Hausgemachter Impfstoffstreit

EU/AstraZeneca Die Union versucht, dem Hersteller den Schwarzen Peter zuzuschieben. Dabei dürfte sie alles andere als unschuldig an der Misere sein
In einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica teilte Unternehmenschef Pascal Soriot der EU mehr oder weniger mit, dass sie sich beruhigen solle
In einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica teilte Unternehmenschef Pascal Soriot der EU mehr oder weniger mit, dass sie sich beruhigen solle

Foto: Lisa Maree Williams/Getty Images

Vergangenes Jahr wurde AstraZeneca für seine bahnbrechende Impfstoff-Entdeckung gefeiert. Heute ist der britisch-schwedische Pharmakonzern in einen Streit mit der Europäischen Union verwickelt. Es geht um die Behauptung, dass das Unternehmen Impfstofflieferungen für die EU-Staaten zurückhält, während Vorräte an Großbritannien und andere Länder verteilt werden. Aber kann man AstraZeneca für die stockenden Auslieferungen des Impfstoffs innerhalb der EU, die damit aktuell weit hinter Großbritannien, den USA und anderen Staaten liegt, verantwortlich machen?

Zuverlässig verbreitet sich der Ärger über das langsame Impfen in der EU. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass gerade einmal 2,1 Prozent der Menschen innerhalb der Union eine Impfung erhalten haben. Zum Vergleich: In Großbritannien sind es 10,8 Prozent. Das Ziel, bis zum Sommer mindestens 70 Prozent der EU-Bevölkerung zu impfen, liegt in weiter Ferne – bei der aktuellen Geschwindigkeit würde die Staatengemeinschaft gerade einmal 15 Prozent bis Ende September erreichen.

Auf dem Papier hat die EU weit mehr Impfdosen besorgt, als sie braucht. Die Europäische Kommission hat sich ein Portfolio von mehr als 2,3 Milliarden Dosen gesichert, ein Fünffaches der 450 Millionen Menschen, die in der EU leben. Sie hat Verträge mit fünf verschiedenen Impfstoffherstellern: nicht nur AstraZeneca, sondern auch Pfizer/BioNTech, Moderna, Johnson & Johnson sowie CureVac. Sie hat auch Sondierungen mit Novavax und Valneva abgeschlossen.

Die Kommission verhandelte über die Verträge im Namen der EU, um das hässliche Gerangel zu verhindern, das vergangenes Jahr aufkam, als die Nationalstaaten sich um Schutzausrüstung und medizinisches Gerät stritten. Die Idee einer zentralisiert geregelten Auftragsvergabe sollte nicht nur einen fairen Deal für alle sicherstellen, sondern auch die Verhandlungsmacht der 27 Einzelstaaten erhöhen.

Niedrigere Preise auf Kosten der Geschwindigkeit

Aber der EU-Ansatz hatte einen Haken. Die Kommission, die sich zum ersten Mal überhaupt in Verhandlungen um lebenswichtige Medizin befand, war der Auffassung, dass die Länder ein vernünftiges Preis-Leistungs-Verhältnis einfordern könnten. Also zog sie die Gespräche in die Länge, um bessere Preise und Produktgarantien erzielen zu können. In diesem Fall bedeutete das: Sie unterschrieb Verträge mit AstraZeneca im August, drei Monate nachdem Großbritannien bereits unterschrieben hatte.

Der gemeinsame Ansatz der EU mag niedrigere Preise und Garantien zur Folge gehabt haben, aber das ging auf Kosten der Geschwindigkeit. In diesem kritischen Moment kann die EU nur noch zuschauen, wie Großbritannien – das den vollen Preis bezahlt hat – von seiner frühen Auftragsvergabe profitiert.

Der Zulassungsprozess zog sich ebenfalls hin. In Besorgnis darüber, dass eine Impfskepsis die Ausführung erschweren könnte, bestanden die Kommission und mehrere Regierungen darauf, dass die in Amsterdam sitzende Europäische Arzneimittelagentur (EMA) ihre unerlässliche behördliche Gründlichkeit nicht einschränkt. Das bedeutete allerdings, dass der erste von der EU abgesegnete Impfstoff – von Pfizer/BioNTech – erst am 27. Dezember angeboten werden konnte, 16 Tage nachdem er in Großbritannien bereits zum Einsatz kam.

