„Ich spüre Sexualität noch immer mit Wucht“

Porträt Glenn Close ist 71, für einen Oscar nominiert und hat gerade mehr Spaß in ihrem Leben als je zuvor
Ausgabe 06/2019

Als Glenn Close in ihrem Haus in Montana ans Telefon geht, bricht erst mal ohrenbetäubender Lärm los. Lachend versucht sie zu erklären, was hinter dem Chaos steckt. „Sorry, dass ich ... können Sie mich hören? … Ach du liebes bisschen … Es ist nur ... Da geht gerade ein Hund am Haus vorbei und ... Einen Moment, bitte!“ Der Vierbeiner, der all den Lärm veranstaltet, ist Close’ Schoßhund Pip, ein Havaneser. Sie sagt, erst kürzlich habe er zum ersten Mal einen ihrer Filme gesehen. Passenderweise war es die Spielfilm-Version von 101 Dalmatiner, in der Close eine aufgedonnerte, majestätisch böse Cruella de Vil mit schwarz-weißer Zauselperücke und Krallenhandschuhen spielt. „Er klebte förmlich am Bildschirm“, erzählt Close, wahrscheinlich vor Angst und Schrecken angesichts ihrer Welpen-Mordpläne. Pip hat mittlerweile seinen eigenen Instagram-Account (dort heißt er Sir Pippin of Beanfield).

In den nächsten Wochen stehen für die 71-jährige Schauspielerin vor allem Preisverleihungen auf dem Programm, erst die British Academy Film Awards am 10. Februar, dann die Oscar-Verleihung zwei Wochen später. Gut möglich, dass Close dabei ein paar Preise für ihre Rolle als Joan Castleman in Die Frau des Nobelpreisträgers abräumen wird. Seit seiner Premiere vor fast 18 Monaten hat der Film über die im Schatten ihres Mannes stehende Frau eines Schriftstellers (gespielt von Jonathan Pryce) Publikum und Kritiker hingerissen und das Geraune anschwellen lassen, Close werde dieses Mal wohl einen Oscar bekommen. Einen Golden Globe hat sie schon dafür gekriegt. Ihr überraschter Gesichtsausdruck, als ihr Name verlesen wurde, und ihre eloquente Dankesrede haben Close reihenweise neue Fans eingebracht: Sie würdigte ihre verstorbene Mutter, „die sich wirklich ihr ganzes Leben lang meinem Vater untergeordnet hat“, und ermutigte Frauen dazu, „ihre persönliche Erfüllung zu suchen“.

„Überall, sogar am Flughafen, werde ich auf meine Rede angesprochen“, erzählt Close. „Ich weiß gar nicht, was ich noch sagen kann, falls ich wieder einen Preis gewinne. Meine Reaktion in dem Moment war total spontan, das lässt sich nicht wiederholen.“ Close, die selbst dreimal verheiratet war, weist die Idee von sich, ihre Mutter sei direkte Inspiration für die Rolle gewesen. „Aber natürlich habe ich beobachtet, wie sie ein Leben lang die zweite Geige gespielt hat. Ich hatte also reichlich Erfahrungen, auf die ich zurückgreifen konnte.“ Ihre Worte jedenfalls trafen einen Nerv. „Für die Generation meiner Mutter – man muss sich vorstellen, das war noch vor Beginn der Frauenbegewegung – waren die Dinge einfach so. Das war die Norm. Mich hat das dazu gebracht, über meine beiden Großmütter nachzudenken. Die eine hatte eine wunderschöne Singstimme, aus der sie nichts machen durfte. Und meine andere Großmutter, deren Hochzeitsring ich immer noch trage, träumte davon, Schauspielerin zu werden.“ Letztere inspirierte übrigens auch Close’ erste Filmrolle. 1982 spielte sie in Garp und wie er die Welt sah die feministisch bewegte Mutter von Garp-Darsteller Robin Williams, obwohl sie nur vier Jahre älter als er war.

