Heiliger William

Porträt Bill Murray verkörpert auch in „St. Vincent“ den griesgrämigen Mann mit grundgutem Herzen, die Verehrung der Fans ist ihm sicher. Ein Treffen mit dem US-Schauspieler
Ausgabe 02/2015
Bill Murray: „Kirchenmusik wirkt so stark aufs Gehirn“
Bill Murray: „Kirchenmusik wirkt so stark aufs Gehirn“

Foto: Vera Anderson/Wireimage/Getty Images

Auf dem Weg zu Bill Murrays Hotel in Toronto trete ich immer wieder auf sein Gesicht. Hier auf eines seiner Ohren, da auf sein Kinn. Lauter Murray-Masken aus Pappe, in feuchte Fetzen gerissen, verwandeln die Straße in ein Meer des reumütigen Lächelns. Sie zeugen von der Menschenmenge, die hier zwei Tage zuvor den „Bill Murray Day“ gefeiert hat, mit zwölf Stunden Filmvorführungen, einem Kostümwettbewerb und einer Pressekonferenz mit dem Meister selbst. Über einen von Hagel und Regenschauern vollgesogenen roten Teppich war Murray zur Premiere seines neuen Films St. Vincent gestapft, und als er beim Abspann unter tosendem Applaus die Bühne betrat, trug er eine Plastikkrone und eine Schärpe, wie man sie von Schönheitsköniginnen kennt. Sein Anzug triefte da immer noch.

Für Bill Murray ist, logisch, jeder Tag ein „Bill Murray Day“. Und täglich grüßt das Murmeltier – und täglich wird es wie ein Gott behandelt. Theodore Melfi, der Regisseur von St. Vincent, erzählt mir, wie sich am Flughafen von Atlanta eine Fremde auf Murray stürzte, um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte. „Ich liebe Sie auch“, habe Murray erwidert und die Frau auf den Mund geküsst. Sie sei ganz selig gewesen. So wie der New Yorker Kellner, der stets den 50-Dollar-Schein bei sich trägt, den Murray ihm einst gab, damit er sich an einer Schauspielschule einschreiben konnte. Jede Bill-Murray-Erscheinung – ja, es kommt vor, dass er einen Junggesellenabschied entert oder eine Karaokeparty aufmischt – gilt als neuer Beweis für seine Göttlichkeit. Wenn Gott einer von uns wäre, so die Logik seiner Fans, dann wäre er Bill Murray.

Die Göttlichkeit des Normalen

Entsprechend heilig sind die Audienzen, die er offiziell gewährt. Mir werden zehn Minuten in Aussicht gestellt, die ich auf 15 hochbetteln und schließlich, durch würdeloses Flehen bei seiner Pressesprecherin, auf 20 ausdehnen kann. Abseits von Promoterminen, wenn es also nicht um die Vermarktung eines aktuellen Films geht, ist er völlig unerreichbar. Keinen Agenten, keinen Manager, keine Kontakt-E-Mail-Adresse gibt es. Nur eine geheime Telefonnummer, unter der man angeblich eine Nachricht hinterlassen kann. Ich bitte Melfi, sie mir zu verraten. Er lacht nur.

Je länger ich im Hotel auf Murray warte, auf dem Gang in einer menschenleeren Etage, desto feierlicher wird mir zumute. Nach einer Weile erscheint ein Wachmann. „Ihr Paket ist da“, sagt er und verschwindet wieder. Dann kommt Murray um die Ecke geschlendert. „Sie sehen bezaubernd aus“, begrüßt er mich. „Und Sie riechen gut.“

Er trägt blaues Leinen und ist sehr groß. Sein silbernes Haar ist blond an den Spitzen, sodass er, wenn er klebrig genug grinst, an das Sonnenbaby bei den Teletubbies erinnert. In dem Raum, den man uns zuweist, steht eine Colaflasche, ich helfe ihm, das Etikett zu entziffern – denn Murray trinkt nur mexikanische Cola, weil die noch mit echtem Rohrzucker statt mit Maissirup gesüßt sei. Vier hart gekochte Eier und eine Portion Bratkartoffeln werden für ihn hereingebracht. Er rührt das Essen nicht an.

