"Ich bin ein Adrenalinjunkie"

Lewis Hamilton Lewis Hamilton ist der jüngste, schnellste und ehrgeizigste Rennfahrer, den die Formel 1 je hatte. Doch in dieser Saison ist alles anders: Hamilton verliert plötzlich

Kurz nachdem er Ende Juli beim großen Preis von Ungarn als erster über die Ziellinie gefahren war, löste Lewis Hamilton den Sicherheitsgurt, stieg auf das Kohlefaser-Fahrgestell seines McLaren-Mercedes und hämmerte mit den Fäusten gegen die Karosserie. Was da zu sehen war, war nicht Frust, sondern überbordende Freude. Ein noch nie dagewesener Ausbruch der Erleichterung von einem der diszipliniertesten Sportler der Welt. Nach den schlimmsten sechs Monaten seines Lebens war er wieder zurück im Geschäft.

Der 24-jährige, aufgewachsen in einer Sozialbau-Siedlung im britischen Stevenage, hatte den wohl spektakulärsten Einstieg in die Formel 1, seit es sie gibt. 2007 brach er alle Rekorde für Debütanten und fuhr so ausgezeichnet, dass er seinen Teamkollegen, den bereits zweifachen und amtierenden Weltmeister Fernando Alonso an den Rand des Wahnsinns trieb. In der vergangenen Saison wurde er in Brasilien beim spannendsten Zieleinlauf der Geschichte der jüngste Formel 1-Champion aller Zeiten: In der letzten Kurve zog er auf regennasser Fahrbahn an Timo Glocks Toyota vorbei und sicherte sich den Titel. Er war so ehrgeizig, dass er nach eigener Aussage nicht einmal beim Formel 1-Spielen auf der Play Station seinem an zerebraler Kinderlähmung erkrankten Halbbruder den Sieg überlassen konnte.

Dieses Jahr allerdings fand Hamiltons Höhenflug vorläufig ein plötzliches Ende. Seinen Platz ganz oben auf dem Siegertreppchen nimmt jetzt sein britischer Landsmann Jenson Button ein. Der fünf Jahre ältere Button ist in vielerlei Hinsicht der Anti-Hamilton – ein alberner Playboy, dem allen Anschein nach die Aggressivität und der Ehrgeiz fehlten, um in der Formel 1 große Erfolge zu feiern. Die Saison 2009, die am kommenden Samstag mit Runde 14 von 17 in Singapur fortgesetzt wird, hat jedoch manch einen ins Grübeln gebracht: Vielleicht ist Button doch nicht bloß ein Kaspar und Hamilton doch kein kaltblütiger Automat.

Nach dem Großen Preis von Australien im März wurde Hamilton für schuldig befunden, die Rennkommissare belogen zu haben, wodurch ein anderer Fahrer disqualifiziert wurde. Er fiel in Ungnade. Daran änderte auch sein Sieg in Ungarn nichts. Mit seiner Kompromisslosigkeit hat sich Hamilton innerhalb der Formel 1 nicht viele Freunde gemacht. In seinem Heimatland wiederum hat sein Image mit der unglücklichen Ankündigung, er werde an den Genfer See ziehen, den größten Schaden genommen. „Ich denke nicht, dass die Öffentlichkeit ein Problem damit gehabt hätte, dass ein Formel 1-Fahrer aus dem Land zieht“, meint BBC-Rennreporter Ted Kravitz. „Es lag an den Gründen, die er anführte: ‚Ich kann in London nicht mehr ausgehen. Ich werde belästigt und ich mag es nicht.‘ Das war sehr schädlich.“

Vor der vergangenen Saison hatte Red Bull-Pilot Mark Webber mit aus heutiger Sicht treffender Hellsichtigkeit zur Vorsicht gemahnt: „Er ist schnell und jung und schwarz, was ihn in seinem Sport einzigartig macht. Er wird nicht aufhören schwarz zu sein, aber das wird irgendwann nichts Neues mehr sein.“ Trotz seines Erfolgs fiel es vielen immer schon schwer, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Ihnen ist er zu schön, zu kontrolliert, zu arrogant.

