Historiker im Kassandra-Modus: Wie wurde Timothy Snyder zum Kriegsexperten?
Porträt Trump, Putin, die Ukraine: Historiker sollten eigentlich keine Prognosen treffen, doch wovor Timothy Snyder warnt, tritt regelmäßig ein. Eine Begegnung mit einem der umstrittensten Intellektuellen unserer Zeit
Timothy Snyder lehrt seit 2001 an der Universität Yale. Schon als Student strebte er an, ein öffentlicher Intellektueller zu werden
Foto: Stefan Fürtbauer/dpa
Sieben Monate nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine fuhr der Yale-Historiker Timothy Snyder 16 Stunden lang mit dem Zug von Polen nach Kiew. Snyder kannte die Stadt gut: Er war immer wieder dort seit den frühen 1990ern, als er noch Doktorand war und die neue postsowjetische ukrainische Hauptstadt dunkel und provinziell wirkte. In den folgenden Jahrzehnten wuchs Kiew und der heute 53-jährige Snyder entwickelte sich zu einem renommierten Osteuropahistoriker. Als er im September am Bahnhof Kyjiw-Passaschyrskyj ausstieg, sah er, wie der Krieg die Stadt verändert hatte. Überall Sandsäcke, Betonbarrieren und Panzersperren, aus Hosen- und Handtaschen jaulte der Luftalarm auf den Handys.
Nicht alles war ihm fremd. Die ersten Kriegsmonate waren für die Ukra
r die Ukrainer relativ gut verlaufen – was viele Beobachter, anders als Snyder, überrascht hatte – und Kiew war nicht mehr in unmittelbarer Gefahr, besetzt zu werden. Das Leben war zwar nicht normal, aber ein wenig zu seinem Vorkriegsrhythmus zurückgekehrt.Snyder war gekommen, um auf der Konferenz Yalta European Strategy (YES) zu sprechen, die 2004 von einem ukrainischen Oligarchen gegründet worden war, um die Beziehungen zu Europa zu fördern. Er war schon einmal dort gewesen, 2014, einige Jahre nachdem Bloodlands erschienen war, seine provokante Studie der Verbrechen der Nazis und der Sowjetunion, die ihn, um einen Rezensenten zu zitieren, „als den wohl talentiertesten jungen Historiker des modernen Europas auswiesen“. 2017 folgte Über Tyrannei, ein kleines Buch über Donald Trump und Wladimir Putin, das ihn zum Hausintellektuellen der linksliberalen Anti-Trump-Bewegung machte. Snyders Warnungen ließen sich leicht als bourgeois-liberale Schwarzmalerei abtun, doch Trumps Versuch, die Wahl 2020 anzufechten, bestätigte, was seine Kritiker als Übertreibung abgetan hatten. Am 9. Januar 2021, drei Tage nachdem ein Mob das US-Kapitol gestürmt hatte, meldete sich Snyder in der New York Times mit einer weiteren hellsichtigen Prognose zu Wort. Trumps gescheiterter Putsch sei der Beginn, nicht das Ende von etwas. Nun, da Trumps „große Lüge“ – er habe die Wahl gewonnen – „eine heilige Sache war, für die Menschen Opfer gebracht hatten“, würde sie ein entscheidender Faktor in der US-amerikanischen Politik bleiben, schrieb er.Placeholder image-2Snyders Blick auf Putin war noch düsterer. Er war einer der wenigen englischsprachigen Kommentatoren, die den Einmarsch 2014 in der Ukraine vorhergesehen hatten. In seinem Buch Black Earth warnte er vor einem „neuen russischen Kolonialismus, der die Stabilität Europas gefährde“. Die Invasion im vergangenen Jahr bewertete er nicht als Regionalkonflikt, sondern als Barbarei von epochaler Bedeutung. „Es geht um die Frage einer demokratischen Zukunft“, schrieb er in Foreign Affairs.Seit Kriegsbeginn ist Snyder zu einem seiner wortmächtigsten Analysten geworden. Bezeichnend für sein Standing