An einem schneefreien, aber frostigen Nachmittag zu Beginn des Moskauer Winters läuft ein junger Mann mit ausgemergeltem Gesicht über den riesigen Roten Platz. Unweit des Mausoleums von Wladimir Iljitsch Lenin beginnt er sich auszuziehen. Keine Minute später ist er nackt. Ein mit einer Handkamera gedrehtes Video, das nur wenige Minuten später bereits online sein wird, zeigt ihn dann, wie er auf dem Boden sitzt und sich eine Schar verblüffter Touristen um ihn versammelt. Schon fährt ein Polizeiauto heran, ein Beamter steigt aus und fordert den Mann auf, aufzustehen. Das kann der aber gar nicht. Sein Hodensack ist mit einem langen Nagel ins Kopfsteinpflaster geschlagen.
Diese Aktion war erst die dritte von Pjotr Pawlenski, dennoch gehört der Künstler be
;nstler bereits jetzt zu den faszinierendsten Figuren der zeitgenössischen russischen Kunstszene: Er zeigt mit seinen riskanten Performances radikal wie kein anderer seine Verachtung für die gegenwärtige politische Situation in Russland. Er hat sich nackt in eine Rolle Stacheldraht gelegt, und er hat seine Lippen zusammengenäht. Diese dritte Aktion mit den Hoden hat ihn nun auch international bekannt gemacht.In einer Stellungnahme bezeichnete der 29-Jährige diese Aktion, die er „Fixierung“ nennt, als „Metapher für die Apathie, die politische Gleichgültigkeit und den Fatalismus der russischen Gesellschaft“. Perplexe Polizisten warfen irgendwann eine Decke über ihn, lösten ihn vom Boden, brachten ihn in ein Krankenhaus und ließen ihn, zunächst ohne Anklage, noch am selben Abend nach Hause gehen. Um dann wenige Tage später doch Anklage wegen „vom Hass auf eine bestimmte soziale, ethnische oder religiöse Bevölkerungsgruppe motivierten Rowdytums“ zu erheben. Genau dasselbe hatte man dem Künstlerkollektiv Pussy Riot nach ihrem Auftritt in der Kirche auch vorgeworfen.Auf zur VernehmungZwei Wochen später steht Pawlenski auf dem Bahnhof in St. Petersburg und wartet auf den Nachtzug nach Moskau. Die Polizei hat ihn zur Vernehmung geladen. Es machen Gerüchte die Runde, er würde verhaftet. Wir treffen uns kurz vor Mitternacht. Pawlenski trägt einen ziemlich traurig aussehenden Stoffrucksack über den Schultern. Für jemanden, der möglicherweise Monate hinter Gittern verbringen wird, trägt er überraschend wenig bei sich. „Was meinen Sie?“, fragt er, als ich ihm das sage. „Ich habe Socken dabei, Hosen, alles. Ich bin für alles bereit.“Pjotr Pawlenski klingt entspannt und selbstbewusst, nur in seinem Blick sieht man die nervöse Anspannung. Hat er nie daran gedacht, das Land zu verlassen? „Wäre ich untergetaucht, hätte das alles diskreditiert, was ich vorher gemacht habe. Ich habe mich entschieden, Stärke zu zeigen, weil es nichts zu fürchten gibt. Angst kann man haben, wenn man sich einer Sache schuldig fühlt. Das tue ich aber nicht. Mit allem, was die Behörden gegen mich unternehmen, diskreditieren sie sich selbst.“ So gehe er an seine Kunst heran: „Wenn ich eine solche Performance mache, verlasse ich den Ort des Geschehens nie. Es ist mir wichtig zu bleiben. Ich treibe die Behörden damit in eine Art Sackgasse, sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Sie können jemandem, der sich an einen Platz genagelt hat, nicht befehlen, den Platz zu verlassen. Mit einem in Stacheldraht eingerollten Mann können sie nichts machen.“Der berühmte Galeriebesitzer und Putin-Kritiker Marat Guelman bezeichnete Pawlenskis Aktion als „künstlerische Entsprechung zur Selbstverbrennung“, als Geste der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. „Es war eine an die Gesellschaft gerichtete Botschaft,“ sagte er dem russischen Kunstmagazin Calvert Journal. „Wir alle befinden uns mehr oder weniger in seiner Position. Die Menschen sind in die Ecke gedrängt worden. Sie haben nur die Wahl, das Land zu verlassen, ins Gefängnis zu gehen oder sich mit den Mächtigen zusammenzutun.