Legendärer Händedruck

„Der Verkehr war furchtbar“, sagt Hamilton, als er ein paar Minuten zu spät zum Interview eintrifft. Es klingt, als sei er nicht zur morgendlichen Rush-Hour durch Londons Straßen gefahren, sondern habe bei einem Grand Prix lästige Backmarker überholt – Schlusslichter, die abgehängt sind. Er fixiert sein Gegenüber ohne Augenzwinkern. Sein fester Händedruck ist legendär. McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh erinnert sich noch daran, wie schon der Handschlag des 10-jährigen Hamilton ihn erstaunt habe: „Es war ziemlich surreal, als er noch ein kleiner Junge war. Lewis hatte schon immer diese zielgerichtete Entschlossenheit.“

Hamilton trägt einen Kapuzenpulli, Jeans und weiße Reeboks mit Neon-Schnürsenkeln. Das klingt nach einen schluffigen Outfit, an ihm aber sitzt es makellos. Er ist klein gewachsen und kraftvoll, hat einen Hals wie ein Baumstamm (seine Kragenweite hat sich während seiner ersten Formel-1-Saison um mehr als zweieinhalb Zentimeter vergrößert) und abstehende Obama-Ohren. Heute ist er, den Ted Kravitz in der ersten Hälfte der Saison als „absolut niedergeschlagen“ beschrieben hatte, eindeutig gut drauf. Er hat sich seinen Sieg in Ungarn noch einmal angeschaut und zweifellos hat ihn das aufgebaut. Normalerweise guckt er sich seine Rennen nicht an, aber er hat bei seiner Familie übernachtet und brauchte eine Beschäftigung während das Abendessens. „Ich muss mir immer irgendetwas angucken, während ich esse, sonst langweile ich mich“, offenbart er. „Ich bin Rennfahrer, ein Adrenalinjunkie. Bei niedriger Herzfrequenz schlafe ich ein.“

Aber er hatte auch sehen wollen, wie er auf dem Bildschirm rüberkommt. „Es ist gut, einmal die Perspektive der Öffentlichkeit einzunehmen.“ Hat er etwas dabei gelernt? „Es ist lustig, dabei meinen Vater anzuschauen,“ lautet die Antwort. „Er ist so ernst, als ob er selbst fahren und das Rennen kontrollieren würde. Darüber haben wir einfach gelacht.“

Anthony Hamilton – Vater, Manager, Agent – ist eine umstrittene Figur in Lewis Karriere. Obwohl er selbst keinen Renn-Hintergrund hat, hat er seinen Sohn von jungen Jahren an zu einer ultimativen Fahrermaschine geformt – mit erstaunlicher Detailgenauigkeit. So achtete er etwa darauf, dass Lewis sein Go-Kart sauber hielt, weil er wusste, dass McLaren das gefiel. Als Hamilton den Geschäftsführer von McLaren, Ron Dennis, zum ersten Mal traf, war er zehn. Hamilton sagte ihm, er wolle seine Formel-1-Wagen fahren, Dennis erwiderte, er solle in neun Jahren wiederkommen. Als Hamilton 13 war, begann McLaren ihn unter anderem mit Kart-Wagen und Motoren zu unterstützen.

Es fällt schwer, die Hartnäckigkeit nicht zu bewundern, die Anthony – der während Lewis Kindheit zeitweise drei Jobs gleichzeitig hatte und unter anderem Immobilienverkaufs-Schilder gegen einen Lohn von 50 Cent pro Stück aufstellte – an den Tag gelegt hat, um ein Kind eines weißen und eines schwarzen Elternteils ohne Beziehungen an die Spitze des reichsten Sport zu bringen, in dem Vitamin B so wichtig ist, wie in kaum einem anderen. „Mein Vater ist bei jedem einzelnen Rennen meines Lebens dabei gewesen,“ erzählt Hamilton. „Auch heute umarmen wir uns immer vor der Qualifikation und noch einmal vor dem Rennen. Und wir machen jedes Mal unseren Handschlag, den ich mir mit acht ausgedacht habe.“

