Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Mal? An die bange Angst, die Erwartungen, die an diesen Initiationsritus geknüpft waren? Bei mir war es 1997. Ich öffnete das schwere schwarze Mac Powerbook, das ich gerade ausgepackt hatte und ging mit Hilfe des geduldigen Support-Desk der British Telecom den rätselhaften Prozess durch, einen Account einzurichten. Ich stöpselte verschiedene dicke Kabel ein und lauschte der langsamen Verbindungswahl: Der kleinen digitalen Melodie der Telefonnummer und dem folgenden langen, verheißungsvollen Knarzen und Rauschen der Maschine beim Verbindungsaufbau. Bei diesem elektronischen Schnattern bildete ich mir damals – beim ersten Mal – ein, alle Stimmen der Welt gleichzeitig sprechen zu hören, in die ultimative Party-Verb
"Hoffentlich werde ich nicht süchtig!“
Internet-Spätzünder Obwohl alle Welt surft, bloggt und twittert, waren zehn Millionen Briten noch nie im Internet. Vier davon haben den Schritt nun doch gewagt – aus sehr persönlichen Gründen
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Tim Adams, The Guardian
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The Guardian
erbindung eingeschaltet zu sein.Näher war meine Generation nie dran am Tune in an turn on. Es war im Jahr sieben vor Facebook und im Jahr acht vor You Tube. Amazon war noch die englische Bezeichnung für einen Fluss in Südamerika, Google ein abwegiger Algorhythmus in den Köpfen von Sergey Brin und Larry Page, die damals noch mit dem Gedanken spielten, ihr Projekt „BackRub“ zu nennen.In den seither vergangenen zwölf Jahren (sind es wirklich erst so wenige?) ist es immer schwieriger geworden, sich die Welt ohne Internet vorzustellen. Es ist rasch zu unserem Markt- und Spielplatz, unserer Bibliothek und unserem kollektiven Gedächtnis geworden. Heute, wie immer vor meinem Bildschirm sitzend, fällt es mir ernsthaft schwer, mir mein eigenes prä-1997er-, prä-Keypad-Leben vorzustellen. Wie in aller Welt habe ich die Zeit verbracht? Journalistische Recherchen für eine Story erforderten regelmäßige Märsche in die Zeitungsarchive in Colindale – einem obskuren Winkel Londons, wo ich mich dann in Mikrofilme mit alten Zeitungen vertiefte. Die Suche nach einem Arbeitsplatz, einer Wohnung oder einem Urlaubsziel brachte unter Umständen mit sich, dass man sich in einen Bus setzen und dann nach Aushängen in den Schaufenstern Ausschau haltend die Geschäftsstraßen entlang schleppen musste. Für die eigene Korrespondenz brauchte man Adressen, „herzliche Grüße“, Briefmschläge und immer die passenden Briefmarken. Fremde Welten.Bloggen statt Reden, Twittern statt DenkenDie bisherige Debatte über unser Online-Leben drehte sich größtenteils um die Frage, ob wir der großen Erfindung unseres Zeitalters zu sehr verfallen sind, ob wir zu Erweiterungen unserer Tastaturen werden und bloggen statt zu reden, twittern statt zu denken. Derweil wird eine Tatsache oft übersehen: In Großbritannien leben im Jahr 2009 zehn Millionen Menschen, die noch nie im Internet waren, die eine Homepage oder ein Lesezeichen nicht erkennen würden, denen http und www noch immer unbekannt sind.Dieses Sechstel der britischen Bevölkerung mag sich zwar die Surfsucht erspart haben (und die Verzweiflung, "keine neuen Nachrichten“ erhalten zu haben), doch in immer stärkerem Mäße ist es auch ausgeschlossen von den Möglichkeiten und Themen der Welt. Eine schnelle Google-Suche erbringt bereits Daten in Hülle und Fülle, die diese Beobachtung bestätigen. Da wären zum Beispiel die wirtschaftlichen Zahlen: Wer online einkauft und seine Rechnungen über das Internet bezahlt, „spart im Jahr durchschnittlich 560 Pfund“. Die 1,6 Millionen Kinder