ist, dass die YES-Konferenz nur die zweitwichtigste Station seiner Kiew-Reise war. Der eigentliche Grund war ein persönliches Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.Mehr als zwei Stunden lang saßen sie sich in den grünen Ledersesseln in Selenskyjs Arbeitszimmer gegenüber. Sie sprachen über Shakespeare, Václav Havel und Andrei Sacharow. Sie sprachen auch über Freiheit, das Thema eines neuen Buchs, an dem Snyder arbeitet, und insbesondere über Selenskiyjs Entscheidung, in der Ukraine zu bleiben. Selenskiyj sagte, er habe nie das Gefühl gehabt, er hätte eine echte Wahl. „Er hat mir damit zu einem Argument verholfen“, erzählte mir Snyder später in einem der drei langen Gespräche, die wir für diesen Artikel führten. „Frei zu sein bedeutet, dass man in Situationen gerät, die sich alternativlos anfühlen werden.“Timothy Snyder setzt auf unmittelbare ErklärungenSnyders Faszination für das, was er Selenskiyjs „choiceless choice“ nennt, überrascht nicht: Auch dass Selenskiyj in der Ukraine bleiben würde, sagte er am Vorabend des Krieges voraus. Snyder ist seit Langem davon überzeugt, dass „es Momente in der Weltgeschichte gibt, in denen sich das eigene Handeln maximiert. Es kann möglich sein, dass man einer Entwicklung in eine besonders schlechte Richtung mit relativ geringem Aufwand einen Stoß versetzen kann.“ Selenskiyjs Entscheidung wie auch der ukrainische Widerstand generell sind für ihn ein anschaulicher Beweis dieser These.Snyder zieht, was für seriöse Historiker ungewöhnlich ist, oft Analogien zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Noch ungewöhnlicher ist, dass er regelmäßig Vorhersagen über die Zukunft trifft. Sein „Kassandra-Modus“ unterscheidet sich von seiner Arbeit als Historiker, aber er ist nicht völlig losgelöst davon. „Geschichte ist nicht die langweilige Aufzählung dessen, was wir alle wissen, aber vergessen haben“, sagt er. „Geschichte bedeutet, ständig Aufregendes zu entdecken, das sich tatsächlich ereignet hat, obwohl es nicht vorhergesehen wurde und zu seiner Zeit als äußerst unwahrscheinlich galt. Der Erste Weltkrieg, der Holocaust: Vieles von dem, was uns heute fundamental erscheint, galt einmal als lächerlich, absurd, unvorstellbar. Daraus lässt sich intuitiv ableiten, dass just in diesem Moment etwas vor sich gehen kann, das die Leute nicht sehen.“Snyder wuchs in einer Quäker-Familie im Südwesten von Ohio auf, und er hält an der Tugend fest, geradeheraus zu sagen, was er meint. Im Gegensatz zu den meisten Akademikern fühlt er sich verpflichtet, seine Ideen so unmittelbar wie möglich zu erklären, und er verabscheut die wissenschaftliche Tendenz, Urteile unter einem Mantel der Pseudo-Objektivität zu verstecken. Er hat ein starkes moralisches Empfinden – seine Frau Marci Shore nennt es seinen „Die-Welt-retten-Impuls“.Shore, ebenfalls Historikerin in Yale, erzählte mir per E-Mail eine Anekdote, um das Vertrauen ihres Mannes in seine Fähigkeiten zu illustrieren. Als sie mit ihrem Sohn schwanger war, lebten die beiden in Wien und besuchten dort einen Geburtsvorbereitungskurs, den die Hebamme auf Wienerisch hielt. Nach dem Kurs waren sich beide einig, dass sie nur etwa 60 Prozent des Gehörten verstanden hatten. „Der Unterschied zwischen uns lässt sich an einem Detail ablesen“, schrieb Shore. „Tim war seelenruhig davon überzeugt, dass diese 60 Prozent alles Wichtige enthielten, während ich mir sicher war, dass die 40 Prozent, die wir nicht verstanden hatten, entscheidend waren.