Ich lebe allein, und das seit nunmehr 20 Jahren. Ich meine damit nicht nur, dass ich keinen Partner habe – viele würden meinen Zustand wohl eher mit Isolation beschreiben als mit Einsamkeit. Ich lebe in einer Gegend Schottlands mit besonders geringer Bevölkerungsdichte. Hier gibt es so wenige Menschen auf einem Quadratkilometer wie kaum irgendwo sonst in Europa. Der nächste Laden ist 16 Kilometer entfernt, der nächste Supermarkt 32. Es gibt kein Handy-Netz und nur sehr wenig Verkehr auf der einspurigen Straße, die 400 Meter unterhalb meines Hauses verläuft. Es kommt vor, dass ich den ganzen Tag über keinen anderen Menschen zu Gesicht bekomme. Ich liebe das.
Unsere Gesellschaft hat allerdings ein ernsthaftes Problem mit Einsamkeit. Wer allein lebt, muss sich besorgte Fragen nach seiner Identität und seinem Wohlbefinden gefallen lassen. Wie ist es dazu gekommen, dass wir kulturell an einen Punkt gelangt sind, an dem Autonomie, persönliche Freiheit und Individualität einen so hohen Stellenwert einnehmen wie noch nie zuvor, während wir zugleich eine Heidenangst davor haben, mit uns allein zu sein?
Individualismus und Angst vor Einsamkeit
Wir sind der Überzeugung, dass unsere Körper uns gehören und uns erlaubt sein sollte, mit ihnen zu machen, was wir wollen – von Sterbehilfe bis zu Brustvergrößerungen. Doch wir wollen mit diesem wertvollen Besitz nicht allein sein. Wir leben in einer Gesellschaft, die ein hohes Selbstwertgefühl als Indiz für persönliches Wohlbefinden betrachtet. Aber mit diesem bewunderns- und begehrenswerten Menschen allein sein? Bloß nicht!
Wir sind davon überzeugt, dass jeder eine einzigartige, ganz persönliche „Stimme“ besitzt. Aber uns ist jeder zutiefst verdächtig, der eine der beste Methoden anwendet, sein kreatives Potenzial zu entwickeln – die Einsamkeit. Wir sehen in persönlicher Freiheit und Autonomie sowohl ein Recht als auch einen Wert, aber wir halten jeden, der diese Freiheit autonom nutzt, für „schwermütig, verrückt oder krank“ – oder alles auf einmal.
„1980 ergab ein Erhebung, dass sechs Prozent aller britischen Männer über vierzig nie heirateten“, schrieb Vicky Ward im Londoner Evening Standard in einem bezeichnenden Artikel. „Heute sind es 16 Prozent. Man nennt sie Junggesellen und meint damit bestenfalls, dass sie ‚Probleme‘ haben. Schlimmstenfalls, dass es sich um Soziopathen handelt. Man macht sich Sorgen um sie, so wie die Gesellschaft sich früher traditionell nur um alleinstehende Frauen sorgte. Sie begreifen nicht, wie einsam sie später einmal sein werden. Ich hatte auch einmal einen solchen Freund, der lange allein gelebt hatte. Als er mich besuchte, um mir zu sagen, er wolle heiraten, fiel mir ein Stein vom Herzen: Endlich war er ein ganzer Kerl!“
Vom Stolz zur Schmach
Im Mittelalter war das englische Wort spinster für eine alleinstehende Frau positiv besetzt. Es war eine Frau, die gut spinnen konnte und dadurch finanziell unabhängig war – eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen, damals ökonomisch auf eigenen Beinen zu stehen. Dann wurde das Wort auf Frauen ausgeweitet, die kurz vor der Hochzeit standen. Man sagte so, dass sie die Ehe aus freien Stücken eingingen und nicht, weil finanzielle Not sie drängte. Heute ist spinster eine Beleidigung, denn wir sorgen uns um alleinstehende Frauen. Und jetzt auch um Männer.
Meine Mutter ist kurz nach ihrem sechzigsten Geburtstag verwitwet. Die restlichen 25 Jahre ihres Leben lebte sie allein. Ich glaube nicht, dass sie sich jemals mit ihrem Status als Single versöhnt hat. Sie wurde von vielen Menschen sehr geliebt, aber nach dem Tod meines Vaters fühlte sie sich zutiefst einsam und konnte es nicht ertragen, dass ich meine Einsamkeit genoss. Sie warf mir vor, selbstsüchtig zu sein. Es sei egoistisch, allein zu sein und das auch noch zu genießen.
Was aber ist so verwerflich daran, allein zu leben? Es ist schwer zu verstehen, was die Leute im Einzelnen meinen – wahrscheinlich wissen sie es selbst nicht so genau. Wenn einem zum Beispiel vorgehalten wird, es sei traurig, wenn jemand allein lebe, dann kann man das schlichtweg nicht widerlegen. Nicht etwa, weil es wahr wäre, sondern weil die Person, die so etwas sagt, sich anmaßt, mehr über einen zu wissen als man selbst. Da kommt man einfach nicht gegen an. Erwidert man: „Nein, eigentlich bin ich sehr glücklich“, wird einem auch das als Beweis ausgelegt. Einmal sagte man mir: „Das bildest du dir nur ein. Du denkst nur, du seist glücklich.“
Wieviel Einsamkeit ist zuviel?
