Andrew Nathan hat die Tiananmen Papers herausgegeben, eine Zusammenstellung geleakter Dokumente aus dem Jahr 1989. Er ist China-Experte und arbeitet an der Columbia University
Ich denke, der damalige chinesische Premierminister, Li Peng, hatte recht, sich zu Verhandlungen mit den Studenten bereitzuerklären. Es wäre möglich gewesen, der Zivilgesellschaft etwas reale Macht zuzugestehen. Zhao Ziyang war dazu bereit und konnte durchaus auf eine gewisse Unterstützung der Partei zählen.
Es gab eine Alternative zur Niederschlagung. Selbst Deng Xiaoping erkannte, dass der Vorschlag vernünftig war, bis Li Peng zu ihm kam und ihm sagte, die Studenten würden nach seinem Kopf verlangen. Und auch auf der Seite gab es immer Leute, die sagten: „Wir haben unseren Standpunkt deutlich gemacht, wir sollten uns jetzt besser zurückziehen.“
Wenn wir auf die Zeit zwischen 1978, wo Reformen und Öffnung begannen, und 1989 zurückblicken, so war diese Periode äußerst ambivalent. In Bezug auf das politische Modell schwankte der Kurs ständig hin und her. Deng Xiaoping verfügte über keinen Plan. Die Offenheit für Experimente fand ihr Ende wirklich erst in der Krise von 1989.
Das gegenwärtige System verursacht viele Probleme: Es sorgt für Machtmissbrauch; die Zivilgesellschaft ist unzufrieden; es schafft eine Mittelschicht, die einerseits ziemlich konservativ ist, weil sie von den wirtschaftlichen Reformen profitiert hat, die andererseits aber auch viel von der Regierung erwartet und fordert: Effizienz, Dienstleistungen, Integrität.
Ich glaube, dass die chinesische Wirtschaft auch dann wachsen würde, wenn man sich für mehr Transparenz, eine größere Unabhängigkeit von Justiz und Medien und mehr Kontrollmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft entschieden hätte. Vor allem aber wäre das Land in einem besseren Zustand und stabiler.
Wenn wir von der Demokratisierung Chinas sprechen, führt dies leicht zu Verwirrungen, weil der Begriff so unglaublich weit gefasst ist. Ich habe jedenfalls nie daran gedacht, China könnte die amerikanische Verfassung übernehmen.
Die chinesische Verfassung kennt den Nationalen Volkskongress, ein Staatsoberhaupt, einen Staatsrat und verfügt über ein Kapitel über die Rechte und Pflichten der Bürger. Alles, was gestrichen werden muss, ist der Teil, der besagt, dass dies alles vom absoluten Gehorsam gegenüber der Kommunistischen Partei abhängt. Könnte China heute schon so weit sein, wenn es die Niederschlagung nicht gegeben hätte? Ich denke, ja. Li Peng hatte ein gutes Argument: Wenn wir erst einmal mit der Öffnung beginnen, wird es ziemlich schnell voranschreiten.
Rowena He beteiligte sich 1989 als Schülerin in Guangzhou an den Protesten. Heute ist sie Dozentin an der Harvard University und Autorin des Buches Tiananmen Exiles: Voices of the Struggle
Tiananmen hat nicht 1989 aufgehört. Die chinesische Gesellschaft kämpft mit einer offenen Wunde, die nicht verheilt ist. Lassen wir die großen Worte und Theorien beiseite und wenden uns den menschlichen Dingen zu: Ist es den Menschen gestattet zu trauern, wenn ihre Kinder getötet werden? Das ist ein sehr grundlegendes Recht, das allen Eltern auf der Welt zustehen sollte.
Diejenigen, die an der Macht sind, haben das, was passiert ist, ausradiert und die Geschichte verdreht. Sie haben nicht nur die Fakten verdreht, sondern auch die Werte. Selbst wenn Studenten von heute von der Niederschlagung wissen, äußern sie oft ihr Einverständnis.
Im Laufe der Jahre hat die Politik der Partei einerseits zu höheren Lebensstandrads, einer boomenden Wirtschaft und einer dominanteren Stellung Chinas in der Welt geführt, auf der anderen aber auch große Ungleichheit, massive Korruption, immer schwerwiegendere Umweltprobleme und einen weitreichenden Zynismus in der Bevölkerung hervorgebracht. Der Aufwand, der zur Aufrechterhaltung der Stabilität betrieben wird, wird immer größer und die Aggressivität auf dem internationalen Parkett nimmt spürbar zu.
Chinesische Intellektuelle ergehen sich in Zynismus und scheuen davor zurück, kritisch über gesellschaftliche und politische Themen zu diskutieren: Wer das Spiel mitspielt, gelangt zu sozialem Status und kann ein gutes Leben leben.