“Zu Besuch in YaleIn dem Maße, wie Snyders Bekanntheitsgrad stieg, rief er immer mehr Kritiker auf den Plan. Seine Urteile sind auch deshalb umstritten, weil schwer zu greifen ist, wo er politisch steht. Für ukrainische Nationalisten klingt er wie ein amerikanischer Linker. Für amerikanische Linke klingt er wie ein ukrainischer Nationalist. Dass er für die militärische Unterstützung der Ukraine durch die USA eintritt, macht ihn für manche zu einem neuen kalten Krieger – dabei war er gegen den Irak-Krieg und sieht den Anspruch der USA auf moralische Vorherrschaft kritisch.Im Februar besuchte ich eine von Snyders Vorlesungen in Yale. Mit seinem Freund, dem Philosophen Jason Stanley, der wie er eine Säule des liberalen Anti-Trump-Widerstands ist, unterrichtete er ein Seminar über Masseninhaftierung in den USA und der UdSSR. Obwohl Snyder in der Presse manchmal wie ein Autor wirkt, dem das Konzept des Selbstzweifels fremd ist, ist in seiner Person immer noch eine Spur des „schlaksigen, etwas schüchternen Studenten“ zu erkennen, an den sich ein früherer Professor erinnert. Er hat einen trockenen Humor und eine Begabung für eloquente Improvisation, aber er hat keine dominante Präsenz – ganz anders als Stanley, der ganz in Schwarz und mit schwarzer Sonnenbrille zur Vorlesung erschien und unmittelbar mit den Studierenden um ihn herum lautstark Witze riss.Das Thema an diesem Tag war der wissenschaftliche Rassismus im späten 19. Jahrhundert. Ohne Notizen setzte Snyder zu einem kurzen Vortrag an über Platons Parmenides, das „Erste Buch Mose“, die Idee der Dialektik bei Hegel und Marx und die Geschichtsabhandlungen des französisch-amerikanischen Universalgelehrten René Girard, bevor er sich W.E.B. Du Bois zuwandte. Ein paar Stunden später erklärte Stanley mir den Umweg über Platon. Am Morgen habe er eine SMS von Synder erhalten, in der stand, er wolle die Studierenden an einige frühen Denker erinnern. „Ich antwortete im Scherz: ‚Wovon redest du, Parmenides?‘“, sagt Stanley. „Er verstand es als Challenge. Das ist typisch für ihn. Tim misst sich gerne mit anderen.“Snyders Freunde wundern sich manchmal, wie der älteste Sohn eines Tierarztes aus Ohio ohne familiäre Bindungen zu Osteuropa zu einem führenden Experten für diese Region wurde. Snyder sagt, dass seine Eltern „sehr links waren, und das nicht nur nach amerikanischen Maßstäben“. Zu Hause hingen Poster an den Wänden, die für linke Bewegungen in Lateinamerika warben und sonntagnachmittags schrieben sie mit ihren drei Jungen regelmäßig Briefe an Gefangene für Amnesty International. Als Snyder in der neunten Klasse war, reiste die Familie zu einer Quäker-Milchkommune in Costa Rica. „Unsere Vorstellung von Tourismus“, sagt er.In der High School lehnte Snyder sich gegen seine Eltern auf und flirtete mit dem Libertarismus. Er erinnert sich, wie er mit seiner Mutter über die Sowjetunion diskutierte. „Ihr Ausgangspunkt war: ‚Nun, sie standen auf der richtigen Seite bei Nicaragua. Sie standen auf der richtigen Seite bei Kuba.‘ Von Ungarn 1956 oder der Tschechoslowakei 1968 ging sie nie aus.“ Dennoch kannte seine Rebellion Grenzen. „Ich hätte nie gedacht: ‚Ich bin für Reagan.‘ Selbst in meiner zugeknöpftesten Mid-Westerner-Phase war das nicht meine Sippe.