Im Musée d’Orsay in Paris beobachtete ich kürzlich folgende Szene: Eine Frau turnte so lange vor Édouard Manets Frühstück im Grünen auf und ab, bis sie sich und das gesamte Gemälde mit ihrem dämlichen Selfie-Stick ablichten konnte. Das Kunstmuseum an der Seine mit seiner einzigartigen Sammlung französischer Impressionisten ist eines der wenigen Häuser weltweit, die den Gebrauch von Selfie-Sticks erlaubt. Im Museum of Modern Art in New York oder auch in den Nationalgalerien in Berlin werden die Teleskopstöcke, mit denen Tablets und Smartphones fürs perfekte Selbstporträt auf Abstand gehalten werden, am Eingang kassiert. Der Fall der Frau, des Manets und ihres Selfie-Sticks zeigt, wie Urlaubsschnappschüsse dank dieser neuen Technik zu einer eigenen Art von Performancekunst werden. Diesem Affen gibt ein neues Museum auf den Philippinen nun Zucker.
Art In Island ist ein Museum, das in Manila explizit für Selfie-Jäger konzipiert wurde – mit „Gemälden“, die man anfassen oder in die man sogar hineinsteigen kann. Die Möglichkeiten, mit den nachgeahmten Kunstwerken zu interagieren und sich mit ihnen zu fotografieren, sind hier nahezu unbegrenzt. Das Museum ist voll mit 3-D-Reproduktionen berühmter Bilder, die nur dazu da sind, den Besuchern die verrücktesten Selfie-Posen zu ermöglichen.
Im Prado geht nichts
Die traditionellen Häuser verfolgen in Bezug auf die Manie der narzisstischen Selbstablichtung höchst unterschiedliche Ansätze. Im Prado in Madrid etwa ist Fotografieren ganz grundsätzlich verboten. Anything goes? Nein, hier geht gar nichts. Die Wärter stürzen sich auf jeden, der eine Kamera zückt. Gleiches gilt für das Museum Brandhorst in München, wo das Verbot 2009 eingeführt wurde, nachdem in den engen Ausstellungsräumen eine Skulptur von unachtsamen Fotografen zerstört worden war. In den anderen Museen der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen ist Fotografieren grundsätzlich erlaubt, der Selfie-Stick nicht, auch hier geht es weniger ums Unterbinden peinlicher Manöver vor den Werken als um deren Sicherheit. Regenschirme, erfährt man auf Anfrage in den großen Institutionen von München bis Berlin, sind ja grundsätzlich auch an der Garderobe abzugeben.
Instinktiv würde ich Selfie-Sticks, Selfies, Kameras und Telefone am liebsten aus allen Museen verbannen. Als das New Yorker MoMa im Februar ankündigte, es werde Selfie-Sticks fortan verbieten, schrieb ich im Guardian, dies sei eine „heroische Idee“. Ich mokierte mich über modernen Touristen, die Kunst nicht mehr genießen können, wenn sie nicht sich selbst davor abfotografieren. Inzwischen bin ich mir fast sicher, dass mein Bauchgefühl falsch ist.
Das neue Selfie-Museum in Manila ist erst einmal eine Skurilität. Aber eben auch eine Warnung an die traditionellen Häuser. Wenn man die Selfie-Fans vergrault, könnte es gut sein, dass sie sich einfach ihre eigenen Galerien errichten, mit Pseudokunst, die Spaß macht – oder sie gehen einfach überhaupt nicht mehr in Kunstgalerien. Am Ende ist es vielleicht doch besser, wenn Fotofans in echte Ausstellungen gehen und sich – wie oberflächlich auch immer – echte Kunstwerke ansehen, als zwischen den Museen und den Kindern des digitalen Zeitalters elitäre Barrieren zu errichten.
So ärgerlich die kurze Aufmerksamkeitsspanne und das oberflächliche Verhalten vor großen Meisterwerken auch sein mögen, Selfie-Jäger sind bei weitem nicht das Einzige, was den Kunstgenuss vermiesen kann. Im Prado hat man vor der Fotografiererei seine Ruhe, es ist aber nahezu unmöglich, sich das bedeutendste Werk der Halle, Velázquez’ Las Meninas, anzusehen, weil eine Reisegruppe nach der anderen die Sicht blockiert. Ich stand da mit den Fingern in den Ohren, um die Kommentare der Museumsführer auszublenden. Mittlerweile verwenden manche Mikrofone, die das Gesagte allen in der Gruppe in Kopfhörer übertragen. Das ist mindestens so surreal wie der Selfie-Wahn.
In den Museen kommt er übrigens auch als Thema an. Die Neue Pinakothek zeigt in München aktuell die Ausstellung KünstlerBilder. Inszenierung und Tradition und will damit bewusst die Frage nach dem „Self-Fashioning“ der Künstler stellen. Selfies mit den Selbstporträts sind selbstverständlich erlaubt. Für die National Portrait Gallery in London hingegen konzipiert der Kunsthistoriker Simon Schama gerade die Ausstellung The Face of Britain. Schama will mit den ausgewählten Porträts auch zeigen, wie konstitutiv der Austausch von Blicken für das menschliche Selbstverständnis und das einer Nation ist. Seine Ausstellung versteht er auch als Aufforderung an die Generation Selfie, sich wieder in die Augen anstatt auf Facebookfotos und Tinder-Profile zu schauen.
Fakt ist aber auch: Der Andrang in den Kunsthallen von Paris, Madrid und London ist gewaltig. Hat es je eine Zeit gegeben, in der mehr Menschen sich Meisterwerke zu Gemüte geführt haben? Sosehr man sich über den Störfaktor ärgern mag: Selfies sind ein Teil der Demokratisierung der Kultur. Kunst ist für alle da – besser, wenn alle sie auf ihre Art genießen, als wenn einige aus den echten Galerien vergrault werden und auf Attrappen ausweichen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.