„Ich will bald zurück sein“

Bolivien Evo Morales kandidiert nicht bei den Neuwahlen. Aber später vielleicht. Ein Besuch im Exil
Ausgabe 48/2019
Morales gibt sich kompromissbereit, um weiteres Blutvergießen zu verhindern
Morales gibt sich kompromissbereit, um weiteres Blutvergießen zu verhindern

Foto: Pedro Pardo/AFP/Getty Images

Evo Morales, 2006 zum ersten indigenen Präsidenten Boliviens gewählt, flieht am 11. November nach Mexiko, dessen Regierung ihm ausdrücklich Asyl angeboten hat. Dies geschieht drei Wochen nach einem Präsidentenvotum, bei dem Morales für sich beansprucht, gesiegt zu haben. Betrugsvorwürfe und empörte Proteste sind die Folge. Sie gipfeln darin, dass ihn der Armeechef zum Rücktritt auffordert. Einen Tag nachdem Morales den Weg ins Exil angetreten hat, lässt sich die rechtsgerichtete Senatorin Jeanine Áñez als Interimspräsidentin vereidigen. Danach kommen mindestens 32 Menschen ums Leben, die meisten davon Berichten zufolge bei Übergriffen der Streitkräfte auf Protestmärsche, die sich zur Unterstützung von Morales auf den Straßen formieren. Es gibt Anzeichen genug für soziale und ethnische Spannungen, auch für Übergriffe zwischen den überwiegend armen indigenen Demonstranten und wohlhabenderen Schaulustigen.

Boliviens neuer Innenminister Arturo Murillo hat mittlerweile versprochen, er wolle den Ex-Präsidenten für den Rest seines Lebens ins Gefängnis bringen. Nur so ließe sich ahnden, dass Morales Menschen zum Aufruhr gegen die Regierung aufgestachelt habe, was seiner Meinung nach einem terroristischen Verhalten gleichkomme.

In seinem neuen, vorübergehenden Zuhause in Mexiko-Stadt macht Morales im Interview die alte Elite – sie sei „rassistisch und rachsüchtig“ – für eine derart absurde Anklage verantwortlich. Sie habe die Krise Boliviens provoziert und mithilfe der USA, die er als „Imperium im Norden“ bezeichnet, einen Putsch gegen ihn inszeniert. Und er gibt im Gespräch zu verstehen, dass er seine Priorität nunmehr darin sehe, mitzuhelfen, dass „die De-facto-Regierung abgelöst wird“, indem man sie zu Neuwahlen drängt. „Sie sagen Nein zu Evo, und ich sage in Ordnung, kein Problem.“

Das bolivianische Parlament – es wird von Morales’ Movimiento al Socialismo (MAS) dominiert – habe ein Gesetz verabschiedet, das innerhalb einiger Wochen den Weg zu Neuwahlen ebnen werde und ihm verbiete, an dieser Abstimmung teilzunehmen. Áñez hat das Gesetz am 24. November unterschrieben und damit in Kraft gesetzt.

Morales räumt ein, dass er zum Teil deswegen auf eine erneute Kandidatur für das für den 22. Januar angesetzte Votum verzichtet habe, weil die Forderungen nach seiner Rückkehr schwächer würden. Außerdem wolle er verhindern, dass aus der inneren Zerreißprobe ein größerer ethnischer Konflikt oder sogar ein Bürgerkrieg werde. „Davor habe ich Angst. Das ist es, was wir vermeiden müssen, deshalb verzichte ich auf eine Kandidatur. Im Namen des Friedens müssen Opfer gebracht werden, und ich opfere meine Kandidatur, obwohl ich jedes Recht dazu habe, wieder anzutreten.“

Gespräche zwischen Anführern der Pro-Morales-Proteste und der Interimsregierung haben dazu geführt, dass Jeanine Áñez ausdrücklich versprochen hat, die Armee zurückzuziehen, sollten im Gegenzug Straßensperren aufgelöst werden, die in mehreren Großstädten zu Engpässen in der Benzin- und Lebensmittelversorgung geführt haben.„Sie verzichten nicht auf ihren Widerstand gegen den Staatsstreich“, so Morales, der in einem mexikanischen Armeestützpunkt lebt und – egal, wohin er geht – stets von Militärs in Zivil begleitet wird. „Aber natürlich werden die Menschen nach zwei Wochen des steten Kampfes und so vieler Toter müde. Manche resignieren.“

Was hält die langjährige Ikone der lateinamerikanischen Linken davon, dass man sie wegen „Aufwiegelung und Terrorismus“ strafrechtlich verfolgen will? Morales verweist darauf, dass seine außergewöhnliche Karriere immer wieder mit derart „erfundenen Vorwürfen“ gepflastert war. Dies habe ihn früher nicht abgeschreckt und tue es im Augenblick erst recht nicht.

