercht. Jeden Tag werden vier oder fünf von ihnen in die Folterkammern gezerrt. Unverheiratete Männer werden mit Stromschlägen in die Genitalien gequält. Verheirateten wie Hashem bleibt das erspart, dafür werden sie an den Handgelenken aufgehängt. Hashem Alsouki verbringt zwölf Stunden in dieser Haltung. Andere noch länger, sodass ihnen danach die Hände amputiert werden müssen.

Nach einigen Wochen wird Hashem in eine Art Hangar verlegt, groß genug für mehrere Flugzeuge. Doch es sind so viele Männer dort eingesperrt, dass sie sich nur abwechselnd hinlegen können. Ohne Uhren und Tageslicht geht ihnen jegliches Zeitgefühl verloren. Eines Tages, Monate später, werden die Gefangenen in die Innenstadt gefahren und dort aus den Transportern gestoßen. Sie wissen nicht, dass es Ende Oktober ist, der Tag des Opferfests. Sie kneifen geblendet die Augen zusammen und fragen sich, was für ein Syrien sie nun erwartet. Für Hashem sind die Aussichten trostlos. Während seiner Abwesenheit wurden zwei von Hayams Brüdern am selben Tag von einem Heckenschützen erschossen. Der zweite Bruder, während er versuchte, die Leiche des ersten zu bergen.

Die Familie sucht zunächst Schutz in Hozroma, einem Dorf östlich von Damaskus. Doch nach wenigen Tagen wird Hozroma bombardiert und sie fliehen weiter in ein anderes Dorf. Rings um sie herum versinkt das Land im Chaos. Ihr Haus in Harran al-Awamid fällt dem Plan des Regimes zum Opfer, eine Pufferzone rund um den Flughafen Damaskus zu errichten. Hunderte von Gebäuden werden dafür gesprengt. Hashem und seine Familie sehen in Syrien keine Zukunft mehr. Doch wohin können sie gehen? Der erste Gedanke ist Jordanien, aber sie hören, dass die Zustände in den Flüchtlingslagern dort verheerend sein sollen. Der Libanon kommt ebenfalls in Frage und hat schon eine Million Syrer aufgenommen – doch dort fürchten sie sich vor schiitischen Milizen. Als dritte Option bleibt Ägypten. Im Juni 2013 sind Syrer dort noch willkommen.

Für die Reise brauchen sie Geld, aber es gibt kein Haus mehr, das sie dafür verkaufen könnten. Hayam verkauft ihren Schmuck, alles bis auf den Ehering. Der Erlös reicht nicht für Flugtickets. Aber für einen Bus nach Jordanien und für ein Boot von dort nach Ägypten. Am Mittag des 26. Juni 2013 steht die Familie auf dem Marjeh-Platz im Zentrum von Damaskus. In dem Viertel sind viele Tourismusunternehmen ansässig. Vor dem Krieg haben sie sich um Urlauber gekümmert, nun schaffen sie massenhaft Einheimische außer Landes.

An all das muss Hashem denken, als er im April 2015 zusammen mit hunderten anderen Flüchtlingen an Bord eines überfüllten Boots durch das Mittelmeer treibt. Am Mittag des 20. April ist der Motor verstummt. Einer der Männer, auch er ein Syrer, hält ein Telefon am Ohr – alle anderen schweigen, um zu hören, was er sagt. „Wir sind noch mitten auf See“, ruft er in das Gerät. „Etwa 600 Menschen – 200 Frauen, 100 Kinder. Seit drei Tagen haben wir kein Wasser mehr.“

Die Aktivistin am anderen Ende bleibt ganz ruhig. Nawal Soufi nimmt in Sizilien solche Anrufe mehrmals pro Woche entgegen. Sie hat sich als Kontaktperson für syrische Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, und wenn die Schlepperboote in italienischen Gewässern eintreffen, informiert sie die Küstenwache. „Der Kapitän hat sich aus dem Staub gemacht und uns alleine gelassen“, fährt der Mann am Telefon fort. Das ist eine Lüge, um die Crew vor Strafverfolgung zu schützen, falls das Boot geborgen wird. Am selben Tag, als die Flüchtlinge in Ägypten in See stachen, sind 400 andere südlich von Italien ertrunken. Am Tag davor kamen bei einem der tödlichsten Schiffbrüche in der neuzeitlichen Geschichte des Mittelmeers 800 Menschen ums Leben.

