Heiliger Krieg am Rauchenden Berg

Jemen Der Huthi-Aufstand im Nordjemen ruft die saudische ­Armee auf den Plan. Ein ­lokaler wird zum regionalen Konflikt, an dem auch der Iran beteiligt sein könnte

Die Augenlider immer noch geschwollen vom Staub auf drei Tagen Flucht steht Nasser Mohammed mit seiner Familie zwischen Plastikkübeln und weißen Laken. Sie gehören denen, die ebenfalls hier im Camp ein Refugium suchen. Kinder und Alte versammeln sich um das Zelt, um Mohammeds Geschichte zu hören. Er spricht langsam und erzählt, er sei mit seiner Familie aus einem 60 Meilen entfernten Dorf im bergigen Buschland des jemenitischen Nordwestens geflohen, die Warnungen der saudischen Behörden seien unmissverständlich gewesen: „Verlassen Sie Ihre Häuser, wenn Sie überleben wollen“, habe man sie per Lautsprecher von der anderen Seite der Grenze – der saudischen – aufgefordert.

Der 35 Jahre alte Mohammed, der sich bisher mit dem Schmuggel von Lebensmitteln nach Saudi-Arabien für zwei Dollar pro Tag seinen Lebensunterhalt mehr improvisiert verdient als erarbeitet, berichtet weiter: „Wir hörten den Lärm von Flugzeugen und schweren Beschuss. Die Saudis bombardierten die Stellungen der Huthi-Rebellen und unser Dorf wurde getroffen.“ Deshalb findet er sich nun mit seiner Frau und sechs Kindern in einem überfüllten Flüchtlingslager wieder, die Familie zählt zu den Opfern eines vergessenen Konflikts im Nahen Osten. Hintergrund der Kämpfe, die sie aus ihrer Heimat vertrieben haben, ist ein anhaltender Konflikt zwischen der jemenitischen Regierung und einer aufständischen Guerilla im Norden. Und die Gefahr nimmt zu, dass aus dieser Konfrontation ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien – der sunnitischen Hausmacht in der Region – und dem Iran – dem großen schiitischen Rivalen – werden könnte.

Durch steil aufragende Berge mit abgelegenen Gebieten reichlich ausgestattet, ist der Jemen nach wie vor eine Stammesgesellschaft – überdies extrem arm und mindestens so schwer regierbar wie Afghanistan, wo Stammesführer und Clan-Milizen in der Regel mehr zu sagen haben als die Zentralregierung. Seit fünf Jahren proben nun schon Kämpfer des mächtigen Huthi-Clans den Aufstand gegen die Regierung in Sanaa, die sie der religiösen und ökonomischen Apartheid beschuldigen.

Eingegraben in Tunnel und Bastionen der nordjemenitischen Bergwelt, haben bis zu 10.000 Huthi-Rebellen bislang einen effektiven Guerillakrieg geführt und Jemens rückständige Armee mit Raketen, Maschinengewehren und verminten Straßen nicht nur einmal aufgerieben. Tausende zivile Opfer sind zu beklagen, 175.000 Vertriebene zu versorgen, ganze Landstriche verloren – eine ernsthafte Herausforderung für den seit 30 Jahren herrschenden Präsidenten Ali Abdullah Saleh.

Seit Anfang November gerät auch die Militärmacht von Jemens ölreichem, von den USA unterstützten Nachbarn immer tiefer in diesen Konflikt. Die Behörden in Riad werfen den Huthi vor, einen saudischen Grenzposten getötet zu haben. Sie seien außerdem auf die andere Seite des Berges gewechselt, der den allzu passenden Namen Jebel Dukhan – Rauchender Berg – trägt. Die Saudis sind derart brüskierte, dass sie eine „Todeszone“ eingerichtet haben, in der Stellungen gnadenlos mit Artilleriegeschossen zerpflügt werden. Der erste Krieg, in den Saudi-Arabien seit der alliierten Operation Wüstensturm gegen den Irak im Jahr 1991 verwickelt ist.

Nur noch Haut und Knochen

Mohammed und seine Familie gerieten mitten in diesen Beschuss. „Ich dachte jedes Mal, ich falle vor Angst in Ohnmacht, wenn ich die Flugzeuge hörte“, sagt seine Frau Raira. „Ich hatte solche Angst, meine Kinder könnten getötet werden.“ Und Mohammed erzählt, die Huthi-Milizionäre hätten gedroht, ihn und die anderen Dorfbewohner umzubringen, würden sie ihnen nicht folgen.

Zu Fuß, auf dem Rücken eines Esels, schließlich mit einem Pick-up gelangte die Familie in das von der UNO unterhaltene Lager im Süden, in Mazrak. „Die Tour war furchtbar. Wir hatten drei Tage lang nichts Richtiges zu essen. Die Kinder waren müde, hungrig, immer noch verängstigt“, erzählt Raira.