“„Bloodlands“ verhandelt politische MassenmordeAls Snyder sich 1987 an der Brown University immatrikulierte, ging er davon aus, er würde einmal als Anwalt für Atomwaffenkontrolle arbeiten. Zwei Seminare weckten sein Interesse an Geschichte. Das eine war ein Überblick über die europäische Geistesgeschichte, das andere über osteuropäische Nachkriegsgeschichte hielt Thomas W. Simons jr., der kurz darauf zum Botschafter in Polen ernannt werden sollte. Sein Kurs begann weniger als zwei Wochen nach der Hinrichtung des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu am Weihnachtstag 1989 in Bukarest. Snyder sagt, er sei von dem Seminar „besessen“ gewesen, so sehr, dass er Simons vorschlug, er solle aus seinen Vorlesungsaufzeichnungen ein Buch machen. Simons stellte ihn im folgenden Sommer genau dafür dann ein.Nach dem Abschluss promovierte Snyder mit einem Marshall-Stipendium in Oxford. Schon als Student, erinnert er sich, hegte er, „auch wenn es pompös klingen mag, größere Ambitionen, ein Intellektueller, ein Schriftsteller zu sein“. Den ersten großen Wendepunkt seiner öffentlichen Karriere markierte 2010 dann Bloodlands.In Bloodlands verhandelt Timothy Snyder die „politischen Massenmorde“ an 14 Millionen Menschen, die zwischen 1933 und 1945 in Osteuropa verübt wurden auf einem Gebiet, das sich „von Zentralpolen bis Westrussland, durch die Ukraine, Weißrussland und die baltischen Staaten“ erstreckte. Aus dieser einfachen Formel leitete Snyder mehrere Argumente ab. So stellte er die These auf, dass die Nazis und die Sowjets die Länder der „Bloodlands“ – der Begriff spielt auf ein Gedicht von Anna Achmatowa an – als Kolonien behandelten. Er argumentierte auch, dass die bisherige Forschung das Morden zu sehr aus der Sicht der Großmächte betrachtet habe. Grundsätzlich legte er in seinem Buch nahe, dass die Ereignisse in diesen Ländern als zentral für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu betrachten seien.Einige Rezensenten störten sich daran, dass er den Holocaust Stalins Verbrechen gegenüberstellte, während andere ihm vorwarfen, die Ursachen der von ihm beschriebenen Ereignisse nicht zu erklären. Doch Snyders provokanter Vorstoß, die europäische Geschichte durch einen anderen Rahmen zu betrachten, brachte neuen Schwung in die größtenteils als abgeschlossen betrachtete Geschichtsschreibung. „Das Ganze war als eine Geschichte Russlands und Deutschlands und natürlich des Holocausts erzählt worden“, sagte mir der Historiker Timothy Garton Ash. „Bloodlands rückte Ostmitteleuropa auf eine Weise in den Mittelpunkt, die die historische Perspektive veränderte.“Snyder ist der Meinung, dass gute Geschichtsschreibung auch schlechte Ideen ernst nehmen muss. „Sie haben ihre eigene Kohärenz und ihre eigene Kraft.“ Kurz nachdem er Bloodlands veröffentlicht hatte, bemerkte er, dass Putin irritierend häufig über die notwendige Einheit Russlands und der Ukraine sprach. 2013 besuchte Putin Kiew anlässlich des 1.025. Jahrestages der Taufe von Wladimir dem Großen. In Kiew, so Snyder, „hielt Putin diese verrückte Rede, in der er sagte, dass die Ukraine und Russland aufgrund der Taufe eins seien und niemand etwas dagegen tun könne, da dies außerhalb der politischen Sphäre liege. Es war eine spirituelle Wahrheit: Im Grunde hat Gott es so gemacht.