Sackgasse Ägypten

„Bei Gottes großer Güte, wir haben Frauen und Kinder an Bord. Wir wissen nicht, was wir mit ihnen machen sollen.“

Nawal Soufi unterbricht den Mann: „Hören Sie mir bitte jetzt genau zu.“ Die Koordinaten, die ihm die Besatzung genannt hat, soll er vergessen, sagt Soufi, die seien oft falsch. Stattdessen soll er nach dem Gespräch in den Einstellungen des Telefons die GPS-Verortung suchen und sie ihr dann per SMS schicken. Sobald sie die Daten habe, könne sie die Küstenwache rufen. „Und eins noch: Stellen Sie bitte sicher, dass jeder an Bord eine Schwimmweste trägt. Wenn es nicht genug gibt, sollen zwei Passagiere zusammen eine Weste überziehen. Glauben Sie nicht, dass das Meer hier harmlos ist. Selbst bei der Bergung kann man ertrinken.“

Als Hashem mit seiner Familie im Juni 2013 in Ägypten ankommt, rechnet er nicht damit, dass seine Reise noch Jahre weitergehen wird. Im Juni 2013 gilt Ägypten als sicher für Syrer. Doch binnen weniger Tage ändert sich die Lage dramatisch. Die Massenproteste gegen die Regierung von Mohammed Mursi zeigen Wirkung: Am 3. Juli 2013 wird Ägyptens erster frei gewählter Präsident von der Armee aus dem Amt gejagt. Und damit ändert sich über Nacht die Haltung des Staats gegenüber den Syrern. Die Grenzen werden geschlossen, außer für die, die bereits ein Visum haben. Wer bei Polizeikontrollen nicht die richtigen Papiere vorzeigen kann – und das sind viele –, wird festgenommen.

Die neuen Machthaber und die ihnen ergebenen Medien beginnen zu verbreiten, dass die eingereisten Syrer Terroristen oder Mursi-Unterstützer seien. Und so wird Hashem plötzlich vom Lebensmittelhändler an der Ecke bedrängt: „Du schleppst uns hier den IS ein, du bist einer von den Muslimbrüdern – geh gefälligst zurück in dein eigenes Land!“

Das kommt nicht in Frage, also versuchen sie es mit dem Mittelmeer. Am 6. September 2014 gelangt die Familie an einen Strand in Nordägypten, um dort ein Schleuserboot nach Europa zu besteigen. Dutzende von Flüchtlingen waten schon durch die Brandung – auf zwei Dingis zu, die auf den Wellen schaukeln. Hashem, Hayam und die Kinder warten, bis sie dran sind.

Doch dazu kommt es nicht. „Polizei! Polizei!“, schreit jemand. Augenblicke später ist der Strand voller Männer in Uniform, die ihre Pistolen abfeuern. Manche der Flüchtlinge rennen einfach weiter zu den Booten. Hashem und seine Familie bleiben an Land. Sie werden festgenommen. Die nächsten acht Tage verbringen sie in einem Polizeigefängnis. Damit haben sie aber noch Glück gehabt. Das Schleuserboot, das sie nehmen wollten, sinkt auf seiner Fahrt und reißt wohl 500 Menschen in den Tod.

Und trotzdem versucht Hashem nun, acht Monate später, das Gleiche noch einmal. „Wenn du hier als Flüchtling leben musst, probierst du es auch zehn Mal“, sagt er. Er trägt eine Schwimmweste, die ihm ein Freund geschenkt hat. In einem kleinen schwarzen Rucksack hat er einen Pullover, einen Laptop und einen Laib Käse. Seine Papiere und einen Bericht von Human Rights Watch über die Zerstörung seines Heimatorts Harran al-Awamid trägt er in einer wasserdichten Kapsel um den Hals.