Frau aus dem Nichts

Close kam erst relativ spät zum Film. Bei der Besetzung von Garp war sie 35 und hatte bereits eine erfolgreiche Bühnenkarriere hinter sich. Aber für das Filmpublikum war sie auf einmal da – mit ihrem ganzen Können. „Wer ist diese Schauspielerin, die da praktisch aus dem Nichts gekommen ist?“, schrieb das New York Magazine 1982 in einem Porträt. Damals hatte Close bereits eine Tony-Nominierung für das Musical Barnum und einen Theaterpreis bekommen. Letzteren für ihre Darstellung einer im viktorianischen Zeitalter als Mann lebenden Frau in The Singular Life of Albert Nobbs – einem Projekt, dem sie weitere 30 Jahre treu bleiben sollte, bis sie schließlich 2011 die Hauptrolle in der Filmversion übernahm. Close ist also nachweislich hartnäckig: Die Frau des Nobelpreisträgers hat 14 Jahre gebraucht, es ins Kino zu schaffen, sie war schon die letzten fünf Jahre Teil des Projekts.

Ungewöhnlich schnell dagegen war ihr Aufstieg in der Filmwelt. Nach drei Jahren Kino war Close bereits dreimal für einen Oscar nominiert: Auf Garp folgten Nominierungen für die Baby-Boomer-Komödie Der große Frust (1983) und das Baseball-Drama Der Unbeugsame (1984). Dazu kommen drei spätere Nominierungen: für die Darstellung der verschmähten Geliebten Alex in Eine verhängnisvolle Affäre (1987), einer intriganten Adeligen in Gefährliche Liebschaften und den armen Albert Nobbs. Damit liegt Close in der Wertung der am häufigsten als „Beste Schauspieler“-Nominierten ohne Gewinn gleichauf mit Richard Burton (sieben) und nur knapp hinter Peter O’Toole (acht).

Wie erwartet folgte vergangene Woche jetzt die siebte Oscar-Nominierung für Close in der Kategorie „Beste Schauspielerin“. Die Konkurrenz ist hart, insbesondere durch Olivia Colman, der für The Favourite ebenfalls große Chancen eingeräumt werden. Close selbst möchte über ihre Oscar-Chancen nicht nachdenken: „Natürlich werde ich unglaublich nervös sein, wenn sie den Umschlag öffnen, aber nur, weil so viele Leute enttäuscht sind, wenn ich ihn nicht bekomme. Viele meinen, ich hätte sowieso schon einen Oscar. Wenn ich jetzt leer ausgehe, werde ich in die Kamera gucken und allen versichern: Mir geht es gut.“

Was immer passieren wird, es kommt an Dramatik sicher nicht an ihre Erfahrungen bei der Oscar-Nominierung für Eine verhängnisvolle Affäre (1988) heran. Damals war sie so hochschwanger, dass sie mit ihrem Gynäkologen und dessen Frau zur Zeremonie kam. „Außerdem hatte ich einen gebrochenen Knöchel“, erinnert sie sich. „Wir waren zu spät dran, es war wahnsinnig viel Verkehr, und wir mussten aus der Limousine steigen und über den Parkplatz rennen. Dann verlor ich noch einen Ohrring, sodass jemand zurückgehen und ihn suchen musste.“ Sie lacht. „Als Michael Douglas und ich heraustraten, um einen Preis zu präsentieren, fingen alle an zu lachen, weil ich so hochschwanger war und im Film ja immer wieder behaupte: ‚Ich kriege ein Kind von dir.‘ “

Wie 1987 in den Medien über ihre Schwangerschaft berichtet wurde, zeugt von einer Art institutionalisierter Frauenfeindlichkeit. Die Regenbogenpresse versuchte Close als leichtfertige Ehezerstörerin darzustellen, die nicht zwischen Film und Realität unterscheiden kann. „Der Star aus der Verhängnisvollen Affäre überträgt die Filmrolle ins Leben, indem sie schwanger wird und im Leben ihres Geliebten Unheil anrichtet“, schrieb eine britische Zeitung. Close hatte den Vater ihrer Tochter Annie, den Filmproduzenten John Starke, bei den Dreharbeiten zu Garp kennengelernt. Obwohl er es war, der in einer anderen Beziehung steckte, als Close schwanger wurde, bekam hauptsächlich sie die Schelte der Medien ab.