“Placeholder image-1Der Maidan-Aufstand begann im November desselben Jahres in der Ukraine. Ausgelöst wurde er durch die Weigerung des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, auf Druck Russlands, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Am 3. Februar 2014 veröffentlichte Snyder in der New York Times einen Meinungsartikel mit der Überschrift Don’t Let Putin Grab Ukraine („Lasst Putin nicht nach der die Ukraine greifen“). Er berief sich auf Putins immer lauteren Wunsch nach einer Eurasischen Union als Konkurrenz zur EU sowie auf russische Beamte, die offen über eine Teilung der Ukraine diskutierten. Davon ausgehend warnte er, Putin könnte versuchen, einen Staatsstreich in Kiew zu inszenieren. Sollte dies scheitern, könnte Putin eine „bewaffnete Intervention“ als einzige Möglichkeit sehen, sein Gesicht zu wahren.Snyder sagt, seine Warnung sei eine „Ermessensentscheidung“ gewesen. „Als ich las, wie Putin in den russischen Zeitungen wetterte, schien mir seine Wut nicht taktischer Natur zu sein. Sie schien sehr tief zu sitzen.“ Der andere Faktor, der Snyders Verdacht erregt hatte, war „ein sehr deutlicher Anstieg anti-ukrainischer Propaganda, nach dem Motto: ‚Das sind Nazis. Sie sind schwul. Sie sind schwule Nazis.‘ Im russischen Fernsehen nahm das im November und Dezember 2013 karnevaleske Züge an. Etwas war im Gange.“Serhii Plokhy, ein ukrainischer Historiker in Harvard, der mit Snyder befreundet ist, sagte mir, er habe gedacht, der Artikel ging zu weit. Wenige Wochen später nahm Russland die Krim ein und schickte Truppen in die Ostukraine. Plokhy erinnert sich, wie er kurz darauf zu Snyder sagte. „Okay, ich hatte gedacht, du wärst ein kompletter Spinner.“Snyder sagt, es habe zum Zeitpunkt der Invasion die Tendenz gegeben, Russland zu behandeln, als sei es lediglich eine gescheiterte oder korrumpierte Version einer westlichen liberalen Demokratie. „Sowohl die amerikanische als auch die deutsche Sichtweise auf Putin war, dass man ihm die Handlungsfähigkeit absprach. Sie sagten: ‚Na ja, sie versuchen, einen Übergang zu schaffen, aber das ist schwierig für sie, die Armen, deshalb müssen sie in Georgien oder der Ukraine einmarschieren.‘“ Es ist einer der Gründe, warum Snyder darauf besteht, Putin als Faschisten zu bezeichnen: „Es klingt seltsam, aber zu sagen, dass er vom Faschismus beeinflusst ist, bedeutet, ihm etwas anzurechnen. Er ist nicht nur ein historisch determiniertes Element in dieser Geschichte der Übergänge. Er betreibt seit mehr als einem Jahrzehnt etwas anderes.“Russland gewinnt, egal ob Donald Trump gewählt wirdZwei Jahre nach der Annexion der Krim stellte Snyder fest, dass russische Politiker und staatliche Medien dieselbe Art von Propaganda und Fehlinformationen über die USA verbreiteten wie über die Ukraine. Obwohl es nicht stimmt, wie Snyder kürzlich auf Twitter behauptete, dass er „die Geschichte von Trump und Putin enthüllte“, widmete er sich dieser sich anbahnenden Beziehung früh und ausdauernd. Im April 2016 argumentierte er, Trumps Schwäche und Eitelkeit machten ihn zu einem leichten Ziel für Putin, der bereits begonnen hatte, ihn „als künftigen russischen Klienten“ zu kultivieren.In jenem Herbst wurde klar, dass Russland hinter der Hack-and-Leak-Kampagne steckte, die Hillary Clinton in der Endphase des Präsidentschaftswahlkampfs wochenlang unangenehme Schlagzeilen bescherte. Unter Berufung auf Putins Rehabilitierung des christlich-faschistischen Philosophen Iwan Iljin argumentierte Snyder, dass hinter dem scheinbaren Wirrwarr der Cyberangriffe eine Logik und sogar eine politische Philosophie stecke. „Wenn die demokratischen Verfahren chaotisch erscheinen“, schrieb er in der New York Times, „dann werden auch die demokratischen Ideale fragwürdig erscheinen. Und so würden die USA Russland ähnlicher werden, das ist die allgemeine Idee. Wenn Mr. Trump gewinnt, gewinnt Russland. Aber wenn Mr. Trump verliert und die Menschen das Ergebnis anzweifeln, gewinnt auch Russland.