Der AstraZeneca-Impfstoff muss noch von der EMA zugelassen werden (das soll am Freitag passieren), aber das Unternehmen hat bereits mitgeteilt, dass es bei der Produktion in den in der EU gelegenen Betrieben hakt. Folglich werden nur etwa 40 Prozent, also nur 31 Millionen der 80 Millionen versprochenen Impfdosen, im ersten Quartal an die EU geliefert. Dieser schockierende Rückschlag hat die Amtsträger in Brüssel und die EU-Mitgliedsstaaten aufgebracht. Sie hatten insgesamt 400 Millionen Impfdosen bestellt.

Brexit-gefärbter Furor

Der Streit um den Impfstoff ist, fast unvermeidlich, mit Brexit-gefärbtem Furor aufgeladen. Der Fakt, dass AstraZeneca – mit seinem Hauptquartier in Cambridge – den britischen Markt zu bevorzugen scheint, wird von Brüssel als unzulässige Wettbewerbsverzerrung aufgefasst. Die britischen Minister kontern, der EU-Austritt habe ihnen die Freiheit zur schnelleren Impfstoffsicherung gegeben. Sowohl die EU als auch Großbritannien bezichtigen sich nun gegenseitig des Protektionismus‘ und des Impfnationalismus‘.

Dann wiederum: Mit einem Verhalten, das Brüssel als Indifferenz betrachtet, hat AstraZeneca nicht gerade zur Besserung dieses Zustandes beigetragen. In einem Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica teilte Unternehmenschef Pascal Soriot der EU mehr oder weniger mit, dass sie sich beruhigen solle. Soriot meinte, sein Unternehmen hätte lediglich der Auftragserfüllung nach „bestem Kräften“ zugestimmt. Er fügte hinzu, dass die Verzögerungen mit Anfangsschwierigkeiten bei den Produktionsstätten in der EU zu tun hätten. „Das ist leider großes Pech“, sagte er.

Darüber hinaus gibt es Streit über den genauen Inhalt der Verträge. Soriot sagte, das britische Abkommen priorisiere die aus den britischen Produktionsstätten stammenden Vorräte, während die EU-Offiziellen mitteilen, dass sie an keinen speziellen Betrieb gebunden seien. Um das zu prüfen, forderte die Kommission AstraZeneca auf, den Impfstoffvertrag zu veröffentlichen, was zur Zeit von einer Geheimhaltungsklausel verhindert wird.

Die EU hat Drohungen bezüglich der Verzögerungen formuliert. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, die EU „meint es ernst“, wenn es um ihren Anteil an den Impfstoffen geht. Die Kommission ist nun bestrebt, Exportkontrollen für Impfstoffe einzurichten. Sie besteht darauf, dass Hersteller mit Betrieben innerhalb der EU die Behörden über jedwede Lieferung außerhalb der Staatengemeinschaft informieren. „Welche Dosen wurden hergestellt, wann und an wen wurden sie geliefert?“, fragte Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit in der Kommission von der Leyens. Offizielle Stellen haben Andeutungen, sie könnten Exporte blockieren, mit dem Hinweis gedämpft, der „Transparenzmechanismus“ solle sicherstellen, dass die Hersteller ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der EU erfüllen.

Der eindringliche Versuch wird von EU-Staaten unterstützt. So rief Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag zur „fairen“ Verteilung der Impfdosen auf. Die italienische Regierung will gegen AstraZeneca gar vor Gericht ziehen, um sicherzustellen, dass das Unternehmen seine Verträge einhält.

Bei allem Schäumen der EU könnte der Durchbruch am Ende von den Verträgen selbst verhindert werden. Während die Kommission ihre Vorverkaufsverträge nicht veröffentlicht, geht aus teilweise redigierten Einzelheiten des Abkommens mit CureVac hervor, dass „die Lieferzeitpunkte in diesem Vorverkaufsvertrag die bestmögliche Schätzung des Auftragnehmers darstellen und Gegenstand von Veränderung sein können“. Weiter heißt es: „Die Vertragsparteien erkennen an, dass es ein Risiko gibt, dass sich (…) der Zeitplan für eine erhöhte Produktion des Stoffes hinauszögern könnte.“

Gute Nachrichten erreichten die EU, als der französische Pharmakonzern Sanofi mitteilte, dass er mithelfen will, 125 Millionen Impfdosen von Pfizer/BioNTech ab Juli zu liefern, um die enorme Nachfrage zu decken. Ein schwacher Trost. Währenddessen wartet die EU auf den Rest ihrer Impfstoffe.

Leo Cendrowicz ist Journalist in Brüssel und schreibt seit mehr als zwei Jahrzehnten über Europa

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Konstantin Nowotny
Geschrieben von

Leo Cendrowicz | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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