Intakte Familien und andere Lebenslügen

Bekannt wurde Glenn Close zunächst mit Nebenrollen. Für Eine verhängnisvolle Affäre (1987) wurde die damals 39-Jährige zum ersten Mal für eine Hauptrolle für den Oscar nominiert. Close spielt in diesem Film die New Yorkerin Alex Forrest, die eine Affäre mit einem verheirateten Rechtsanwalt beginnt. Als der nichts mehr von ihr wissen will, stürzt sie das in eine Krise: Nach einem Selbstmordversuch beginnt sie ihn zu verfolgen und behauptet, sie erwarte ein gemeinsames Kind. „Was soll ich denn machen? Du rufst mich nicht zurück, du änderst deine Nummer – ich werde mich nicht ignorieren lassen!“, ruft sie in einer Szene. Es ist das Porträt einer gefährlichen Stalkerin, die droht, eine Familie zu zerstören – so haben es viele Zuschauer zumindest empfunden.

Nach Testvorführungen entschloss sich Regisseur Adrian Lyne zu dem heute bekannten Ende: Alex Forrest wird nach einem brutalen Kampf von der Frau ihres ehemaligen Liebhabers erschossen. „Ich habe gegen dieses Ende zwei Wochen lang gekämpft“, sagte Close Jahre später gegenüber der New York Times. „Aus einem Charakter, den ich liebte, hat es einen mörderischen Psychopathen gemacht.“ Auch aus feministischer Sicht wurde der Film für die dämonisierende Darstellung der unverheirateten Karrierefrau Alex Forrest kritisiert.

In ihrem aktuellen Film Die Frau des Nobelpreisträgers spielt Glenn Close eine Schriftstellerin, die – von der Diskriminierung weiblicher Autoren entmutigt – nie selbst veröffentlichte und stattdessen als Ghostwriterin ihrem Ehemann zu literarischem Ruhm verhalf. Als der den Literaturnobelpreis erhalten soll, droht seine Lebenslüge aufzufliegen.

Close hofft, dass der Skandal um Harvey Weinstein und die #MeToo-Bewegung solche Einstellungen ersticken, indem ihnen zumindest die Zufuhr von Sauerstoff durch die Öffentlichkeit abgedreht wird. Auf langfristige Auswirkungen der Bewegung ist sie gespannt: „Wenn sich Frauen neue Chancen eröffnen, wird es immer mehr Erfolgsgeschichten geben. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem man sagt: ‚Das ist ein großartiger Film’, und nicht: ‚Das ist ein großartiger Frauenfilm.’ Wir müssen die Frauenermächtigung weiter vorantreiben, denn sie wird nicht Teil unserer Kultur, wenn nicht viele dafür kämpfen.“

Großen Spaß brachten Close komplexe und herausfordernde Rollen wie die der knallharten Anwältin Patty Hewes in der TV-Serie Damages – im Netz der Macht (2007 bis 2012), die mit einem Golden Globe und zwei Emmys belohnt wurde. Wenn sie auf ihre Karriere zurückblickt, fallen ihr aber auch Beispiele ein, bei denen die männliche Perspektive klar im Vordergrund stand. Die Affäre der Sunny von B. (1990) etwa. Darin spielt sie eine Erbin, deren Ehemann (Jeremy Irons) zunächst wegen versuchten Mordes an ihr verurteilt – dann aber wieder freigesprochen wird. „Das Skript war sehr stark aus der Perspektive eines Mannes geschrieben“, sagt Close heute. „In Sunnys Kopf jedoch gelangen wir in dem Film gar nicht.“