in Großbritannien, die das Internet nicht nutzen, würden die Gesamthöhe des in ihrer Lebenszeit erbrachten gemeinsamen Einkommens um 10,8 Milliarden Pfund erhöhen, wenn sie sich morgen einloggen würden. Menschen, die derzeit keine Arbeit haben und lernen, sich in der virtuellen Welt zu bewegen, könnten ihr Gesamteinkommen durchschnittlich um 12.000 Pfund steigern. Und so weiter und so fort – das Internet, eine unerschöpfliche Datenquelle.Nicht nur aus diesen Gründen sind einige Regierungen der Ansicht, ein Breitbandanschluss sei kein Privileg, sondern ein Recht (Finnland sicherte seinen Bürgern dieses Recht kürzlich als erstes Land zu.) Andere Vorteile lassen sich weniger gut in Geldwerten beziffern. Seit es sich durchgesetzt hat, wird dem Internet oft vorgeworfen, zu einer zunehmenden Entfremdung innerhalb der Gesellschaft beizutragen, indem es uns alle zu Egozentrikern in einem abstrakten World Wide Web mache, das jede unserer Launen befriedige. Viele aktuelle Forschungsergebnisse lassen aber darauf schließen, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Technologie verfügt nämlich über jene Fähigkeit, Verbindungen, „Links“ zu schaffen, die der Gesellschaft immer mehr abgeht.Virtuelle Begegnungen gegen die EinsamkeitSo hat sich herausgestellt, dass Zugang zum Internet und die Fähigkeit, sich darin zurecht zu finden, bei 60 Prozent der Menschen, die zuvor nicht darüber verfügten, zu einem Anstieg des Sozialvertrauens führte. Bei neueren Studien zur Internetnutzung unter Menschen, die sich als depressiv bezeichneten, nahmen „Einsamkeitsgefühle“ in 80 Prozent der Fälle ab, nachdem die Betroffenen online gegangen waren. In 20 Prozent der Fälle konnte eine „Heilung“ der Symptome der Depression erreicht werden. Um Menschen das Gefühl zu vermitteln, einer Gemeinschaft anzugehören oder Teil eines Netzwerkes zu sein, gelten virtuelle Unterhaltungen und Interaktionen inzwischen weithin als ebenso wichtig wie Begegnungen in der „echten Welt“.Kürzlich kam eine Untersuchung der Universität von Kalifornien zu dem Ergebnis, dass ältere Menschen, die lernen, das Internet zur Informationsbeschaffung zu nutzen, einen immensen Anstieg der Aktivität „wichtiger Zentren des Gehirns, die für das Treffen von Entscheidungen und logisches Denken verantwortlich sind“ erleben, wodurch „kognitive Prozesse zunehmen und die Abnahme der Hirnfunktionen verlangsamt“ werde.Martha Lane Fox, britische E-Commerce-Pionierin, die sich in ihrer Heimat engagiert für die Internetfähigkeit der Bevölkerung einsetzt, berichtet, zu den häufigsten Reaktionen auf das erstmalige „Drinsein“ zähle lähmende Angst. „Dann kommen die Fragen „Warum drücken Sie zum Ausschalten den „Start“-Knopf?“ oder „Was in aller Welt heißt ‚alt’ und ‚strg’?“. Eigentlich ist immer irgendeine persönliche Verbindung von Nöten, um die Leute rumzukriegen. Etwas, das mit einem ihrer Hobbys zu tun hat, wie zum Beispiel eine Gärtner-Seite oder etwas, dass die Möglichkeit bietet, die Geschichte der eigenen Familie oder des Heimatortes zu erforschen.“Emotionen müssten angesprochen werden, so Fox weiter. Zum Beispiel dadurch, dass man auf Flickr die Fotos der Enkel anschauen kann, oder die Entdeckung, dass der Supermarkt das Gemüse auch zu einem nach Hause liefert. Anekdoten seien die besten Erzieher, Gleichaltrige die besten Lehrer. Und eins wissen wir doch alle: Nach dem ersten Mal gibt es kein Zurück mehr.Der Bauarbeiter: Russ Flaherty, 32, aus SheffieldRuss Flahertys Freundin ist bestimmt froh darüber, dass er sich endlich mit dem Internet vertraut gemacht hat. Bislang hat sie sich nämlich, „um alles gekümmert“, wie er selbst sagt.