“Pawlenski hingegen sieht in seiner Aktion ein aggressives Statement des Widerstands. Seine Performances protestieren auch gegen die Apathie der Menschen. „Als ich das Kadaver-Stück gemacht habe, habe ich damit gesagt, die Leute selbst befinden sich in diesem Stacheldraht. Sie werden von ihm gequält und abgehalten, sich zu bewegen, all das bereitet ihnen Schmerzen. Meine Aussage war auch, dass die Leute selbst dieser Stacheldraht sind und dass sie ihn sich selbst schaffen.“Pawlenski wurde in St. Petersburg geboren. Die Kunstschule, die er besuchte, bezeichnet er als „Disziplinareinrichtung, die Künstler zu Dienern machen soll.“ Vor zwei Jahren hat er sie verlassen, ohne das Studium abgeschlossen zu haben. Seine Einflüsse? „Ich interessiere mich sehr für Caravaggio, auch wenn er mit Leinwand und Öl gearbeitet hat. Er hatte ein sehr ernsthaftes Lebensprojekt: das Thema der Selbstverletzung. Caravaggio übertrug tatsächliche Ereignisse auf die Körper seiner Sujets. Er ist dabei kein dekorativer Künstler gewesen. Ich stehe der dekorativen Kunst sehr kritisch gegenüber. Mich interessiert das Gegenteil. Alles, was die Dinge enthüllt und zeigt, wie sie wirklich sind.“Inspiriert wurde Pawlenski aber auch von der Schule des „Moskauer Aktivismus“ aus den neunziger Jahren. Und von der Gruppe Woina, die in den vergangenen Jahren für Aufsehen gesorgt hat. 2008 etwa veranstalteten sie an jenem Tag, an dem Dmitri Medwedew zum Präsidenten gewählt wurde, im Biologischen Museum von Moskau eine Massenorgie. „Fickt und unterstützt damit den Nachfolger“, war dabei auf einem Banner zu lesen. Später haben sie einen gigantischen Penis auf eine Brücke in St. Petersburg gemalt. Als die Brücke dann hochgezogen wurde, um Schiffe passieren zu lassen, zeigte der erigierte Penis auf den am Ufer gelegenen Sitz des Inlandsgeheimdienstes FSB. Woina erhielt für diese Aktion den wichtigen Kunstpreis Innovatzia, das russische Äquivalent zum Turner Prize.Eine neue RadikalitätDas Künstlerkollektiv Pussy Riot ist später dann von zwei Woina-Künstlerinnen mitgegründet worden. Und während des Prozesses gegen die jungen Frauen habe er erstmals verstanden, dass es einer neuen künstlerischen Radikalität bedürfe, erzählt Pawlenski. „Ihr Prozess hat mich mehr beeinflusst als viele Ereignisse meines eigenen Lebens. Auf einmal habe ich mir andere Leute angeschaut und mich gefragt, warum die nichts unternehmen. Plötzlich wusste ich, dass man nicht darauf warten sollte, dass andere etwas tun. Man muss selbst etwas machen.“Die Idee, seine Hoden auf dem Roten Platz festzunageln, entstand, als er nach der Aktion mit dem Stacheldraht kurz in einer Gefängniszelle festgehalten wurde. Ein Mann erzählte ihm dort, dass es im Gulag Häftlinge gab, die ihre Hoden aus Protest an Bäume genagelt hätten. „Zuerst habe ich da gar nicht viel drüber nachgedacht. Aber als ich auf den Gedanken kam, dass ganz Russland sich in ein großes Gefängnis und einen Polizeistaat verwandelt, schien die Idee perfekt.“ Es gibt Leute, die sagen, das Ganze sei gar nicht so grausam gewesen, wie es sich anhört. Pawlenski habe sich ein Piercing machen lassen, durch das der Nagel dann gesteckt worden sei. Pawlenski aber besteht darauf, dass alles echt war. „Ich kann das mit einem Arztbrief beweisen“, sagt er. „Ich habe aufgepasst, dass ich keine Vene treffe. Trotzdem war die Sache sehr schmerzhaft und blutig. Sie wollten mir Antibiotika und andere Medikamente geben. Das habe ich aber abgelehnt.“Am nächsten Tag wurde Pawlenski in Moskau dann doch nicht verhaftet. Aber die Anklage steht immer noch, es wird weiter ermittelt. Aber er wird trotzdem nicht aufhören. Seine Kunst entspringe der Radikalität: „Es war ein wichtiger Schritt für mich zu verstehen, was geschieht, wenn ein Mensch zum Künstler und stärker als die eigene Gleichgültigkeit, die Trägheit wird. Anders kann ein Künstler meiner Auffassung nach nicht existieren.“
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