Absolutes Pleite-Auto

Man könnte es Glück nennen, dass er seine Karriere in einem starken Team wie McLaren begann, doch seine Leistungen zeigen, dass das Glück nur geringen Anteil an seinem Aufstieg hatte. „Ich habe einfach nie stillgestanden,“ sagt er selbst. „Ich muss alles gewinnen.“ Wie lässt sich da diese Saison erklären? Es ist nicht so, dass Hamilton seine Nerven oder seinen Biss verloren hätte. Button glaubt ironischerweise sogar, er sei dieses Jahr besser gefahren als phasenweise im Vorjahr. Die eigentliche Frage muss lauten: Wie ist McLaren mit seiner absoluten Vormachtsstellung zu einem Rennstall geworden, dessen Autos sich wie Traktoren fahren? Die Antwort ist in den Untiefen der Formel-1-Politik zu finden.

Die Saison 2009 begann mit technischen Regel-Änderungen. Dabei gab es drei Hauptziele: Verbesserte Sicherheit, Kostenreduktion und eine höhere Anzahl Überholungen. Letzteres sollte den Sport spannender machen, was aber nicht wie geplant gelang. Dem beiläufigen Zuschauer mag der Unterschied nicht auffallen, doch die Autos, die im März in Australien an den Start gingen, wirkten im Vergleich zu denen vom Vorjahr erheblich gestutzt. Eine Vielzahl von aerodynamischen Vorrichtungen, Luftkaminen und -leitblechen oder Hupen war verboten worden. Ohne, so die Hoffnung, könnten die Autos besser im Windschatten eines anderen fahren und leichter überholen. Einige Teams fanden geniale Wege bei der Neukonstruktion. Jenson Buttons Stall Brawn zum Beispiel. McLaren-Mercedes und Ferrari eben nicht.

Die beiden traditionellen Speerspitzen des Sports setzten ihre Hoffnung auf ein Energierückgewinnungssystem namens KERS (Kinetic Energy Recovery System), das besonders beim Start eine erheblich größere Beschleunigung erlaubt. Diese Gewinne werden aber durch das Zusatzgewicht am Wagen wieder aufgewogen. Die Saison, die für McLaren ohnehin schlecht gestartet war, lief immer schlechter. Der Tiefpunkt war im Juni beim Großen Preis von Großbritannien erreicht, wo Hamilton sich als Achtzehnter qualifizierte und das Rennen als Sechzehnter beendete. Hamilton beschreibt es mit sich verlierender Stimme so: „Ich kann gar nicht erzählen, wie schwierig die Situaion war. Es macht einen fertig, wenn man weiß, dass man siegen kann, aber es nicht schafft. Der Teamgeist aber bei McLaren ist unglaublich.“

Bei dem Fotoshooting im Anschluss an das Interview entspannt er sich ein wenig. Er hatte sich Fragen nach seiner Freundin, der Pussycat Dolls-Frontfrau Nicol Scherzinger verbeten, verleugnet ihre Existenz dann aber doch nicht ganz. Als der Fotograf ihn bittet, sich im Profil zu zeigen, plaudert er aus, dass Nicole sich am liebsten von einer bestimmten Seite fotografieren lasse (unseren Recherchen zufolge dürfte es die linke sein), sagt dann aber honigsüß: „Ich finde sie sieht aus jeder Perspektive ziemlich gut aus“. Außerdem gibt er preis, dass (weltexklusive Information!) seine Lieblings-Pussycat-Dolls-Choreografie die zu „Jai Ho!“ ist. Es folgt eine bizarres Gespräch, in Laufe dessen er einige eindrucksvolle Roboter-Moves zum Besten gibt. „Tanzen kann ich auf jeden Fall“, gibt er an. Seit dieser Woche rätselt die Klatschpresse, ob seine Trennung von Scherzinger der Grund dafür gewesen sei, dass er beim Rennen in Monza kurz vor dem Ziel gegen die Leitplanke krachte.

