Nicholas Winton: „Ich selbst war doch niemals in Gefahr“
Foto: David Levene/The Guardian
„Komm schon, Nicky, du musst zu uns rüberkommen!“ – „Gar nichts muss ich“, sagt Sir Nicholas Winton, halb im Spaß, halb aus Trotz. Dieser Satz bringt das Wesen des Mannes, der gern als britischer Oskar Schindler bezeichnet wird, schon ziemlich gut auf den Punkt. Als das Deutsche Reich 1938 das Sudetenland annektiert hatte, hat er 669 überwiegend jüdische Kinder aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien gebracht und ihnen damit das Leben gerettet. Heute ist er 105 Jahre alt. Auf die körperlichen Einschränkungen, die das Alter mit sich bringt, reagiert er so uneinsichtig und aufmüpfig wie damals auf das Schicksal der Kinder – und auf Babs Armstrong.
Babs ist die Frau, die gerade versucht, Winton in die Küche z
#252;che zu locken. Sie hilft ihm dabei, so unabhängig und selbstbestimmt weiterzuleben wie möglich, in dem chaletartigen Haus, das er in den 50er Jahren für seine Familie in der Nähe von Maidenhead westlich von London gebaut hat. In der Küche soll Winton sich fotografieren lassen, doch er sträubt sich. „Wie viele Bilder wollen Sie denn noch machen?“, fragt er den Fotografen nach einer Viertelstunde. „Reicht das nicht schon längst?“Börsenmakler, SozialistInzwischen ist er ein bisschen schwerhörig, er wird schnell müde, auch sein Gedächtnis funktionierte schon mal besser. Es gestaltet sich also nicht ganz einfach, ein Interview mit ihm zu führen. Aufregend ist es aber allemal, ein Gefühl, als ob man den Mantelsaum der Geschichte berührte. Schließlich umfasst das Leben dieses Mannes fast das gesamte 20. Jahrhundert.Nicholas Winton wurde 1909 in London in eine hochkultivierte Familie mit deutsch-jüdischen Wurzeln geboren. In den 20ern ließ er sich zum Börsenmakler ausbilden und entwickelte sich parallel dazu zu einem glühenden Sozialisten, der in engem Kontakt zu etlichen Größen der britischen Linken stand, etwa zu Aneurin Bevan, der den National Health Service auf der Insel gründete, und zur feministischen Labour-Politikerin Jennie Lee.Ursprünglich trug die Familie den Namen Wertheim. Aber 1938, als die Naziherrschaft sich voll entfaltet hatte, beschlossen sie, sich in Winton umzubenennen. Im selben Jahr reiste Nicholas mit seinem engen Freund Martin Blake nach Prag. Statt, wie zuvor geplant, einen Skiurlaub in der Schweiz zu verbringen, wollten die Männer den Flüchtlingen helfen, die zu Hunderttausenden in die Stadt an der Moldau gekommen waren, nachdem Deutschland das Sudetenland annektiert hatte. Winton und sein Freund drängten das britische Innenministerium, tschechische Flüchtlingskinder aufzunehmen. Und sie hatten Erfolg.Über einen Zeitraum von neun Monaten gelang es den beiden, 669 Kinder, in Gruppen aufgeteilt, außer Landes und bis nach Großbritannien zu bringen. Winton sorgte dafür, dass die Kinder in acht Zügen unterkamen. Ein neunter Zug sollte am 1. September abfahren, dem Tag, an dem Deutschland Polen überfiel und die tschechoslowakische Grenze schloss. Die 250 Kinder, die in jenem neunten Zug sitzen sollten, wurden von den Nazis schließlich ermordet.Placeholder infobox-150 Jahre lang wusste kaum jemand von dieser Geschichte. Erst als Wintons mittlerweile verstorbene Ehefrau Grete in den 80er Jahren ein altes Fotoalbum mit den Namen der Entkommenen an die Holocaust-Forscherin Elisabeth Maxwell übergab, gelangte die Aktion an die Öffentlichkeit.Die Wochenzeitung Sunday People brachte einen Artikel, und Winton wurde in die Fernsehsendung That’s Life! eingeladen. Im Studio saßen, links und rechts von ihm, zwei Frauen, die ihm ihr Leben verdanken. In den Zügen, die sie aus Prag in Sicherheit brachten, trugen sie Karten um ihre Hälse, darauf standen ihre Namen. Als sie in Großbritannien ankamen, warteten schon Pflegeeltern auf die Mädchen. Winton hatte auch das organisiert.Er erinnert sich nicht gern an den That’s-Life!