Seit Jahrhunderten halten sich beharrlich falsche Mhyten über den weiblichen Körper. Warum das sogar lebensgefährlich sein kann
Foto: Carlos Ezequiel Vannoni/IMAGO
Es war im 17. Jahrhundert, als Ovarien ihre moderne lateinische Bezeichnung erhielten – in etwa: „Platz für Eier“, zu Deutsch auch: Eierstöcke. Zuvor wurden sie als weibliche Hoden bezeichnet. Man hielt sie für rudimentäre Versionen der männlichen Geschlechtsteile, die entweder „weibliche Spermien“ produzieren konnten oder auch nicht. Es war ein junger niederländischer Anatom namens Regnier de Graaf, der als Erster zeigte, dass sie eigentlich Eier produzieren. Das gelang ihm, indem er frisch gepaarte Kaninchen sezierte. Sein Kommentar: „Als die Natur den weiblichen Körper hervorbrachte, leistete sie die genau ganze Arbeit wie beim männlichen Körper.“
Im 19. Jahrhundert entfernten Chirurgen gesunde Eierst&
de Eierstöcke, um „Krankheiten“ wie Hysterie zu behandeln. Tatsächlich förderten diese unscheinbaren Organe das Wohlbefinden der Frauen auf eine viel grundlegendere Weise. Als das weibliche Sexualhormon Östrogen entdeckt wurde, half das der Wissenschaft zu erkennen, dass Eierstöcke Kraftwerke weiblicher Gesundheit sind, Knotenpunkte in einem komplexen Feedback-Mechanismus zwischen Gehirn und Körper. Sie koordinieren die Produktion von Hormonen, die fast jedes körperliche Gefühl unterstützen, von den Knochen bis zur Entwicklung des Gehirns.Das „Eierkorb“-Konzept ist typisch dafür, wie eindimensional die Wissenschaft Frauen seit Jahrhunderten betrachtete: nämlich als Baby-Produzentinnen. Aber selbst bei Organen, die direkt an der Reproduktion beteiligt sind, kann das zu schlechter Wissenschaft und verpassten Chancen führen.Die Menopause zum Beispiel wird häufig als Ende der „reproduktiven Jahre“ einer Frau beschrieben und als der Punkt, an dem die Eierstöcke „versagen“ oder „erschöpft“ sind. Tatsächlich wissen wir heute, dass die Eierstöcke auch nach dem Übergang weiterhin entscheidende Hormone produzieren. Wissenschaftler:innen haben eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Eierstockstammzellen mit dem Potenzial, neue Eier zu bilden, auch bei Frauen, die sich bereits in der Menopause befinden. Das eröffnet die Aussicht auf neue Behandlungen gegen Unfruchtbarkeit oder hormonelle Störungen und stellt infrage, wie viel wir überhaupt über den Mechanismus wissen, der hinter der Menopause steckt.Die Wurzeln der reproduktiven Voreingenommenheit gehen Tausende Jahre zurück. Im alten Griechenland glaubte man, dass Frauen von ihrer unbändigen Gebärmutter kontrolliert würden. Die Unbotmäßigkeit wurde dabei häufig durch das Versagen verursacht, rechtzeitig Kinder zu bekommen. Wenn eine Frau nach der Pubertät zu lange unverheiratet blieb, dachte man, würde die Gebärmutter der Frau wie ein unerzogenes Kleinkind in ihrem Körper herumtrampeln und alle möglichen unangenehmen Symptome verursachen. Diese Idee entwickelte sich schließlich in die Vorstellung von Hysterie, die ihre Wurzeln im griechischen Wort für Gebärmutter hat: Hystera.Die Klitoris: neu und nutzlosDieses tief verwurzelte Vorurteil führte immer wieder zu Lücken in unserem Wissen vom weiblichen Körper und zu sehr viel Leid: wie am Beispiel Endometriose, einer Krankheit, die entsteht, wenn Gewebe, ähnlich der Gebärmutterschleimhaut, an andere Stellen im Körper gelangt und sich dort ansiedelt. Bis in die 1990er gab es medizinische Lehrbücher, für die die Endometriose eine „Karrierefrauen-Krankheit“ war. Eine Krankheit von Frauen also, die auf Heirat und Kinderkriegen verzichtet hatten, um ihre berufliche Karriere zu verfolgen. Manche Ärzt:innen empfahlen als „Behandlung“ sogar eine Schwangerschaft – und tun das heute noch, trotz der Tatsache, dass dies längst widerlegt ist.Diese Art des Denkens hat also das Verständnis über eine unglaublich häufig vorkommende, schmerzhafte Krankheit (der Freitag 6/2022) behindert. Sowohl Frauen, die bereits ein Kind geboren haben, als auch Mädchen, die noch nicht einmal ihre Periode haben, und auch trans Männer wie nichtbinäre Menschen