Hashem ist allein unterwegs, weil er seiner Familie das Trauma dieser Flucht kein zweites Mal zumuten will. Eine Stunde nach dem Aufbruch aus Ägypten ist er schon durchnässt, mit Erbrochenem bedeckt und zweimal von Boot zu Boot geworfen worden. Und die Nacht scheint kein Ende nehmen zu wollen. Irgendwann, auf dem dritten Boot, bricht dann doch der Morgen an. Die Sonne beginnt die nassen Kleider zu trocknen. Zum ersten Mal können die Flüchtlinge einander anschauen. Sie teilen Pillen und Zitronenscheiben gegen die Seekrankheit. Manche lächeln, beginnen zaghaft Gespräche miteinander.

Vor Sonnenuntergang aber müssen sie erneut das Boot wechseln. Die Schlepper wissen: Das Schiff, das in Italien ankommt, ist für sie verloren. Also muss es ein alter, schrottreifer Kahn sein, auf den sie gut verzichten können. Keiner der Passagiere hat Lust auf diesen Umstieg, aber sich zu beschweren ist sinnlos. Das Schiffsunglück vom vergangenen Jahr, dem Hashems Familie knapp entging, geschah angeblich, weil die Flüchtlinge sich weigerten umzusteigen. Daraufhin ließen die Schlepper beide Boote zusammenprallen, und das volle sank.

Zwei Nächte und Tage sind verstrichen, wieder geht die Sonne unter. „Nur wir, das Meer, die Sonne und sonst nichts“, notiert Hashem in seinem Tagebuch. Und weil es ein besonders schöner Sonnenuntergang ist, holt er sein Telefon hervor, um ihn zu fotografieren. Beim Blick auf das Display fällt ihm etwas Seltsames auf. Die Sonne steht falsch für ihre geplante Reiseroute. Hashem zeigt es den anderen. „Schaut euch die Sonne an. Fahren wir etwa zurück nach Ägypten?“ Die Leute nicken, die Neuigkeit verbreitet sich. Wut flammt auf. So weit sind sie schon gekommen, und jetzt sollen sie umkehren? Der Kapitän erscheint. Seine Bosse wollen noch 30 Menschen an Bord nehmen, erklärt er knapp: „Die sind 60.000 Dollar wert.“

Der Montag bricht an, es ist Tag fünf auf See. Der Ärger ist verraucht. An Hashems Platz auf dem Achterdeck herrscht eine kameradschaftliche Atmosphäre. In seinem Tagebuch notiert er: „Das Schiff wirkt wie eine komplette Gemeinschaft, mit Familien und Alleinstehenden, Jungen und Alten, Weißen und Schwarzen. Eine kleine, gemischte Gemeinschaft, in der alle zusammenhalten.“ Am Mittag wird dem Syrer mit der lautesten Stimme ein Satellitentelefon ausgehändigt. Es folgt der Anruf bei Nawal Soufi, dann wartet das ganze Schiff. Eine Stunde, vielleicht auch drei. Die Besatzung hat die Brücke verlassen und sich unter die Passagiere gemischt. Gleich ist die Reise vorbei, denkt Hashem.

Doch da taucht ein Flugzeug auf, gleitet in geringer Höhe über sie hinweg. Sie werden fotografiert. „Ein griechischer Aufklärungsflieger“, sagt der Kapitän. Kein italienischer? Befinden sie sich in griechischen Gewässern? Die Flüchtlinge sind entsetzt. Keiner von ihnen will nach Griechenland, Griechenland wäre eine Katastrophe: Es bedeutet, dass man, um nach Deutschland zu gelangen, Mazedonien und Serbien durchqueren muss; beides keine EU-Länder,

Die Passagiere beginnen herumzubrüllen. Sie haben für Italien bezahlt, nicht für Griechenland. Sie verlangen, den Motor wieder zu starten. Nichts zu machen, sagt der Kapitän. Die Küstenwache ist informiert, die Würfel sind gefallen. Doch das will niemand hinnehmen, schließlich knickt der Kapitän ein. Er lässt den Motor anwerfen und steuert das Schiff mit höchster Geschwindigkeit auf die italienische Küste zu. Hashem ist so erschöpft, dass er in tiefen Schlaf fällt.