“Snyder war fassungslos über Trumps Wahlsieg 2016, aber er gab ihm den unmittelbaren Anstoß zu Über Tyrannei. Als er damals nach der Wahl von Schweden zurück nach Hause flog, begann er, auf einer Serviette im Flugzeug eine Liste von Lektionen zu skizzieren, wie sich Tyrannei vereiteln ließe. Die Liste enthielt Ratschläge wie „Gehorche nicht vorauseilend“ und „Verteidige Institutionen“. Zu Hause angekommen, postete er sie auf Facebook, und sie ging viral. Snyders Verleger sagte ihm, sie könnten es als kurzes Buch veröffentlichen, wenn er jeder Lektion etwas Kontext hinzufügen würde. Das Ergebnis ähnelt eher einem Samisdat-Manifest als einem seiner schweren historischen Bände. Über Tyrannei verkaufte sich während Trumps Amtszeit mehr als eine halbe Million Mal und stand insgesamt fast zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times.Placeholder image-3Die Begeisterung der Mitte-links-Liberalen für Snyder löste in anderen Kreisen der amerikanischen Linken eine ebenso heftige Gegenreaktion aus. Für diese Kritiker hatten Snyders unheilvolle Analogien und atemlose Warnungen den Beigeschmack historischer Naivität und ideologischer Bequemlichkeit. Zu behaupten, Trump sei ein verkappter Hitler, hieße nicht nur, die Verbrechen zu übersehen, die Amerika in der Vergangenheit selbst verursacht hatte – es hieße auch, zu vernachlässigen, wie ein überparteiliches Programm des Neoliberalismus die Bedingungen geschaffen hatte, die zu Trumps Wahl führten.Es ist unschwer zu erraten, warum Über Tyrannei zur Zielscheibe einer Linken wurde, die sich über Versuche ärgerte, sie in eine Anti-Trump-Volksfront einzubinden. Im Zuge der Wahlen von 2016 lebte der Sozialismus in den USA zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wieder auf, und viele Linke waren nicht in der Stimmung, sich mit den Mainstream-Liberalen zu versöhnen, denen es nicht gelungen war, Trump an den Wahlurnen zu verhindern.Snyder war allerdings nie ein neoliberaler Triumphator, noch übersieht er die Fehler der USA. In früheren Schriften hatte er den Fundamentalismus der freien Marktwirtschaft angeprangert, und im Nachwort von Über Tyrannei schrieb Snyder, die Gefahr bestehe, dass Trump die USA „von einer naiven und mangelhaften Form von demokratischer Republik zu einer konfusen und zynischen Form von faschistischer Oligarchie“ überführen werde. Snyder hoffte auf etwas Drittes – „eine Erneuerung“, schrieb er in seinem nächsten Buch Der Weg in die Unfreiheit, „die niemand vorhersehen kann“.Emma Ashford, Senior Fellow am Thinktank Stimson Center, bewundert Snyders Arbeit als Historiker, aber sie sagt auch, dass sein „Verständnis des Weltgeschehens unverrückbar von dem geprägt ist, was er für die großen, wichtigen Ideen hält, während ich sagen würde, dass Russlands Einmarsch in die Ukraine ebenso sehr durch den Versuch motiviert war, seine abnehmenden Sicherheiten in der Region zu untermauern“. Der Streit ist kein rein