-Auftritt. Es sei ihm nicht recht, wie da ein tränenreiches Fernsehdrama inszeniert worden sei, sagt er. Seit der Show prasseln die Ehrungen jedenfalls nur so auf ihn ein. 2003 wurde er zum Knight Bachelor, zum Ritter, geschlagen und darf sich seither Sir nennen. Am Prager Hauptbahnhof ist er als Statue verewigt, und gerade erst, im vergangenen Oktober, verlieh ihm die Tschechische Republik ihre höchste Auszeichnung, den Orden des Weißen Löwen. Zuvor hatten zwei tschechische Astronomen einen neu entdeckten Asteroiden nach dem Briten benannt. Eine Karte, auf der der Himmelskörper „(19384) Winton“ verzeichnet ist, hängt hinter seinem Lieblingssessel an der Wand.All die Ehrungen würden helfen, sich die Zeit zu vertreiben, sagt Winton. Aber: „Es wird auch ein bisschen langweilig, wenn man 100 Jahre lang über ein und dieselbe Sache reden soll.“ Trocken stellt der 105-Jährige fest: „Ich habe mich nicht heldenhaft verhalten, schließlich war ich selbst nie in Gefahr.“ Auch dass Medien ihn den britischen Schindler nennen, findet er nicht angemessen. Er könne da keine Parallelen zu sich erkennen. Viele Hymnen seien wohl mit seinem hohen Alter, mit seiner Langlebigkeit zu erklären. „Von den anderen ist einfach keiner mehr da.“Wendet man ein, dass er da viel zu bescheiden ist, weil er damals ja auch einfach hätte wegschauen können, wie es die meisten Menschen in Europa taten, räumt er ein: „Im Nachhinein erscheint es vielleicht bemerkenswert. Doch damals kam es mir überhaupt nicht als etwas Besonderes vor. Manchen Menschen ist eine gewisse Größe in die Wiege gelegt, manche erlangen sie im Laufe ihres Lebens. Und wieder anderen wird sie geradezu aufgedrängt.“ Er ist voll und ganz davon überzeugt, zur dritten Kategorie zu gehören, er meint es ernst: „Ich erhalte diese ganzen Auszeichnungen nur, weil ich immer noch am Leben bin.“Aber wie kam er auf die Idee mit der Kinderrettung? Warum hat er sich nicht so unauffällig, so passiv verhalten wie die meisten anderen? Zum einen habe es an seinen familiären Beziehungen gelegen, sagt Winton. „Bei uns lebten damals längst Leute, die in Deutschland verfolgt worden waren, viele Flüchtlinge, ganze Familien. Wir wussten sehr genau, was in Deutschland vor sich ging, was die Nazis taten. Wir wussten vielleicht mehr als manche Politiker.“ Zum Zweiten hätten auch seine sozialistischen Überzeugungen eine Rolle gespielt. Winton war Mitglied in einem linken Zirkel, der Churchills Appeasement-Politik gegenüber Hitler ablehnte. 1938 sei ihm völlig klar gewesen, welche Gefahr den tschechoslowakischen Juden drohte, insbesondere den Kindern, die auf der Flucht von ihren Eltern getrennt worden waren.Absichtlich hat er die Rettungsaktion nie verschwiegen. Als Winton 1954 für den Stadtrat von Maidenhead kandidierte, wies er in seinem Wahlprospekt darauf hin. Aber er wollte eben nie den Eindruck erwecken, die Evakuierung sei der Schlüssel zu seinem Leben gewesen, das Moment, das ihn als Mensch ausmacht. Der alte Mann findet eher, dass seine Arbeit für das Flüchtlingshilfswerk der International Refugee Organization und die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (die IBRD, International Bank for Reconstruction and Development) – mit beidem fing er unmittelbar nach dem Krieg an – einen tiefgreifenden Einfluss auf ihn hatte.Störrisch, bescheidenIst er nicht wenigstens ein bisschen froh, dass seine Rettungstaten dank seiner Frau bekannt wurden? Immerhin kann die Geschichte anderen doch Mut machen? „Ich bin nur dann froh darüber, wenn es jemandem etwas bringt“, sagt er. „Sich einfach nur über die Vergangenheit auszubreiten ist Unsinn. Ein berühmter Franzose hat einmal gesagt, wir hätten aus der Geschichte nur eines gelernt: nämlich dass wir aus der Geschichte nichts gelernt haben.