Skandal In Nordengland wurden 1.400 Kinder über Jahre missbraucht. Unsere Autorin wurde selbst Opfer von Übergriffen – und erlebte, wie quälend die Fragen der Polizei sein können
Alleingelassen: im Zentrum von Rotherham in Nordengland
Foto: Christopher Furlong / Getty Images
Damals war ich elf. An einem bedeckten Oktobertag während der Schulferien fand ich mich allein in einem Zimmer im ersten Stock eines Reihenhauses wieder. Ich saß auf einem Plastikstuhl, hinter mir befand sich ein großer Spiegel, vor mir eine Videokamera auf einem Ständer. In der Ecke stand eine Kiste mit Spielzeug.
Ich war auf der Rückbank eines Polizeiwagens dorthin gebracht worden, und man hatte mir gesagt, ich solle warten, bis die Beamten „Zeit für mich hätten“. Ich war mir nicht sicher, ob ich gefilmt oder heimlich beobachtet wurde. Ich wusste gar nichts, außer dass ich vor Angst erstarrt war. Ich versuchte, meine Augen von dem rot blinkenden Licht an der Kamera abzuwenden. Dabei starrte ich auf das Buch in meinen Händen. Ich las
n. Ich las kein einziges Wort.Systematisches VersagenEinige Zeit später wurde ich nach unten geführt, und man sagte mir, dass ich in dieses Polizeihaus gebracht worden sei, um wegen eines möglichen sexuellen Missbrauchs befragt zu werden. Ich konnte kaum atmen. Die Polizisten boten mir einen Keks an. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich befragt wurde. Eine Stunde, vielleicht auch zwei. Wir saßen an einem Esstisch, während Fragen gestellt wurden und ich leise, einsilbige Antworten gab – wenn ich es konnte. Manche Fragen fand ich besonders schwer zu beantworten.„Was hast du an diesem Abend angehabt?“, fragte eine Polizistin. „Mm, ein Nachthemd?“, murmelte ich. „Ja, aber welche Sorte Nachthemd?“, hakte sie nach. „Mm, weiß nicht, ein ganz normales Nachthemd.“ Ich verstand immer noch nicht. Die Frau wurde deutlicher: „Wie kurz war es?“ Da war mir alles klar. Als ich auf einen Punkt in der Mitte meines Oberschenkels zeigte und Tränen hinunterschluckte, wusste ich, dass ich etwas falsch gemacht haben musste, wenn ich – wohlgemerkt mit elf – von diesem 32-Jährigen sexuell genötigt worden war. Ich musste etwas falsch gemacht haben, indem ich ein kurzes Nachthemd trug.Scham und Schuld stiegen in mir hoch, während die Fragerei weiterging. Hatte ich ihn angefasst? Wo hatte ich ihn angefasst? Und wie? Noch Jahre später hallten diese Worte in meinem Kopf wider, gefolgt von einer unbarmherzigen inneren Stimme, die sagte: „Du bist eine dreckige, kleine Hure.“Erinnert wurde ich daran, als ich vergangene Woche von dem schrecklichen Missbrauch und der sexuellen Ausbeutung las, die 1.400 Kinder, die meisten von ihnen Mädchen, in Rotherham erleiden mussten. Viele dieser Mädchen hatten Kontakt mit der Polizei, aber nur sehr wenige von ihnen wurden wie Opfer behandelt, die Unterstützung brauchten. Einigen schenkten die Behörden überhaupt keine Aufmerksamkeit. Laut dem Untersuchungsbericht der Professorin Alexis Jay wurden sie als „unerwünscht“ und als „Flittchen“ betrachtet, die man am besten sich selbst überlässt.Jetzt hat es einen öffentlichen Aufschrei wegen des systematischen Versagens beim Schutz der Kinder gegeben – und das zu Recht. Auch ich war wütend. Aber ich war nicht besonders geschockt. Und zwar nicht nur, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie Missbrauchsopfer behandelt werden können. Heute beobachte ich diese Art des Versagens regelmäßig immer wieder, jetzt aus einer anderen Perspektive. Da ich weiß, welchen Schaden sexuelle Gewalt im Leben von Menschen anrichten kann und wie wichtig es ist, zur richtigen Zeit die richtige Unterstützung zu erhalten, arbeite ich heute für eine Organisation, die Missbrauchsopfern hilft.Wir haben mit Teenagern zu tun, die sexuell ausgenutzt, vergewaltigt und Gruppengewalt ausgesetzt worden sind. Einige sind Opfer von asiatischstämmigen Männergangs wie in Rotherham, andernorts waren die Täter männliche Weiße oder Schwarze oder gemischte Banden.Die