„Ehrlich gesagt“, räumt Russel ein, „bin ich ein bisschen faul. Aber inzwischen ist es höchste Eisenbahn, dass ich mich selber damit beschäftige.“ Wegen seiner Arbeit als Bauarbeiter hatte er bisher kaum Grund das Internet zu nutzen. Doch seit er sich vor kurzem selbstständig gemacht hat, hat er gemerkt, dass es ohne nicht mehr geht. „Heute wird doch alles online abgewickelt – Rechnungen, Konto, Steuern, alles. Alles ist darauf ausgerichtet.“Einmal online hat er als erstes einen Lieferwagen gesucht. „Dabei kann man die Preise vergleichen und so Zeit sparen und muss zum Suchen nicht selbst loziehen“ Neulich hat er im Internet Flyer für sein Unternehmen gestaltet und nach einem Urlaubsort für einen weihnachtlichen Skiurlaub in Bulgarien gesucht. Inzwischen, sagt er, „gehe ich als erstes ins Internet, wenn ich etwas brauche oder haben möchte.“Wünscht er sich manchmal das Internet schon früher für sich entdeckt zu haben? „Schon, weil man sich ein bisschen fühlt, als sei man hinter seiner Zeit zurückgeblieben. Mit Facebook war es auch so. Alle meine Freunde sind da und ich habe immer gedacht: „Meine Güte, habt ihr nichts Besseres zu tun?“ Aber es ist eine Sucht, oder? Wenn man einmal angefangen hat, ist man drin.“ Hat das Internet sein Leben verändert? Er lacht: „Sagen wir mal so: Es hat mir geholfen!“Der alleinerziehende Vater: Pete Taylor, 48, pflegt rund um die Uhr seinen SohnAls der alleinerziehende Vater vor einer Woche das erste Mal ins Internet ging, war es ihm am allerwichtigsten, sich bei Facebook anzumelden. Er pflegt ganztags seinen an der seltenen und unheilbaren Krankheit Adrenoleukodystrophie (ALD) leidenden, 27-jährigen Sohn Russel. Sein Sozialleben „ist futsch. Doch seit ich bei Facebook bin, rufen mich Leute an, die ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen habe. Ich habe neue Freunde gefunden und sogar Verabredungen getroffen. Es klingt blöd, aber mit dem Internet hat man etwas, worauf man sich freuen kann.“Der selbsternannte Technologie-Phobiker hat in weniger als einer Woche gelernt, Dinge online zu stellen. „Ich wurstele nicht einfach vor mich hin! Ich habe schon Fotos von einem Wochenendurlaub bei Facebook eingestellt.“Neben dem „bisschen Eskapismus“, den die Social Networks im Netz ihm bieten, nutzt Pete das Internet auch für seine Aufgaben bei der Pflege seines Sohnes und hat sich Online-ALD-Selbsthilfegruppen angeschlossen. „Russels Krankheit ist unheilbar und wirklich selten, aber nun kann ich zu anderen Menschen Kontakt halten, die im selben Boot sitzen und wir können uns austauschen,“ erklärt er. „Jeden Tag fallen mir Sachen ein, die ich online machen kann und die mir das Leben vereinfachen. Schreibt mir beispielsweise das Krankenhaus einen Brief, kann ich einfach per E-Mail antworten. Ich habe schon online eingekauft. Ich musste ein Bett kaufen und war schon drauf und dran, meinen Mantel anzuziehen und durch die Läden zu rennen, doch dann dachte ich. „Moment mal, ich hab doch einen Computer hier.“Pete hatte schon länger darüber nachgedacht, sich einen Internetanschluss einzurichten, fürchtete aber, dass das kompliziert und teuer sein würde. Als eine örtliche, von der Stadt Bristol finanzierte Initiative namens The Knowle West Web Project ihm dann einen kostenlosen Computer, einen Funkanschluss und eine Schulung anbot, war er gleich dabei. „Das war ein glücklicher Tag. Jetzt bin ich jeden Tag im Netz. Es ist bereits zur Notwendigkeit für mich geworden.