Von den 20 Minuten sind schon jetzt nur noch 15 übrig. Wie ihm der „Bill Murray Day“ gefiel? „Ich dachte, es würde furchtbar peinlich werden. Aber anscheinend fanden die Leute es dann ebenso lustig wie ich. Es war wie ein Geburtstag mit Riesentorte und Feuerwerk.“ Er grübelt kurz. „Es war ein guter Tag.“

Warum hegen die Menschen überhaupt so eine große Faszination für Schauspieler? Vielleicht, weil sie Wunder zu vollbringen scheinen? „Genau!“, sagt er. „Auch ich frage mich immer, wie schaffen die das? Wie können sie da oben auf der Leinwand ein Superheld sein und dann einfach eine Straße entlanglaufen, in ein Geschäft gehen, Auto fahren, ein Gespräch führen? Die Leute denken: ,Ich wäre so gern mal Superman oder der Typ, der immer lustig ist und nie eins drauf kriegt.‘ Nach dieser Art Freiheit sehnen wir uns wohl alle.“

In St. Vincent gibt er wieder einmal einen Helden im typischen Murray-Zuschnitt: einen liebenswerten Grantler, einen Griesgram mit goldenem Herzen. Sein Vincent ist ein Trinker, der auf Pferde wettet und eine russische Prostituierte (Naomi Watts) geschwängert hat. Besonders fies behandelt er seine neue Nachbarin, eine alleinerziehende Mutter (Melissa McCarthy). Aber dann springt er doch als Babysitter für den Sohn der Nachbarin ein – und wir sehen und wissen es wieder: Im Grunde ist dieser grummelige Mensch ein ganz toller Typ.

Der Film versammelt Bill Murrays Greatest Hits, seine besten Tricks und Maschen. Er singt auf schleimige Art, tanzt lustig, klopft absurde Sprüche und rollt immer wieder mit den Augen. Ein ehrwürdiger Clown, der in seinen sprödesten Momenten besonders gefühlvoll rüberkommt. Melfi hatte erst Jack Nicholson für die Rolle umworben. Aber Nicholson lehnte ab. Umso interessierter zeigte Murray sich an dem Part – vorausgesetzt, das Drehbuch werde ihm auf den Leib geschneidert.

Und so nimmt die emotionale Reise von Vincent einen ähnlichen Verlauf wie die Storys, die Bill Murrays Figuren in Und täglich grüßt das Murmeltier, Ghostbusters, Broken Flowers und Lost in Translation durchlaufen haben: Der Griesgram wird über kurz oder lang besänftigt und gezähmt und findet sein Heil letztlich in einem konventionellen Rahmen. „Vincent muss erkennen, dass wir noch anderem verpflichtet sind als nur uns selbst“, erklärt Murray das Prinzip. „Und dieses andere ist hier auf Erden eben der andere Mensch. Die größte Aufgabe, die wir im Leben haben, ist unsere Familie.“

Es sind jedoch nicht allein seine Filmrollen, mit denen Murray eine solche Anziehungskraft entwickelt. Er wird dafür verehrt, dass er auch als Privatmensch ein unbekümmerter, respektloser Typ zu sein scheint. Einer, der darüber witzelt, dass er wie vom Wühltisch gekleidet ist. Sein Hollywoodkollege Cameron Crowe sagt, Murrays Publikumsnähe sei ein markanter Gegenentwurf zum Starsystem. Wie Papst Franziskus mische er sich direkt unter die Menschen. „Bill ist wie der große Bruder oder Onkel, auf den man sich zu Weihnachten freut. Er läuft vor seinen Fans nicht davon, er geht eher mit ihnen – und das manchmal im wörtlichen Sinn. Er bringt es fertig, zugleich launischer, aber auch zugänglicher als fast alle anderen zu sein. In einer Welt der schablonenhaften Starkarrieren ist und bleibt sein Weg einzigartig.“