Auch über Eine verhängnisvolle Affäre ist Close enttäuscht, angefangen dabei, dass eine Verurteilung des Ehebrechers gänzlich ausbleibt, bis zum Nachdreh des auf Horror gedrehten Höhepunkts (siehe Kasten), der die verschmähte Geliebte Alex in ein unerbittliches, Terminator-ähnliches Monster verwandelt. Kein Wunder, dass die Kinobesucher Blut sehen wollten und „Bring sie um!“ skandierten.

„Ich hatte als Alex so viele Geheimnisse“, erinnert sich Close. „Die Frau, die ich spielte, war nicht dieselbe, die die Öffentlichkeit zu sehen bekam. Aber es gab einfach keine Dialoge oder Szenen, in denen ihre Hintergrundgeschichte beleuchtet werden konnte. Wenn man Eine verhängnisvolle Affäre aus Alex’ Sicht drehen würde, wäre sie eine tragische Person, keine gefährliche, böse.“ Eine großartige Idee, die jemand umsetzen sollte. „Wir haben es Paramount vorgeschlagen“, sagt Close. „Sie haben gerade andere Pläne, aber ich fände es unheimlich reizvoll.“

Trotz allem markierte Eine verhängnisvolle Affäre einen Wendepunkt in der Wahrnehmung von Glenn Close. Sie hatte hart um die Rolle der Alex gekämpft, gegen Produzenten und andere Verantwortliche, die offen bezweifelt hatten, dass sie sexy sein könnte. Also warf sie sich in die große Sexszene des Films über der Küchenspüle. Im Stundentakt kippte Close Margaritas herunter, während sie gedreht wurde. Und das dauerte.

Im Pyjama zur Sexszene

Wie erfrischend dagegen ihre ungezügelte Sexualität Jahre später in Die Frau des Nobelpreisträgers wirkt. Die Sexszene zu Anfang mit Pryce war die erste, die sie drehten. „Wir kamen in unserem Pyjamas ans Set“, kichert Close. „Wir dachten beide dasselbe: ‚Wir sind Profis. Wir machen das schon sehr lange. Lass es uns einfach tun.‘ “ Es wirkt fast revolutionär: zwei Schauspieler in ihren 70ern, die schlaftrunkenen, lauten, lustvoll-versauten Sex haben. „Ich weiß!“, ruft sie aus. „Es ist eine der großen Mythen, dass man die Lust auf Sexualität verliert, wenn man älter wird. An einem späten Freitagabend fuhr ich vergangenes Jahr vom East Village nach Westen. Es waren viele Paare auf der Straße. Pippy und ich schauten aus dem Fenster, und ich konnte spüren, was diese Paare fühlten“, ihre Stimme senkt sich zu einem Flüstern, „ich spürte ihre Aufregung, die Intimität, die sich anbahnte. Ich spürte es mit großer Wucht.“

Genau jetzt, ist sich Close sicher, ist sie in ihren besten Jahren. „Ich fühle mich genauso frei und kreativ, als sexuelles Wesen und begierig, wie eh und je. Irgendwie ironisch, weil ich mich gleichzeitig frage: Wie viel Zeit hast du noch? Es gibt so viel, wofür ich mich interessiere. Es ist eine dieser Ironien des Lebens, dass man sich erst spät im Leben richtig wohl in seiner Haut fühlt. Aber hoffentlich bleibt genug Zeit, davon zu profitieren. Meine Arbeit bringt mich immer weiter, ich bin gespannt, was als Nächstes kommt. Im Moment genieße ich einfach das Gefühl von, na ja: von Glück und Zufriedenheit.“

Ryan Gilbey arbeitet als Filmkritiker bei der britischen Wochenzeitung New Statesman und schreibt auch für den Guardian

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Ryan Gilbey | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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