Shen Tong war damals einer der Anführer der Studenten. Heute lebt er in den USA und ist dort Teilhaber eines Investment-Unternehmens
1989 gab es drei Möglichkeiten: Erstens, mit halbherzigen Reformen weiterzumachen wie bisher. Zweitens: eine Fortsetzung der friedlichen Straßenproteste wie etwa während der sogenannten Farbrevolutionen oder im sogenannten arabischen Frühling. Ich glaube, in keinem anderen Land hat es jemals einen solch breiten Protest gegeben, der lediglich nach Reformen verlangte, wodurch die Möglichkeit für Verhandlungen und eine friedliche Einigung geboten war.
Es gab ein breites öffentliches Mandat und es gab ganz offensichtlich einen Kandidaten, der bereit war, Reformen einzuleiten: Zhao Ziyang, der zu diesem Zeitpunkt Generalsekretär der KP war. Vielleicht ist es naiv, so zu denken, doch ich bin der Ansicht, dass ein echter Wandel von oben als Reaktion möglich gewesen wäre.
Der dritte Weg war der, den China tatsächlich beschritten hat. Eine Minderheit in der Regierung und der Partei riss die Macht an sich und stellte Zhao für den Rest seines Lebens unter Hausarrest. Die Regierung griff zu ungeheuerlicher Gewalt – Angst und Einschüchterung funktionieren.
Ich habe damals gedacht – und viele liberale Intellektuelle in China denken noch heute so –, dass es uns möglich gewesen wäre, mit einem noch moderateren Vorgehen, das die Empfindlichkeiten der Führung nicht verletzt hätte, das Schlimmste zu verhindern und dass es China dann besser gegangen wäre.
Erst in den letzten Jahren ist mir klar geworden, wie naiv ich gewesen war, denn in Fällen, in denen die Opposition aggressiver vorging, hat dies zu friedlichen Transformationen geführt.
Ob erneute Proteste ebenso friedlich und organisiert ablaufen werden, lässt sich erst sagen, wenn es soweit ist. Die Nacht, bevor sie begannen, waren die Proteste unmöglich. Am Morgen danach waren sie unvermeidlich.
Wang Chaohua war eine der 21 von den Behörden „meistgesuchten“ Studentenführer. Nach dem sie sich monatelang versteckt gehalten hatte, floh sie ins Exil und ist heute Gastdozentin am UCLA
Die politische Liberalisierung hatte bereits an Fahrt verloren. Das Blutbad auf dem Tiananmen machte das nur offensichtlich. Doch wenn die Armee die Proteste nicht niedergeschlagen hätte, hätte die Form des Massenprotestes ein gewisses Maß an Legitimität bewahrt, selbst wenn einige hinterher dann verfolgt worden wären.
Im Laufe der Zeit wurde der öffentliche Raum, sich an der politischen Debatte zu beteiligen, immer enger und enger. Man darf zwar Dinge tun, darf sie aber nicht mit politischen Begriffen erklären. Heute kann alles und jeder „eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ darstellen. Man muss dazu noch nicht mal auf die Straße gehen.
Nach 1989 hat sich die Aufmerksamkeit völlig auf die Städte verlagert. Wann immer sie Anzeichen dafür zu sehen glaubte, die Stadtbevölkerung sei unzufrieden, beeilte sich die Partei, beschwichtigend einzugreifen. Die Landbevölkerung wurde zum Gegenstand von Ausbeutung.
Ich habe Hoffnung, obwohl das Regime sich seiner Macht heute bewusster ist. Die wirtschaftliche Entwicklung hat den Funktionären gezeigt, wie leicht man korrumpierbar wird. Das Regime wird immer ineffizienter und greift immer öfter zu Polizeigewalt.
Ich glaube nicht, dass die Partei sich selbst reformieren kann. Sie ist zu solch einem verwobenen Netz aus Interessen geworden, dass sie nicht mehr zum Funktionieren gebracht werden kann, ganz egal, wie großartig der Mann oder die Frau an der Spitze ist.
Wir waren idealistisch, schließlich waren wir mit all diesen revolutionären Geschichten aufgewachsen. Die Menschen sahen es als ihre Pflicht an, das Land voranzubringen. Wenn sich Tiananmen heute wieder ereignen würde, würde dies nicht aus Idealismus und Leidenschaft, sondern aus Trauer und Wut heraus passieren.
Die kommunistische Partei hat eine goldene Gelegenheit verpasst, sich zu reformieren und sich an Taiwan ein Beispiel zu nehmen: Gebt den Menschen Rede- und Pressefreiheit, entlasst die politischen Gefangenen und die Zivilgesellschaft kann sich entwickeln. Ich denke, die Geschichte ist auf unserer Seite, aber China muss sich seiner Vergangenheit stellen, um eine Zukunft zu haben.
Tania Branigan ist China-Korrespondentin des Guardian
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