Er wird wachgerüttelt mit der Nachricht, auf die er die ganze Woche gewartet hat: Die Italiener sind da. Er blinzelt über die Reling und erblickt vier große rote Schlauchboote, die das Schiff umkreisen. Jedes von ihnen trägt den Schriftzug Guardia Costiera. Die Flüchtlinge jubeln und singen: „Italia, Italia, Italia!“

Nur nicht auffallen!

Fünf Tage später. Einen Kilometer hinter der französischen Grenze fragt sich Hashem, ob er die Zugtoilette schon verlassen kann. Zehn Minuten zuvor hat er sich dort eingeschlossen, damit ihn die Polizei nicht erwischt. Sind sie noch da? Und werden sie auch die Toilette kontrollieren?

Solche Probleme hatte er nicht eingeplant. Er dachte, der schwerste Teil der Reise sei die Überfahrt und nicht die nachfolgende Odyssee durch Europa. Doch nun findet er sich mit lauter ungeahnten Hürden konfrontiert: Zugfahrpläne, Grenzübertritte, Polizeikontrollen.

Die Polizei ist Hashems größte Sorge. In Menton, dem ersten Bahnhof auf der französischen Seite, ist ein Trupp Gendarmen zugestiegen. Hinter Leuten wie ihm sind sie her, hinter Flüchtlingen, die versuchen, aus Italien auszureisen. Er hat es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette geschafft. Zwei Eritreer im selben Waggon werden verhaftet. Man wird sie zurück nach Mailand bringen, ihnen dort Fingerabdrücke abnehmen. Dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in Italien Asyl zu beantragen. Eben das möchte Hashem vermeiden. Nun, da er Europa erreicht hat, kann er überall

den Asylantrag stellen. Eigentlich müsste er es im ersten EU-Land tun, das er betreten hat. Doch das hieße, er könnte seine Frau und Kinder lang nicht wiedersehen.

Italien und Frankreich sind bekannt für ihre Langsamkeit bei der Familienzusammenführung. Also ist es Hashems Ziel, es zumindest bis nach Deutschland zu schaffen, wo die Behörden schneller arbeiten. Besser noch nach Schweden, wo Syrer unbegrenztes Aufenthaltsrecht genießen. Das ist Hashems größter Wunsch: eine langfristige Zukunft für seine Kinder, an einem Ort, wo sie ohne Angst leben können.

Fürs Erste aber darf er sich in Frankreich nicht erwischen lassen. Wobei: Solange die Gendarmen im Waggon sind, ist nicht einmal gewiss, ob er überhaupt dort ankommt. Er wartet auf der Toilette und grübelt. Sie werden doch nicht alle kontrollieren. Nur die, die ihnen verdächtig vorkommen. Oder? Noch immer steht der Zug im Bahnhof. Die Gendarmen sind jetzt in einem anderen Waggon, beschließt Hashem. Er gibt sich einen Ruck und öffnet das Schloss. Als er aus der Tür tritt, versperrt ihm ein Polizist den Weg.

Noch Tage vorher war er so erleichtert gewesen, Sicherheitskräfte zu sehen. Die italienische Fregatte brauchte fast einen Tag bis zum Hafen von Catania, die Flüchtlinge hörten während der ganzen Zeit nicht auf, ihren Rettern zu danken. Sie blieben wach bis spät in die Nacht und erzählten einander von ihren Plänen – wer nach Schweden wollte, wer nach Deutschland. Die sizilianische Küste erreichten sie am Morgen des 22. April.

36 Stunden später ist Hashem einer von hunderten Migranten, die sich jeden Tag aufs Neue am Bahnhof von Mailand versammeln und überlegen, wie es weitergehen kann. Um nach Schweden zu gelangen, muss er nun noch ganz Europa durchqueren – wie soll er das schaffen? Auf jeden Fall braucht er Geld. Und wenn er mit dem Zug fahren will, muss er die Verbindungen kennen. Aber die Fahrpläne sind wie Hieroglyphen für ihn. „Die Seereise war einfach“, sagt Hashem nur halb im Scherz. „Einmal bis nach Italien und basta. Keine Polizei, keine Bahnhöfe, keine Fingerabdrücke.“