akademischer. Wenn man wie Ashford der Meinung ist, dass Russland durch strategische Ängste motiviert ist, dann birgt jedes weitere Engagement des Westens die Gefahr, die ursprünglichen Ursachen des Krieges zu verschärfen und den Konflikt zu verlängern. Glaubt man hingegen wie Snyder, dass die Wurzeln des Krieges in Putins faschistischer Weltanschauung liegen, dann ist ein Sieg auf dem Schlachtfeld unumgänglich. „Viele kluge Leute haben es schon vor mir gesagt: Der Faschismus wurde nie diskreditiert. Er wurde immer nur besiegt“, sagt er. „Die Russen müssen besiegt werden, so wie die Deutschen besiegt wurden.“Geld für einen Panzer sammeln2004 hatte Snyder im Zuge der Orangen Revolution geschrieben: „Die Ukraine ist heute der Testfall für Europa.“ Fast zwei Jahrzehnte später sieht er den Krieg in der Ukraine nicht nur als Testfall für Europa und die USA, sondern auch für sich selbst. Zurück aus Kiew wurde er vergangenen Herbst gebeten, „Botschafter“ für United24 zu werden, eine Crowdfunding-Aktion, die Selenskiyj in den ersten Tagen des Krieges ins Leben gerufen hatte. Die Organisatoren schlugen vor, er könne Geld für den Wiederaufbau einer Bibliothek in Tschernihiw sammeln.„Ich dachte darüber nach“, sagt Snyder. „Ich kannte die Bibliothek. Ich kannte Tschernihiw. Ich war im September dort, und ich hatte die Ruinen gesehen. Es wäre für mich als Historiker ganz natürlich gewesen, das zu machen.“ Aber Snyder wollte sich nicht danach richten, was ihm „politisch korrekt“ oder für ihn persönlich am einfachsten erschien. Stattdessen fragte er seine ukrainischen Freunde, was am hilfreichsten wäre. „Sie sagten alle: ‚Drohnen‘. Die Historiker sagten: ‚Drohnen‘. Die Humanisten sagten: ‚Drohnen‘. Die Friedensaktivisten sagten: ‚Drohnen‘.“Ich fragte Snyder, ob er dasselbe getan hätte, wenn seine Freunde in Kiew gesagt hätten, sie benötigten eine Offensivwaffe – etwa einen Kampfpanzer? „Nein“, antwortete Snyder. „Da haben Sie mich erwischt. Ich vermute, es zeigt, dass meine Bereitschaft, Prügel zu beziehen, doch begrenzt ist. Es wäre wahrscheinlich in Ordnung, Geld für einen Panzer zu sammeln.“Selbst was die Drohnen-Abwehr betrifft, sagt Snyder, „war ich mir zu 100 Prozent sicher, dass die Leute sagen würden: ‚Seht ihn euch an. Er ist ein Aktivist. Er sammelt Geld für eine Regierung.‘“ Er dachte dabei vor allem an seine Kritiker in Deutschland, „deren Version eines öffentlichen Intellektuellen darin besteht, andere Leute dafür zu kritisieren, dass sie öffentliche Intellektuelle sind“. Snyder sammelte in weniger als drei Monaten mehr als 1,2 Millionen Dollar für das Drohnen-Abwehrsystem. Die Kritik kam wie erwartet, und er sagt, sie habe ihm nur darin bestätigt, die richtige Wahl getroffen zu haben.Snyder ist kein Christopher Hitchens: Er sehnt sich nicht nach dem existenziellen Nervenkitzel pfeifender Artillerie und Kreuzfeuer über seinem Kopf. „Ich habe ganz gewiss nicht das Gefühl, dass der Krieg in der Ukraine die Erfüllung meines Schicksals ist“, sagte er mir. Doch aus seinem Glauben an die Macht der Ideen leitet sich etwas Entscheidendes ab: Eine Idee, die nichts kostet, ist genau das wert, was man für sie bezahlt hat. Wie er während unseres letzten Gesprächs in New Haven sagte, sind gute Ideen „nicht real, solange man nicht bereit ist, einen kleinen Beitrag zu leisten, um sie umzusetzen“.
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