Die Vorwürfe, man sei verrückt oder krank, lassen sich da schon leichter entkräften. Erst einmal müsste geklärt werden, wieviel Einsamkeit die Kritiker als „zu viel“ betrachten. Ab wann haben wir den Eindruck, dass sich jemand zu einem gefährlichen Spinner entwickelt? Schließlich macht es doch wohl einen Unterschied, ob jemand lieber allein badet oder ob er auf eine einsame Insel zieht, die nur während des Hochwassers im Frühjahr erreichbar ist.
Bekanntlich ist alles relativ. Ich lebe zwar ein Leben in ziemlicher Einsamkeit. Aber an den meisten Tagen kommt Neil, der Postbote, vorbei. Der nette junge Landwirt, der sich um die Schafe kümmert, die hier oben bei mir weiden, kommt mindestens drei- bis viermal in der Woche auf seinem Quad vorbei und winkt mir freundlich zu. Ich besitze ein Telefon und gehe jeden Sonntag zur Kirche. Ich habe Freunde und Kinder und manchmal besuchen sie mich. Ich kenne die Lebensumstände jedes Menschen, der im Umkreis von acht Kilometern lebt. Und selbst wenn ich in noch größerer Einsamkeit leben würde, wäre da noch immer das Netz sozialer Abhängigkeiten: Ich lese Bücher, die von Menschen geschrieben sind. Ich kaufe Lebensmittel, die von anderen produziert wurden. Ich lege den Lichtschalter um und das permanent gewartete Netz macht es möglich, dass in meinem Wohnzimmer die Lichter angehen.
Die Folgen der Psychoanalyse
In seinem Buch Solitude versucht Philip Koch die Vorwürfe gegenüber allein lebenden Menschen zu rationalisieren, um sich mit ihnen auseinandersetzen zu können:
1. Einsamkeit ist unnatürlich. Der Homo sapiens ist entwicklungsgeschichtlich ein Herdentier. In Solitude and Privacy geht Paul Hamlos davon aus, dass uns allen ein biosozialer Trieb angeboren ist: „Menschen hatten schon immer ein starkes Bedürfnis danach, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen, nach Nähe zu Kameraden und Kooperation von Angesicht zu Angesicht. Ein einzelnes Exemplar einer grundsätzlich geselligen Spezies kann niemals wirklich unabhängig sein und sich vollständig selbst versorgen. Die natürliche Auslese hat dazu geführt, dass man sich allein auf Dauer unvollständig fühlt.“ Wer das anders empfindet – so die Folgerung –, der kann nur aus der Art geschlagen oder krank sein.
2. Einsamkeit ist pathologisch. Psychologie, Psychiatrie und insbesondere Psychoanalyse halten beharrlich daran fest, dass persönliche Beziehungen – idealerweise sowohl emotional als auch sexuell erfüllende – für ein gesundes und glückliches Leben unabdingbar sind. Diese Vorstellung geht auf Freud zurück und wurde von Bindungstheoretikern weiterentwickelt. Sie wird heute für gewöhnlich von allen Vertretern der Disziplin gelehrt.
3. Einsamkeit ist gefährlich. Sie ist physisch gefährlich, weil einem selbst bei einem kleineren Unfall niemand helfen kann. Und sie ist psychisch gefährlich, weil einem die normalen Realitätskontrollen fehlen. Niemand wird die frühen Alarmzeichen bemerken.
Das Beispiel Greta Garbo
Ich bin aber mit der Meinung nicht allein, dass all diese Behauptungen in sich nicht stimmig sind und keine Differenzierungen zulassen. Außerdem gibt es zahlreiche Gegenbeispiele von Menschen, die ein Leben großteils allein und zugleich gelungen geführt haben: Greta Garbo war zum Beispiel eine berühmte Einzelgängerin, obwohl sie den Wunsch, allein zu sein, nie so offen aussprach wie die russische Ballerina, die sie in Grand Hotel spielte.
Garbo war so erfolgreich, dass sie sich im Alter von 35 Jahren nach 28 Filmen zurückziehen konnte. Gegen Ende ihres Leben – sie wurde 85 – sagte sie ihrem Biografen: „Ich mochte meine Arbeit nicht und musste mich wirklich an vielen Tagen zwingen, ins Studio zu gehen. Eigentlich wollte ich ein anderes Leben führen.“ Das tat sie dann. Nach dem Ende ihrer Karriere lebte sie in den Tag hinein. Ab und zu traf sie sich mit Freunden. Sie heiratete nicht, hatte aber ernsthafte Beziehungen mit Männern ebenso wie mit Frauen. Sie sammelte Kunst und lehnte alle neuen Filmangebote ab.
Zu allen Zeiten und in allen Kulturen hat es immer wieder Menschen gegeben, die sich zurückzogen, wie Garbo dies tat. Für gewöhnlich werden sie nicht zu Serienmördern, Kinderschändern oder Monomanen. Manche von ihnen werden sogar zu großen Künstlern oder kreativen Denkern – auch wenn natürlich nicht jeder, der gerne allein ist, ein Genie ist. Und es auch nicht jedes Genie vorzieht, für sich zu sein.
Sara Maitland, 63, hat mehrere Romane und Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht
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