Der Schneeleopard

Für Tilda Swinton, die in Broken Flowers (2005) und Moonrise Kingdom (2012)mit Murray vor der Kamera stand, liegt der Schlüssel zu Murrays „Göttlichkeit“ in dessen Lebensfreude. Sie schildert, wie er am Set mit ihren Kindern herumtollte und wie er bei den Filmfestspielen von Cannes mit den zwölfjährigen Hauptdarstellern aus Moonrise Kingdom die Nacht durchfeierte. „Er strahlt eine ständige Bereitschaft zum Spielen aus“, sagt sie. „Du denkst, egal mit welcher Dummheit du ihm kommst, ihn wird nichts befremden. Und er weiß immer, was am meisten Spaß macht.“

US-Filmverleiher Harvey Weinstein nennt sich sogar einen „wiedergeborenen Murrayaner“ und sagt: „Das ist eine Religion, in der du dich danebenbenehmen kannst, wie du willst, und die Leute lieben dich trotzdem. Früher hatte ich oft Schuldgefühle wegen meines Benehmens. Dann traf ich Bill, und seitdem geht es mir viel besser.“ In seinen Filmen ist Murray interessanterweise oft ein Frauenheld; allerdings meist passiv, eher der Verführte als der Verführer. „Er hat etwas von einem Schneeleoparden“, findet Tilda Swinton. „Irgendwie gefährlich, irgendwie exotisch.“

Alter Trick: Murrays aktueller Film

Die Hauptfigur des gleichnamigen Kinofilms St. Vincent (Start: 8. Januar) ist alles andere als ein Heiliger. Bill Murray spielt einen in die Jahre gekommenenen Vietnamveteranen, der seine Tage recht einsam mit Saufen, Glücksspiel und Besuchen in Stripshows verdaddelt. Nicht gerade ein edler Menschenfreund, dieser Vincent – eher ein muffeliger Zausel mit Hauskatze.

Vor allem seine neue Nachbarin geht ihm gehörig auf den Geist: Gleich beim Einzug rammt der Möbel-transporter der alleinerziehenden Maggie (Melissa McCarthy) Vincents Auto. Dann fragt die Frau auch noch, ob Vincent ab und an auf ihren Sohn, den zwölfjährigen Oliver (Jaeden Lieberher), aufpassen kann. Ausgerechnet diesem schlappen, alten Typen will sie ihren Jungen anvertrauen? Nun, Maggie ist sehr beschäftigt, sie hat keine große Wahl.

Abgesehen davon wäre es kein Bill-Murray-Film, wenn nicht schon im Voraus klar wäre, dass die Sache irgendwie gut ausgeht: Der alte Vincent schleppt den jungen Oliver in verrauchte Bars und auf die Pferderennbahn, und nach einigen Irritationen freunden die beiden sich ernsthaft miteinander an.

Ein US-Kritiker fasste den Plot so zusammen: „Vincent hilft Oliver, ein Mann zu werden; und Oliver sieht etwas in Vincent, was kein anderer sieht: einen oft missverstandenen Mann mit einem grundguten Herzen.“

Das Drehbuch stammt von Theodore Melfi, der auch Regie führte – und mit St. Vincent seinen ersten Kinofilm überhaupt vorlegt, ein Debüt also. Und eines, das, zumindest in den USA, vom Start weg sehr erfolgreich ist: Melfi und Murray sind für ihre Regie und Darstellung für die Golden Globes nominiert, die am 11. Januar in Los Angeles verliehen werden. Katja Kullmann

Murray wurde 1950 geboren und wuchs als mittleres von neun Geschwistern in einer Vierzimmerwohnung in Chicago auf. Lange bevor er mit der Comedyshow Saturday Night Live bekannt wurde, übte er sein Improvisationstalent schon am heimischen Abendbrottisch, mit dem Ziel, seinen Vater zum Lachen zu bringen. Inzwischen hat Murray selbst sechs Söhne und war zweimal verheiratet. Beim Thema Sorgerecht kommt das Gespräch mit ihm erstmals merklich ins Stocken.