Selbstbewusst ist Hamilton ganz gewiss, doch selbst nachdem man drei Stunden in seiner Gesellschaft verbracht hat, lässt sich kaum sagen, was für ein Mensch er ist. Seit dem Alter von sieben Jahren führt er ein Leben, das einzig auf eine Sache ausgerichtet ist. Jetzt, mit 24, da er den erträumten Erfolg erreicht hat, versucht er vermutlich selbst herauszufinden, wie er wirklich ist.

In unserem Gespräch kehren seine Gedanken immer wieder zu seiner Familie zurück. Er hat zugegeben, sich in der Schweiz einsam zu fühlen. Dort verbringt er einen Großteil seiner Tage mit Trainieren, Essen und Schlafen. Er erzählt, dass er jetzt nach zweieinhalb Jahren zum ersten Mal Besuch hatte. „Ich mache guten Nudelauflauf, Spaghetti Bolognese ...und Hühnernudeln“, erzählt er. Ganz schön viel Pasta. „Ja. Um ehrlich zu sein, gehe ich meist mit Mansour (Oh je, dem Mitbesitzer von McLaren) essen. Er wohnt bei mir in der Nähe.“ Trotz allem, ist die Unabhängigkeit für ihn sehr wichtig gewesen. „Ich vermisse meine Familie ständig, aber ich bin jetzt ein Mann. Ich kümmere mich selbst um mich, ich bezahle meine Rechnungen, ich kümmere mich um meine Familie,“ sagt er stolz. Trotzdem: Nichts ist besser als nach Hause zu kommen und mit seinem Halbbruder Computer zu spielen oder ihn am Steuer eines Wagens zu beobachten. „Er ist ein guter Fahrer. Das Problem ist nur, dass er Angst hat. Angst darf man nicht haben.“

Diese Einschätzung beantwortet die Frage, warum die besten Fahrer in der Formel 1 immer noch so viel wert sind (Hamilton zum Beispiel verdient über 20 Millionen Euro im Jahr). Um wirklich ans Ziel zu kommen, braucht es nicht nur ein gutes Auto. Man muss sich unsterblich fühlen.

Glossar zur Formel 1, der Rennsport-Weltmeisterschaft

Darum gehts: In insgesamt 17 Einzel-Rennen, den Grand Prix, kämpfen verschiedene Konstrukteur-Teams um den WM-Titel. Im Einsatz sind zwei typgleiche Rennwagen sowie zwei Fahrer.
So klingt sie: Njjjööööön. Njjjöööön. Njjjjöööön.
Diese Leute hat sie berühmt gemacht:
Michael Schumacher: bisher erfolgreichster Fahrer ever, in Deutschland so beliebt, dass viele ihn gerne als Bundespräsidenten sähen.
Kai Ebel: RTL-Rennsport-Reportergranate, die in der Harald Schmidt Show mit dem Alter Ego Kai Edel geadelt wurde.
Nikki Lauda: Österreicher, mittlerweile Fluglinienbetreiber (NIKKI), erlitt als Fahrer bei einem Unfall 1976 schwere Brandverletzungen.
Boxenluder: Um es mit Bodo Mrozeks Lexikon der bedrohten Wörter zu sagen: Frauen, die mit Hilfe unkonventioneller Methoden die Aufmerksamkeit prominenter Personen suchen, versuchen das bei der Formel 1 an den Boxen der Rennställe.
Darum gehts dann auch: Geld. Die Teams verdienen hauptsächlich an den Fernseh- und Werbeeinnahmen. Der Saison-Umsatz bewegt sich in Höhe von gut 140 Millionen Euro.
Die politische Frage: Nach und nach dringen auch jene Stimmen in der Öffentlichkeit durch, die in punkto Umweltverschmutzung und Folgen für den Klimawandel die Formel 1 immer schon kritisiert hatten. Neurdings denkt die Branche immerhin ganz trendy über Hybrid-Rennwagen nach. SL

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Gekürzt und übersetzt von Zilla Hofman
Geschrieben von

Tim Lewis, The Observer | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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