Mit Einbruch der Dunkelheit wird der Mailänder Bahnhof trostlos. Hashem hat seit zehn Nächten nicht mehr richtig geschlafen. Er möchte sich waschen, sich sauber fühlen. Seit anderthalb Wochen trägt er dieselben Kleider. Und eine Schnittwunde an seinem Fuß hat sich entzündet. Um ihn herum werden die wenigen verbleibenden Flüchtlinge immer fiebriger. Einer schlägt seinen Kopf gegen eine Plakatwand. Ein anderer fängt an zu schimpfen: „Man behandelt uns wie Vieh, egal wo wir hinkommen – in Libyen, in Sizilien und jetzt hier!“

Ein paar freiwillige Helfer aus der Stadt bleiben die ganze Nacht bei ihnen. Aber nicht alle Menschen hier zeigen sich so mitfühlend. „Warum helft ihr denen?“, schimpft ein Passant. „Haben wir nicht schon genug arme Schlucker im Land?“

Wie kann Hashems Reise weitergehen? Der Zug ist die erschwinglichste Lösung, aber alles andere als sicher. Von allen Syrern, die an diesem Tag versucht haben, nach Deutschland zu gelangen, sind nur zwei nicht schon an der Grenze zu Österreich geschnappt worden.

Für 750 Euro bis Kopenhagen

Eine andere Möglichkeit wäre, ein Auto zu nehmen. Es sind Telefonnummern von Schleppern im Umlauf, die einen gegen Bezahlung nach Norden fahren. Der Vorteil: keine Grenzkontrollen, keine undurchschaubaren Fahrpläne. Ein Mann aus Malmö sagt, er kann vier Leute direkt nach Schweden bringen. Für 875 Euro pro Person. Für 750 Euro fährt ein anderer nach Kopenhagen. Beides ist viel teurer als der Zug. Und der Mann aus Malmö sitzt eben dort, in Malmö. Die Hälfte des Geldes will er im Voraus. Was, wenn er es einsackt und dann gar nicht nach Italien kommt?

Während Hashem Für und Wider abwägt, lässt ihm sein Schwager Ehsan, der Arzt ist und schon in Schweden lebt, etwas Geld zukommen. In der Warteschlange vor dem Western-Union-Büro trifft Hashem mehrere andere Flüchtlinge wieder, die er auf seiner Reise kennengelernt hat. Jeder, der kann, lässt sich Geld schicken. Gut 500 Euro kriegt Hashem von seinem Schwager.

Er beschließt, es per Bahn zu versuchen – aber nicht über Österreich, sondern über Frankreich. Der 7-Uhr-Zug nach Nizza soll es sein. Auf dieser Strecke, erst durch die Hügel des Piemont, dann immer an der Küste entlang nach Westen, kontrolliere die Gendarmerie nur selten, heißt es.

Der Zug durchquert einen Tunnel nach dem anderen, zwischendurch blickt Hashem manchmal auf Landschaften in Pastelltönen oder auf steile bewaldete Hänge. Oft aber sieht er nichts als Wasser, und der Anblick erfüllt ihn mit Grauen. Das Mittelmeer scheint ihn nicht loszulassen.

In Menton, dem ersten Halt hinter der französischen Grenze, passiert es dann. Hashem tritt zu früh aus der Toilette, der Polizist steht vor ihm im Gang. Was nun? Wenn er sich umdreht und in die andere Richtung geht, macht er sich verdächtig. Und wenn er sich ganz ruhig an dem Polizisten vorbeischiebt? Nicht alle Fahrgäste werden kontrolliert. Und wer nicht zu genau hinsieht, bemerkt vielleicht nicht, wie verschmutzt Hashems Kleidung ist, wie verkrustet sein Kragen – vielleicht könnte man ihn für einen Franzosen halten. Langsam geht er weiter. Der Gendarm blickt auf, Hashem nickt ihm zu. Der Gendarm blinzelt und lässt ihn durch.

Für diesmal ist er also davongekommen. Aber er hat Angst. Als der Zug um kurz vor zwölf in Nizza eintrifft, schwirrt ihm der Kopf. Wenn es an jeder Grenze wieder so geht, wie soll er es je bis Schweden schaffen? Vielleicht wird es das Beste sein, nur bis Calais zu fahren und dort zu probieren, ob er sich in einen Lastwagen einschmuggeln kann, der nach Großbritannien unterwegs ist.