Seit der Krieg eskaliert, wurden schätzungsweise 25.000 Menschen vertrieben – das überfordert die Kapazität des Flüchtlingslagers gewaltig. Raira und ihre Kinder teilen sich mit anderen Flüchtlingen ein Zelt gleich am Eingang zum Camp, Nasser schläft wie viele andere Männer außerhalb des Lagers. In Mazrak soll noch ein zweites Camp für bis zu 1.000 Personen errichtet werden, doch die meisten Vertriebenen kommen gar nicht erst hierher, sie sind über weite Gebiete im Nordjemen verstreut, wo sie Schutz und Nahrung bei der Landbevölkerung suchen. Die meisten Flüchtlinge in Mazrak sind unter 18, in über 1.000 Fällen leiden sie an massiver Unterernährung. Nach UN-Angaben sterben deshalb im Jemen täglich an die 250 Kinder, das Bild im Lager bei Mazrak ist das einer Hungersnot. Der sechsjährige Faris al-Thawebi, an Armen und Beinen nur noch Haut und Knochen, schreit vor Schmerzen, als ein UNICEF-Arzt ihn untersucht. Auch drei Monate nach der Ankunft im Lager ist der Junge wie auch seine dreijährige Schwester immer noch ernsthaft unterernährt. „Sie sind seit ihrer Geburt krank. Ich habe kein Geld, kann weder lesen noch schreiben. Ich weiß nicht einmal, wie alt ich bin“, sagt Faris‘ Vater Ali Mohsen, als er gefragt wird, warum es seinen Kindern so schlecht geht. „Hunger heißt die lautlose Katastrophe im Jemen, aber keiner spricht darüber“, sagt UNICEF-Sprecher Naseem ur Rahman.

Krieg um seiner selbst willen

Pläne für eine 20 Kilometer lange Trasse, um dringend benötigtes Wasser in das Lager zu leiten, sind ein Indiz dafür, dass die Vereinten Nationen mit keinem baldigen Ende des Lager-Daseins rechnen. Das kann man auch von dem Konflikt sagen, der nun eine regionale Dynamik bekommen hat, nachdem er in den sechziger Jahren als lokale Auseinandersetzung begonnen hatte.

Die Huthi gehören zur Sekte der Zaiditen, einem Ableger des schiitischen Islam. Zaiditen machen Schätzungen zufolge etwa 30 Prozent der 25 Millionen Jemeniten aus, deren Mehrheit sich aus Schafiiten rekrutiert, die eine der vier traditionellen Schulen des sunnitischen Islam repräsentiert. Westliche Kommentatoren haben den Huthi-Aufruhr deshalb oft als Ausläufer eines weiteren nahöstlichen Konflikts zwischen sunnitischen und schiitischen Moslems gedeutet. Als ob eine sunnitisch gefärbte jemenitische Exekutive den Aufstand einer schiitischen Minderheit bekämpfe.

Die religiösen Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten sind im Jemen allerdings nicht so ausgeprägt wie anderswo in der Region. Was ihre Gebräuche angeht, sind Schafiiten und Zaiditen überraschend nah beieinander. Zaiditen pflegen Praktiken, die der religiösen Doktrin der Sunniten eher verwandt sind als Bräuche, wie sie bei Schiiten im Iran oder Irak üblich sind. Wichtiger ist: Viele Zaiditen glauben nicht, dass die Huthi ihre Identität vertreten.

Mohammed Dahiry, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Sanaa argumentiert, der Aufstand der Huthi habe seinen Quell in dem Glauben, sie müssten als direkte Nachfahren des Propheten Mohammed, die Herrschaft zaidistischer Imame im Jemen restaurieren. Die Priester hatten ihre Macht mit der Gründung der Arabischen Republik Jemen durch die Revolution von 1962 verloren. „Präsident Saleh, selbst ein Zaidit, kommt aus der Arbeiterklasse“, sagt Dahiry. „Die Huthi behaupten, sie könnten den Jemen besser regieren. Kontakte mit Teheran bestreiten sie.“ Die jemenitische Armee glaubt währenddessen an einen Sieg, räumt aber zugleich ein, der Huthi-Aufstand werde schwer niederzuschlagen sein.

„Wir ziehen die Schlinge immer enger, sie sind umzingelt“, sagt Armeesprecher Askar Zuail. Für die Regierung in Sanaa steht viel auf dem Spiel, denn im Süden machen sich erneut Separatisten bemerkbar, im Osten gilt Gleiches für al Qaida. Wenn es nicht gelinge, die Huthi zu besiegen, könnte dies andere militante Gruppen ermutigen, die Autorität des Präsidenten und jemenitischen Staates herauszufordern.

Mittlerweile folgt das Geschehen im Norden bereits seiner eigenen Logik. Schmuggler verbuchen enorme Gewinne damit, Lebensmittel und Waffen über die einzige noch offene Straße nach Saada-Stadt zu schleusen, wie der Journalist Nabil al-Soufi erzählt. „Dieser Krieg wird jetzt um seiner selbst willen geführt. Der Krieg, den die Huthi wollen, wird nicht kommen, und der Krieg, den die Regierung will, wird nicht aufhören.“

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Hugh Macleod, The Guardian | The Guardian

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