“Die Großmutter: Caroline Williams, 79, RentnerinCaroline Williams, die zwischen Sportkursen, Chor und Besuchen bei der im gesamten Vereinigten Königreich verstreuten Familie noch ihre Enkel von der Schule abholt, hat auch als Pensionärin noch den hektischen Lebensstil eines Teenagers – bis vor kurzem allerdings ohne Internetzugang. „Ich habe mich jahrelang dagegen gewehrt, online zu gehen. Ich bin ohnehin schon so beschäftigt und dachte mir, dass ich die vergangenen 79 Jahre ja auch ohne zurechtgekommen bin.“Doch nachdem ihre Internet-begeisterten Kinder und Kindeskinder ihr lange genug zugeredet hatten und ihre Tochter ihr einen Laptop spendierte, ist auch Caroline inzwischen online. Außerdem hat sie zwei Schulungen in einem Zentrum absolviert, das sich um die Belange älterer Menschen kümmert und in ganz Großbritannien Internetkurse für Senioren anbietet. Dort hat sie eine gute Lernumgebung für ängstliche Anfänger vorgefunden: „Die Ehrenamtlichen dort waren allesamt Pensionäre, die den Umgang mit dem Computer erlernt haben. Sie haben eine angenehme Atmosphäre geschaffen und waren eine große Hilfe. Lächerlich, dass ich die Sache so lange vor mir hergeschoben habe – es ist ja wirklich einfach.“Caroline, der besonders viel daran lag, ihre Familienbesuche im ganzen Land einfacher organisieren zu können, ist es bereits gelungen, im Internet vergünstigte Zugtickets zu erstehen und Land- und Stadtkarten zu finden. „Meine älteste Enkelin hat gerade ein Studium am Royal Holloway College aufgenommen und ich wollte sie besuchen und zum Mittagessen ausführen. Im Internet habe ich einen Stadtplan gefunden und herausbekommen, welche Züge und Busse zu ihr fahren.“ Und Caroline hat schon neue Pläne: „Als nächstes steht ein E-Mail-Konto an. Außerdem höre ich im Radio oft den BBC-Sender Radio 4, verpasse aber oft Teile von Sendungen. Deshalb möchte ich lernen, wie ich sie mir im Internet noch einmal anhören kann.“ Würde sie sagen, dass ihre Familie es erfolgreich geschafft hat, sie zu Internet zu bekehren? „Oh ja, ich merke schon, dass es noch ganz schön nützlich sein wird. Hoffentlich werde ich nicht süchtig!“Der junge Mensch: Anthony Fisher, 20, StudentBis vor einer Woche hat Anthony noch keine einzige E-Mail versandt, womit er unter seinen Altersgenossen einer echten Minderheit angehört. Er erklärt, das Internet sei ihm bislang „einfach zuviel gewesen. Das hatte wahrscheinlich mit meinem Selbstbewusstsein zu tun.“ Nun allerdings haben seine Kollegen von dem Jugendprojekt, bei dem er momentan ehrenamtlich arbeitet und wo er demnächst eine Ausbildung anfangen wird, ihm geholfen, ein E-Mailkonto einzurichten und sich mit Google, You Tube und Co. zurechtzufinden.„Ich fand, es war an der Zeit, es zu lernen“ erzählt Anthony. Internetfremd zu sein habe ihn „ ziemlich stark beeinträchtigt, weil man als Jugendarbeiter Computerkenntnisse haben muss, um Ausflüge planen, Risikoeinschätzungen vornehmen und ähnliche Sachen machen zu können.“ Und abgesehen von ein paar technischen Problemen komme er „zu 70 Prozent“ auch ganz gut klar. Im Fall der anderen 30 Prozent scheint das Hauptproblem zu sein, dass Anthony in den Weiten des WWW schon mal die Orientierung verliert. „Das Internet ist einfach so riesig. Vertippt man sich mal, landet man gleich auf der falschen Seite.“Bei den Recherchen für die Prüfungen für seine Ausbildung war das Internet dem jungen Mann bereits eine große Hilfe. Doch auch die Möglichkeiten zum Amüsement sind ihm nicht entgangen. Sein bester Internet-Fund ist eine Folge der Serie CSI, die in seiner Heimat noch nicht ausgestrahlt wurde. „Ich würde auf jeden Fall sagen, dass ich was verpasst habe,“ sagt Anthony. „Mir hat sich wirklich eine ganz neue Welt eröffnet.“ Wird er auch seine Freunde mit You Tube und dergleichen bekannt machen? „Klar – meine zwei Bekannten, die noch nicht online sind!“
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