Zu allem Überfluss sind für die nächsten sechs Stunden sämtliche Züge nach Paris ausgebucht. Also muss Hashem in Nizza den Nachmittag totschlagen, in ständiger Furcht, dass die Polizei ihn doch noch aufgreift. Schon der Fahrkartenkauf am Automaten zermürbt ihn. Er versteht die Maschine nicht, ein ums andere Mal muss er seine Buchung annullieren und von vorn anfangen. Die Wartenden hinter ihm werden immer ungehaltener.

Irgendwann hat er es geschafft und humpelt den Nachmittag über durch die Stadt. Er verschnauft in einer Kirche, in einem Park, auf einer Fußgängerbank. Bei Einbruch der Dämmerung ist er wieder am Bahnhof. Er kommt auf die Idee, zur Tarnung eine französische Zeitung zu kaufen. Er nimmt Le Monde. Und der Trick funktioniert, am Bahnsteig grüßt ihn der Fahrkartenkontrolleur auf Französisch. Hashem nickt unbeholfen und beeilt sich, auf seinen Platz im Waggon zu kommen. Er klappt den Sitz nach hinten und ist voll Bewunderung für die französischen Nachtzüge: Fast ganz flach legen lässt sich die Lehne. Vor Anspannung tut er trotzdem die ganze Zeit kein Auge zu. Er kann an nichts anderes denken als an die deutsche Grenze.

Schließlich dämmert der Morgen über der flachen Landschaft südlich von Paris und wenig später, fast zwölf Stunden nach der Abfahrt in Nizza, kommt der Zug am Bahnhof Austerlitz an. Es ist Montag, der 27. April, Tag zwölf nach dem Aufbruch aus Ägypten. Eine kurze Metrofahrt hinüber zum Bahnhof Gare de l’Est, und Hashem ist nur noch eine weitere Zugreise von Deutschland entfernt.

Die Angst vor jeder Grenze

Wenn nun alles gut geht, könnte er am Morgen danach in Schweden sein. In Paris kauft er eine Fahrkarte nach Hamburg, mit Umstieg in Frankfurt am Main. Von Hamburg aus will er nach Kopenhagen weiterreisen, und von Kopenhagen aus kann man über die Øresund-Brücke in einer halben Stunde nach Schweden gelangen.

Um kurz nach neun fährt der Zug nach Frankfurt ab. Zwei Stunden und zwanzig Minuten bis zur Grenze. Wieder steigt die Angst in Hashem auf. Er hat nicht vor, in Deutschland zu bleiben, aber wenn er es zumindest bis dorthin schafft, wird er nach einiger Zeit seine Familie wiedersehen können. Und das ist ihm das Wichtigste.

Hayam schreibt ihm per SMS: „Wo bist du?“ Er antwortet nicht. Noch nicht. Er glaubt, das könnte Unglück bringen. Auf dem Tisch vor seinem Platz liegt ein Exemplar der Zeitschrift Charlie Hebdo. Der Titelcartoon zeigt Kate Winslet in einem Boot voller Migranten. „Un Titanic par semaine“, steht dabei: „Jede Woche eine Titanic“. Den Witz versteht Hashem nicht, trotzdem lächelt er. Es geht um Flüchtlinge wie ihn.

Um 11.30 Uhr passiert der Zug die deutsche Grenze. Hashem hat sich wieder für Sichtbarkeit als Tarnung entschieden. Er trägt Kopfhörer in den Ohren und vertieft sich in die Süddeutsche Zeitung, die er in Paris am Bahnhof gekauft hat. Kein Wort darin versteht er. Als der Zug eine Flussbrücke in üppig grüner Landschaft überquert, entfährt ihm ein Ausruf: „Manzar gameel!“ – „Was für ein schöner Anblick!“ Er hat viel zu laut gesprochen, wegen der Musik in seinen Ohren. Mehrere Leute drehen sich nach ihm um. Der Zug fährt in den Bahnhof Saarbrücken ein.