Opfer haben häufig gemeinsam, dass sie ignoriert wurden, dass ihnen nicht geglaubt oder noch schlimmer: ihnen die Schuld gegeben wurde. Es kam vor, dass die Polizei 13-jährige Vergewaltigungsopfer mit „wechselt häufig den Partner“ beschrieb oder 14-Jährige als „Nutten“ bezeichnete. Unzählige Mädchen weigern sich, mit der Polizei zu sprechen, weil sie zu verängstigt sind und sich schämen. Für Mädchen, die eine Missbrauchsgeschichte haben, führen Schuldzuweisungen durch Beamte oder manchmal sogar komplette Leugnung oder Ungläubigkeit zur Zerstörung des wenigen Selbstwertgefühls, das sie noch haben.Ich habe jahrelang versucht, herauszufinden, woher diese Haltung der Behörden kommt. Warum geht man mit vielen Opfern um, als hätten sie keine Hilfe verdient? Wieso bekommen sie den Stempel „aus dem Milieu“ aufgedrückt, als wäre das ein Grund, nichts zu tun? Weil viele von ihnen aus Sozialwohnungssiedlungen kommen? Weil sie oft aus schwierigen Verhältnissen stammen und man sie bereits abgeschrieben hat? Ist das kulturell bedingt? Klassenvorurteil? Oder schlicht Sexismus?Ich verstehe, dass es schwierig für die Polizei ist, mit sexuellem Missbrauch, Ausbeutung und Vergewaltigung umzugehen. Häufig können oder wollen die Opfer nicht aussagen. Manchmal sind sie selbst in Kriminalität verstrickt, und häufig zeigen sie unangebrachte Loyalität zu ihrem Peiniger. Bei vielen Opfern dauert es lang, bis sie erkennen, dass das, was ihnen geschieht, falsch ist und sie es nicht ertragen müssen. Als ich von der Polizei befragt wurde, konzentrierte sie sich auf ein Ereignis, stellte aber nie Fragen zu anderen Missbrauchsvorfällen, die ich erlebt hatte. Ich erwähnte sie auch nicht. Ich war darin trainiert, „unser kleines Geheimnis“ nicht zu verraten, Sachen herunterzuspielen, die Wahrheit zu verdrehen. Das macht der psychologische Prozess bei sexueller Belästigung mit einem. Es ist Teil des Schadens, den der Missbrauch anrichtet. Zweifellos erschwert er es, eine „verlässliche Aussage“ aus einer „verlässlichen Zeugin“ herauszubekommen.Daher ist es so entscheidend, dass Behörden, die mit sexuell Belästigten zu tun haben, durch gute Ausbildung ein Verständnis dafür entwickeln. Wenn Sozialarbeiter, Polizisten und Richter nicht verstehen, worum es geht, werden sie die Täter niemals stoppen können. Um gegenüber den Sozialarbeitern an vorderster Front in Rotherham fair zu sein – sie haben versucht, Entscheidungsträger auf höherer Ebene zum Handeln zu bewegen. Aber die haben nie gehandelt. Irgendwo beim Jonglieren von Budgets und Prioritäten machten sie einen Kompromiss. Und den machten sie dort, wo es keine Kompromisse geben kann: bei der Vergewaltigung von Kindern.Es kostet uns etwasOhne Zweifel werden die Opfer Jahre mit den Folgen kämpfen. Ich kämpfte gegen Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen. Bei ungezählten anderen sind die Folgen Alkoholismus, Drogenmissbrauch, weitere psychische Erkrankungen, ausbeuterische Beziehungen und kostspielige Unterbrechungen ihrer Ausbildung. Ja, es kostet Geld, sexuellen Missbrauch und Ausbeutung zu stoppen. Und es kostet Geld, den Überlebenden bei der Heilung zu helfen. Aber wenn wir eine Gesellschaft haben wollen, die Kinder und Teenager aus allen Schichten schützt, können wir es uns nicht leisten, diese Mittel nicht aufzuwenden.Ich hatte Glück. Nach einem falschen Anlauf mit einer idiotischen psychologischen Beraterin („Wie sehr mochtest du Jungs?“, „Würdest du sagen, dass du Jungs zu gern gemocht hast?“) bekam ich echte Hilfe und konnte mich von dem Trauma erholen. Am Ende gelang es mir zu verstehen, dass ich nicht schuld war. Nun, viele Jahre später, schäme ich mich nicht mehr. Aber ich fühle Wut. Ich bin wütend über die Tausende, die gelitten haben und im Stich gelassen wurden. Unsere Gesellschaft versagt seit Jahren dabei, die Überlebenden sexueller Gewalt zu verstehen und ihnen zu helfen. Das muss sich jetzt ändern.
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