sind betroffen. Heute sieht die Forschung Endometriose endlich als das an, was es wirklich ist: eine chronische Entzündungskrankheit, die sich im gesamten Körper abspielt.Dieses neue Verständnis öffnet potenziellen Behandlungsmethoden die Tür. Davor verließ sich die Medizin darauf, den Hormonlevel zu manipulieren oder den Menstruationszyklus ganz zu stoppen.Die Reproduktion in den Mittelpunkt der Betrachtung der weiblichen Gesundheit zu stellen, hat Körperteile an den Rand gedrängt, die zwar nominell als Teil „des reproduktiven Systems“ betrachtet werden, aber eigentlich mehr mit Sex und Lust zu tun haben. Insbesondere trifft das auf die Klitoris zu.Der Vater der modernen Anatomie – Andreas Vesalius – tat sie als „dieser neue und nutzlose Körperteil“ ab. In seinen Augen war der weibliche Körper eine Umkehrung des männlichen: Die Vulva war demnach ein nach innen gerichteter Penis und die Eierstöcke innere Hoden. In diesem Konzept hatten die Frauen bereits alle Körperteile, die sie brauchten, eine Klitoris war nicht erforderlich.Es ist kein Zufall, dass die Klitoris im Laufe der Geschichte der Anatomie immer wieder von Männern verloren und wiederentdeckt wurde. In den 1990ern wurde sie in medizinischen Lehrbüchern häufig ausgelassen oder auf ein Minimum begrenzt, mit Diagrammen, die die Klitoriseichel – dem Äquivalent zur Eichel des Penis – als die ganze Klitoris darstellten. Auch heute noch wird das Organ in der medizinischen Ausbildung übergangen und seine Rolle für eine gesunde Sexualfunktion und damit für die Gesundheit im Ganzen heruntergespielt.Das fehlende Verständnis kann zur Verletzung der Klitoris bei Frauen führen, die wegen verschiedenster gesundheitlicher Probleme unters Messer kommen, sei es die Entfernung eines Beckennetzes, ein Harnröhreneingriff, die Entnahme von Gewebe an der Scheide oder sogar eine Hüftoperation. Dass Gynäkologen die Klitoris selten untersuchen, kann auch dazu führen, dass Probleme wie die Verklebung der Klitoriseichel oder Vulvakrebs übersehen oder zu spät diagnostiziert werden. In gewisser Weise sind die Folgen dieser jahrelang verzerrten Wissenschaft offensichtlich: Es besteht eine riesige Wissenslücke, was die Hälfte der Körper auf der Erde betrifft. Die Tatsache, dass die Wissenschaft immer noch nicht genau weiß, wie diese wichtigen Organe funktionieren, wenn sie gerade nicht dazu beitragen, ein Baby zu produzieren, ist – gelinde gesagt – verstörend.Das Mikrobiom des PenisAber die Auswirkungen sind größer als das. Weibliche Gesundheit ist nicht ein eigener Planet, abgetrennt von männlicher Gesundheit. Alle Menschen teilen den gleichen universellen Körperplan, denselben Ursprung in der Gebärmutter, dieselben Hormone und grundlegenden Körperprozesse. Daher haben fast alle diese Phänomene Parallelen im männlichen Körper. So haben etwa Forscher*innen, die sich mit Endometriose beschäftigen, herausgefunden, dass die Entzündungsmuster, die dieser Krankheit zugrunde liegen, sich auch auf die männliche Gesundheit auswirken. Die Erforschung des vaginalen Mikrobioms – also der Mikroben, wie Bakterien oder Pilze, die sich in der Vagina befinden – wirft auch Licht auf das Mikrobiom des Penis. Und das Studium der Menstruation lehrt uns etwas über universelle biologische Prozesse, wie etwa Regenerierung und narbenfreie Wundheilung. Jahrhundertelang hat die Wissenschaft Frauen als wandelnde Gebärmütter, Baby-Produktionsmaschinen und Brutkästen neuen Lebens behandelt. Dieser enge Blickwinkel hat die Forschenden davon abgehalten, Fragen zu stellen und Fortschritte zu erzielen, die weiblich gelesenen Menschen helfen könnten, ein längeres und gesünderes Leben zu führen.Es ist daher Zeit für einen Paradigmenwechsel. Wir müssen den weiblichen Körper endlich als das sehen, was er wirklich ist: eine leistungsstarke Anordnung von ineinandergreifenden Elementen, von denen jedes untrennbar mit dem Ganzen verbunden ist. Wenn die Forschung die fehlenden Teilchen in dieses Bild einfügt, werden am Ende wir alle unser Wissen über alle Körper erweitern.Placeholder authorbio-1