Eine alte Frau kommt heran und bittet jemanden, den Sitzplatz mit ihr zu tauschen. Dann ein Mann mit schütterem Haar und wucherndem Bart. So weit, so normal. Aber wo sind die Grenzwächter? Noch draußen auf dem Bahnsteig? Von seinem Platz aus, den Kopf hinter der Zeitung, kann Hashem sie nicht sehen. Zäh verstreichen die Minuten. Und endlich setzt der Zug sich wieder in Bewegung. Die Durchsagen kommen nun zuerst auf Deutsch, dann auf Französisch. Hashem faltet die Zeitung zusammen. Er ist in Deutschland. Bleiben nur noch zwei Grenzen.

Bei Sonnenuntergang kommt er in Flensburg an. Der Zug nach Fredericia in Dänemark wartet am Bahnsteig gegenüber. Hashem sucht sich den Platz, der am weitesten von der Tür entfernt ist. Die Sprache der Durchsagen wechselt auf Dänisch. Diesmal versteckt er sich hinter dem pinkfarbenen Cover von Ud & Se, dem Magazin der dänischen Bahn. In fünf Minuten wird er in Padborg sein, der ersten Station hinter der vorletzten Grenze. Zwei Uniformierte treten in den Waggon. Hashem ist auf alles gefasst. Er schließt die Augen, hört, wie einer der beiden auf ihn zukommt. Die Schlüssel am Gürtel des Mannes rasseln lauter und lauter, schließlich bleibt er neben Hashem stehen. Hashem blinzelt. Es ist nur der Fahrkartenkontrolleur.

Dienstagnacht um ein Uhr steigt Hashem in Kopenhagen aus dem Zug. Nun ist sein Ziel nur noch eine halbe Stunde entfernt. Aber auch für dieses letzte Stück der Reise braucht er wieder ein Ticket. Und das ist schwieriger als gedacht. Der erste Automat verlangt eine Kreditkarte, und so etwas haben Flüchtlinge nur selten. Der nächste Automat nimmt Bargeld, doch Hashem merkt, dass er sich nun außerhalb der Eurozone befindet. Er hat keine dänischen Kronen. Und die Wechselstuben am Bahnhof sind mitten in der Nacht nicht offen.

Hashem humpelt hinaus auf die menschenleeren Straßen. Nach einer Weile findet er einen Spätkauf. Nehmen sie dort Euro? Ja, aber nur Zehnerscheine. Das reicht nicht. Die Karte nach Schweden kostet umgerechnet 19 Euro. Hashem muss mit einem Zwanziger bezahlen und so viel Rückgeld wie möglich bekommen. Der Verkäufer hat Erbarmen und lässt ihn eine winzige Packung Kaugummi kaufen.

Schließlich hat Hashem sein Ticket nach Schweden. Nach drei Jahren voller Gewalt und Erniedrigungen. Und zuletzt nach einer zweiwöchigen Reise über Meer und Land, auf der er Gefängnis, Hunger und Tod riskiert hat. Der Zug gleitet langsam ostwärts, hält noch in Ørestad und Tǻrnby, zwei Vororten von Kopenhagen. Trotz der späten Stunde steigen Leute ein und aus. Jeder davon könnte ein Grenzpolizist sein, denkt Hashem. Der Zug erreicht den Flughafen Kopenhagen, letzter Halt vor Schweden. Nun liegt nur noch der Øresund zwischen ihm und dem gelobten Land. Nervös knetet Hashem seine Handflächen.

Der Zug fährt auf die Øresund-Brücke. Draußen ist es so finster, als wären sie in einem Tunnel. In der Ferne schimmern die Lichter der fünften und letzten Grenze, die Hashem in diesen 14 Tagen überqueren will. Sie kommen näher und näher. Bis sie auf einer Höhe mit dem Zugfenster sind. Hat er es geschafft? Er kann es nicht glauben, er muss die Menschen um sich herum fragen. „Sind wir in Schweden?“, flüstert Hashem. Als er die Bestätigung erhält, strahlt er plötzlich übers ganze Gesicht.

Als er in Malmö aussteigt, ruft er als Erstes Hayam an, die weit weg in Ägypten ist: „Hallo“, sagt er. „Ich bin angekommen.“

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Geschrieben von

Patrick Kingsley | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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