Seine Eltern waren irische Katholiken, eine seiner Schwestern ist Nonne, und auch er selbst macht keinen Hehl daraus, wie viel ihm der christliche Glaube bedeutet. Ein Heiliger, der ihm gefällt, ist Papst Johannes XXIII (1881 – 1963): „Der war mein Typ, ein fideler Florentiner, der die liturgischen Regeln änderte. Wobei ich mit der neuen Form der Messe nicht ganz einverstanden bin – mir fehlt das Latein! Wenn man heute etwa in Harlem zur Messe geht, kann sie auf Spanisch sein, auf Äthiopisch, auf welcher Sprache auch immer. Die Form ist die gleiche, aber die Worte sind es nicht.“

Ist es denn nicht gut, wenn die Menschen auch verstehen, was gesagt wird? „Ja, wahrscheinlich.“ Doch dann schüttelt Murray seinen Kopf: „Aber das Lateinische hat besondere Schwingungen. Und wenn man lange genug dabei ist, weiß man eh, was die Worte heißen. Was ich außerdem wirklich vermisse, ist die Musik. Diese Kraft! Klassische Kirchenmusik wirkt so stark aufs Gehirn. Und heute? Spielen sie da Folksongs, Zeug aus den Top 40, verschont mich …“

Oft wird Murray für seine vermeintliche Unbeschwertheit bewundert, letztlich wird er auch genau dafür geliebt. Aber im Gespräch kann er sehr ernst sein, merke ich, nüchtern und vernünftig. St. Vincent-Regisseur Melfi nennt ihn einen „Denker“. Und tatsächlich lautet eines von Murrays Lieblingsthemen: Sicherheitsgurte. Ja, den Politiker und Verbraucherschützer Ralph Nader, der in den USA die Gurtpflicht durchgesetzt hat, hält er für den größten lebenden Amerikaner. „Die Leute dachten, warum will dieser Typ mir einen Gurt anlegen? Aber allein 1965 gab es auf den Highways 55.000 Unfalltote. Das heißt, seit damals hat Ralph ein paar Millionen Menschenleben gerettet!“ Er beugt sich vor, seine Augen leuchten: „Die Unternehmer wüten gegen ihn, er wird gehasst, weil er wirklich etwas verändern will. Dabei ist er nicht mal persönlich reich geworden damit. Ihm geht es auch nicht um den Ruhm. Er möchte einfach das Leben der Menschen besser machen.“

Die Pressesprecherin kommt rein, meine Zeit ist um. „Den politischen Parteien geht es nur darum, ihre Gegner lahmzulegen. Sobald sie an der Macht sind, arbeiten sie an nichts anderem mehr“, sagte Murray gerade. „Wie ließe sich das ändern?“, frage ich, während ich langsam meine Tasche aufhebe. „Eines Tages wird etwas Furchtbares passieren, etwas von solcher Kraft, dass die Leute aufwachen werden.“

Ich stehe auf, auch er erhebt sich. Ich habe den Abstand zwischen unseren Stühlen überschätzt, wir stehen unschicklich nah voreinander, meine Augen befinden sich in Höhe seiner Brustwarzen. Murray spricht weiter: „Ich wünschte, man könnte den Kongress kidnappen, und er würde dann das Stockholmsyndrom entwickeln, sich mit den Geiselnehmern verbünden. Und diese Geiselnehmer wären wahrhaftige amerikanische Bürger.“

Regisseur Melfi sagt über seinen Star: „Murray ist von Gott beauftragt, die Welt besser zu machen“. Ich hatte nun das Glück, sein Gebot live und in Farbe von Murray selbst vernommen zu haben: Ein Heer von Bürgern soll Washington stürmen. Und dabei bunte Bill-Murray-Masken tragen. Wenn möglich aus regenfester Pappe.

Catherine Shoard schreibt für den Guardian
Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Catherine Shoard | The Guardian

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