“ (Anmerkung des Autors: Das Zitat stammt zwar von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und lautet auch ein bisschen anders, aber der Satz hat natürlich was für sich.) „Alles wiederholt sich, nur noch schlimmer“, sagt Nicholas Winton.Seine Frau, die als Grete Gjelstrup in Dänemark geboren wurde, traf und heiratete er, während er 1948 für die IBRD in Paris arbeitete. Vor der Hochzeit hatte er das Leben eines Kosmopoliten geführt, war nicht nur quer durch Europa gereist, sondern hatte sowohl England wie Frankreich im Fechten bei internationalen Wettbewerben vertreten. Nach der Heirat ließ er sich im Eigenheim in der britischen Provinz nieder, arbeitete für die Finanzabteilungen verschiedener Unternehmen und zog mit Grete drei Kinder groß. Er entschied sich für ein schlichtes Leben, er wollte einfach nur genug Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Ja, er besteht darauf, nie reich gewesen zu sein.Hätte er nicht genauso gut ein Labour-Abgeordneter werden können, an der Seite des von ihm verehrten Aneurin Bevan? Seine Tochter Barbara meint, dazu hätten ihm der nötige Ehrgeiz und das Selbstvertrauen gefehlt. Was ihn auszeichne, sei seine Wut über Unrecht. Und seine Zielstrebigkeit. Wenn er sich einmal über eine Sache klargeworden wäre, sei er stets drangeblieben.Ein tiefer persönlicher Einschnitt für Winton war der frühe Tod seines Sohns Robin, der 1956 zur Welt gekommen war, mit dem Downsyndrom. In jenen Jahren brachte man solche Kinder für gewöhnlich in Heimen unter. Doch die Wintons bestanden darauf, ihren Sohn selbst aufzuziehen. Völlig überraschend starb der Junge dann am Tag vor seinem sechsten Geburtstag an Meningitis, einer Hirnhautentzündung. Weil Robin eine Lernschwäche hatte, engagierte Winton sich schon damals für Kinder mit ähnlichen Problemen, und er setzte diese ehrenamtliche Arbeit dann noch ein halbes Jahrhundert lang fort.Ihr Vater sei nie jemand gewesen, der in sich gekehrt herumgrübelt, sagt seine Tochter Barbara. Er nehme das Leben, wie es komme, und versuche, das Beste daraus zu machen. Vielleicht verbirgt sich genau darin das Geheimnis seines hohen Alters und seiner Vitalität. Ich frage ihn, ob er darüber nachdenke, was als Nächstes komme. „Ich glaube nicht, dass auf den Tod etwas folgt. Ich glaube nicht an ein Danach.“ Beunruhigt ihn das? „Es bringt nichts, sich über etwas Sorgen zu machen, das man nicht ändern kann.“ Religion betrachtet er als „organisierte Heuchelei“: „Ich kenne eine Menge Leute, die in die Kirche oder in die Synagoge gehen, ohne wirklich an etwas zu glauben. Religion ist oft nur eine Fassade. Wir brauchen etwas anderes, und das ist Moral. Güte, Freundlichkeit, Liebe und Aufrichtigkeit. Wenn die Menschen moralisch handeln würden, gäbe es weit weniger Probleme.“Was erwartet er, der ein ganzes, aufreibendes Jahrhundert hinter sich hat, für die Zukunft? Bei dieser Frage wird der alte Mann pessimistisch. Die Menschheit habe ein großes, konstant wachsendes Destruktionspotenzial, sagt er. Das bereite ihm Sorgen. Er glaubt auch nicht daran, dass die Medien mit ihrer Berichterstattung, mit ihren Versuchen, die Menschen aufzuklären, viel verändern können. Schlimmer noch: Winton hält eine „erneute Verblendung der Massen“ für möglich, eine schädliche „Passivität der Demokratien“, fast wie in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.„Es braucht einen kompletten Neuentwurf. Für mich selbst ist es dafür zu spät“, sagt Nicholas Winton. Und er zitiert Alexander Pope, den britischen Dichter aus der Ära der frühen Aufklärung: „,Erkenne dich selbst, und maße dir nicht an, Gott zu erforschen / Denn der Mensch ist es, den die Menschheit erforschen muss.‘ Ich bin mir nicht sicher, ob das jemals funktioniert. Bis jetzt hat’s jedenfalls nicht geklappt.“Placeholder authorbio-1
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