„Ich bin der Feminist“

Evo Morales stammt aus einer verarmten Familie von Lama-Hirten aus dem bolivianischen Hochland. Diese zogen vor Jahrzehnten in die fruchtbare Provinz Chapare, wo die Vorfahren zum Anbau von Koka-Pflanzen übergingen, einer traditionellen bolivianischen Feldfrucht, die von Einheimischen als mildes Stimulans und von Drogenproduzenten zur Herstellung von Kokain verwendet wird. In den 1980er und 1990er Jahren wurde Morales zu einer führenden Figur des Widerstands gegen verschiedene, auch militärische Aktionen zur Vernichtung von Koka-Plantagen, die unter dem Druck der USA durchgeführt wurden. Er gewann landesweit an Profil, als er 1997 in den Kongress gewählt und 2002 widerrechtlich aus diesem verbannt wurde. In der Folge avancierte er zum Anführer eines sozialen Aufstands, der im Jahr darauf den Rücktritt von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada erzwang. „Kämpfen, kämpfen, kämpfen, da komme ich her“, sagt Morales mit offensichtlichem Stolz. Und einem Hauch von Nostalgie.

Bei den Wahlen am 18. Dezember 2005 wurde er dann mit einem erdrutschartigen Sieg (54 Prozent schon im ersten Wahlgang) förmlich an die Regierung gespült und gewann 2009 mit Leichtigkeit eine zweite und 2014 eine dritte Amtszeit. Morales’ Regierungen brachten Stabilität in eines der politisch labilsten Länder des Subkontinents, das durch radikale Arbeiter, selbstbewusste Bauernbewegungen und eine überwältigende Zahl an Militärputschen geprägt war. Ab 2006 wurden die Dinge auch deshalb grundlegend verändert, weil die indigene Mehrheit ins Zentrum von Politik und Regierungshandeln gestellt und die Wirtschaft mit staatlichen Investitionen angekurbelt wurde.

Doch je länger er sein Präsidentenmandat behauptete, desto mehr ging die Unterstützung für Morales zurück. Selbst der frühere brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nannte es in der vergangenen Woche einen „Fehler“, dass Morales unbedingt für eine vierte Amtszeit kandidieren wollte. Dazu befragt, möchte Morales dem nicht zustimmen. „Ich habe mich nicht darum gedrängt, mich erneut zu bewerben.“ Darauf müsse er beharren. „Es waren unsere Organisationen des Volkskampfes, die mich um die Kandidatur gebeten haben.“ Hat er bereut, ihnen keine Absage erteilt zu haben? „Ich habe nichts zu bereuen, denn wir haben die erste Runde gewonnen“, lautet die Antwort. Abermals weist Morales die Betrugsvorwürfe zurück, die von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) unterstützt wurden. „Ich habe das Mandat des Volkes erfüllt, doch diese Reaktionäre können es nicht ertragen, dass ein Indigener mit dem Rückhalt der Arbeiter kandidiert. Das ist Klassenkampf, ein Kampf, der schon seit sehr langer Zeit geführt wird.“

Umweltschützer, die ihm vorwerfen, er habe es versäumt, die Wälder des Landes zu schützen, nennt Morales „die besten Werkzeuge des Imperialismus“. Warum? Weil sie Bolivien daran hindern wollten, die eigenen Ressourcen auszubeuten. Ähnlich rigoros reagiert er auf Aktivisten, die behaupten, er schüre gezielt eine machohafte Polarisierung in der Politik. „Ich bin der Feminist“, sagt er und verweist darauf, dass die Beteiligung von Frauen unter seiner Verantwortung im Staat sprunghaft gestiegen sei. Und überhaupt, wenn er mit dem Abstand, zu dem das Exil ihn zwinge, über seine Politik nachdenke, „besteht der einzige Fehler“, der ihm einfalle, in der Abschaffung der Benzin-Subventionen im Jahr 2010.

Auch dies sei Teil einer lebenslangen politischen Erfahrung, die er in den Dienst seines Landes stellen wolle, weshalb er auch danach strebe, so schnell wie möglich nach Bolivien zurückzukehren. Aus ebendiesem Grund dränge seine Partei darauf, ein Gesetz zu verabschieden, das ihm Schutz vor politischer Verfolgung biete. „Die Zeit vergeht wie im Flug, und ich hoffe aufrichtig, dass ich Ende des Jahres zurück sein werde.“ Freilich ohne jede Ambition auf eine Kandidatur. Morales ist überzeugt, dass es für ihn noch immer genügend zu tun geben werde, angefangen bei der Hilfe für seine Partei, wenn sie nach einem Kandidaten suche, der ihn ersetzen könne. „Das ist nicht einfach. Außerdem möchte ich sagen, dass ich eigentlich geplant hatte, nach weiteren fünf Jahren im Amt meinen Hut zu nehmen. Aber jetzt, nach allem, was sie mir angetan haben, kann es sein, dass ich später doch noch einmal kandidiere.“

Jo Tuckman arbeitet als freiberufliche Korrespondentin in Mexiko. Zuvor war sie Reporterin im Iberia-Büro großer internationaler Nachrichtenagenturen

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Jo Tuckman | The Guardian

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