Ich trage eine Brille. Werde ich nun reich?

Nerds Sie waren erst Außenseiter, dann Superhelden und schließlich milliardenschwere Unternehmer - jetzt haben es die Geeks sogar ins "Oxford Dictionary" geschafft
Ausgabe 37/2013
Der Alpha-Nerd: Bill Gates 1992
Der Alpha-Nerd: Bill Gates 1992

Foto: Steve Pyke/ AFP/ Getty Images

Hurra, die Schlaumeier haben gewonnen! In den achtiger und neunziger Jahren waren Geeks noch Außenseiter ohne Freunde. Die Nerds, ihre ebenso unglückseligen Verwandten, galten als genauso gesellschaftsunfähig. Etymologisch muss man zwischen Geeks und Nerds unterscheiden: Geeks sind Sammler mit Neugierde auf die neuesten Entwicklungen im jeweiligen Mikrogebiet ihres Interesses. Nerds hingegen sind leistungsorientiert und zeigen „intellektuellen Eifer“. Doch das sind nur kleine Unterschiede. Nun ist der Ausdruck Geek Chickins Oxford English Dictionary aufgenommen worden. Was hat zur Wende geführt?

Die digitale Revolution hat Alpha-Nerds wie Steve Jobs und Bill Gates in beispiellose Macht- und Einflusspositionen gehievt. Um die Jahrtausendwende entdeckte dann Hollywood „Geekiges“ wie Star Wars, Marvel Comics und J. R. R. Tolkien neu und bemerkte, dass sich damit, auch aufgrund der Nostalgie der älter gewordenen Geeks, reichlich Geld machen ließ. Anschließend hat Programmier-Nerd Shawn Fanning mit der Musiktauschbörse Napster eine ganze Branche auf den Kopf gestellt. Schließlich sprangen Promis auf den Zug auf – die R&B-Produzenten The Neptunes benannten sich um in N.E.R.D. Auf einmal trugen selbst des Außenseiter- und Strebertums unverdächtige Stars wie Justin Timberlake und David Beckham Brillen mit dicken Rahmen.

Intelligenz macht sexy

Ian Brookes vom Collins-Verlag sieht im Geek keinen „langweiligen und unattraktiven sozialen Außenseiter“ mehr. Der Name tauche „zunehmend in Kontexten jenseits des Computerwesens“ auf und sei nun positiv besetzt. Die britische Werbeagentur Inferno hat in einer Umfrage herausgefunden, dass Intelligenz und leidenschaftliches Engagement viermal attraktiver sind als gutes Aussehen oder Kleidungsstil. Ist das Geektum absorbiert und kastriert worden? War das nicht mal die Subkultur, mit Liebe zu popkulturellen Details?

War die Expertise in technischen Angelegenheiten nun reduziert auf T-Shirts und dicke Brillen ohne echte Gläser? Oder hat es den Mainstream assimiliert und steuert unsere Welt nun auf subtile Weise über seine Normen?

Trendforscher Chris Coleman erklärt den Aufstieg der Nerds rein ökonomisch. In Zeiten, in denen Bildung rar und teuer werde, beginne man, Hingabe zum Geistesleben zur Schau zu stellen. Dicke Brillen und Strickjacken würden Erfolg und Macht symbolisieren, so wie rote Hosenträger und Schulterpolster in den Achtzigern. Man kann sich nun sowohl zum Außenseiter als auch zum Mitglied einer Elite stilisieren. „Geek zu sein ist ein Zeichen für Bildung“, sagt Coleman. „Früher galt es als Anti-Fashion-Statement.“ Mittlerweile verbinde man Unternehmertum, Eigenmotivation, Unabhängigkeit mit Geeks. „Wissen und Können im Detail ist wieder cool.“

Das Bild einer Geek-Underdog-Kultur sei überholt, meint auch Warren Ellis, der Drehbuchschreiber von X-Men. „Ich finde den Begriff ‚Geek‘ despektierlich und einengend für ein so großes Phänomen“, sagt er. „Die TV-Serie Buffy, die Vampirjägerin wird der Geek-Kultur zugerechnet – dabei war sie eine der erfolgreichsten aller Zeiten. Was Superhelden- und Fantasy-Filme betrifft, könnte man diese als das moderne Kino schlechthin bezeichnen. Geek hat den Mainstream nicht besiegt, sondern das ist seine Neuauflage.“

Ende der Ära des Zweifels

Auch auf dem anderen Hoheitsgebiet der Geeks – der Technik – verschwindet der Elitestatus, den Geeks innehatten.

Vor zehn Jahren musste Ellis sein Handy noch auseinandernehmen und ein Dutzend Webseiten studieren, um bestimmte Dinge mit seinem Gerät anstellen zu können. Heute kann ein iPhone das meiste davon standardmäßig. Im Gegenzug hat die billige Technik die Science Fiction, einst der geistige Spielplatz der Geeks, kolonialisiert.

Was früher in Sci-Fi-Taschenbüchern geschah, spielt sich heute in der echten Welt ab. „Viele Leute sagen, der Science-Fiction-Roman sterbe aus“, so Ellis. „Dabei floriert er, im Fernsehen, in der Mode und in der Popkultur.“ In einem satirischen Science-Fiction-Roman von Ernest Cline gleicht die Zukunft einem Videospiel. Ready Player One wurde zum New York Times-Bestseller und in 22 Sprachen übersetzt. Eine noch nicht geschriebene Drehbuchversion ist bereits für eine siebenstellige Summe von Universal Pictures gekauft worden. Cline sagt: „Ich hätte nie gedacht, dass sich sonst noch jemand dafür interessieren könnte. Das war mir aber egal. Es stellte sich bloß heraus, dass Millionen Menschen auf der ganzen Welt das gleiche Interesse an Filmen und Videospielen haben, wie ich. Mein ganzes Leben hat sich wegen der Geek-Kultur verändert.“

Cline erkennt in der Hinwendung zum Geektum das Ende der Mentalitäten, wie sie von den fünfziger Jahren bis in den Reaganismus herrschten – Misstrauen gegenüber Außenseitern, Intellektuellen und Strebern in kurzärmeligen Hemden. „Die Atombombe und der Zweite Weltkrieg hatten eine gewisse Skepsis gegenüber der Technik und den Wissenschaftlern geweckt, die diese Büchsen der Pandora geöffnet hatten“, meint er. „In den Science-Fiction-Filmen jener Zeit lösen immer grobschlächtige Militärtypen die Probleme, die diese nerdigen, unverantwortlichen Wissenschaftler der Welt eingebrockt hatten. Das war beruhigend.“ Das Internet habe alles verändert. „Geeks wurden Helden“, sagt Cline. Werden sie uns langfristig infantilisieren? Videospiele, Fantasy-Romane oder Computer-Basteleien als Rückzug in die Adoleszenz? Eskapismus? Vielleicht. Geektum versetzt einen in eine geistige Fantasiewelt, während Apple und Computerspiele wie World of Warcraft sich längst in der realen behaupten. Also: Brille kaufen.

Andrew Harrison schreibt im Guardian vor allem über Popkultur

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Andrew Harrison | The Guardian

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