Ikone mit Stacheln

Porträt Charlotte Rampling wurde in über 100 Filmen zur Legende – und spielte sich dabei oft selbst: kühn, schwierig, konfrontativ
Ausgabe 14/2021

Es ist ein kalter, sonniger Tag in Paris, als wir auf Zoom sprechen. Rampling ist in ihrer Wohnung in Saint-Germain-des-Prés, „das wie das alte Chelsea ist, das ich so geliebt habe“. Die Schauspielerin nimmt ihre Sonnenbrille ab und ihre berühmten blaugrünen Augen mit den schweren Lidern erscheinen auf dem Bildschirm.

Die 75-Jährige erzählt von dem ersten Moment in ihrem Leben, in dem sie „Ping“ machte, wie sie es nennt. „Ping?“ „Wenn man Ping macht“, sagt sie mit diesem herrischen, glasklaren Akzent, „ist man zur richtigen Zeit am richtigen Ort und zeigt, dass alles möglich ist.“ Wir erreichen nicht oft im Leben dieses Ping, sagt sie, aber wenn, dann ist es wunderbar. Die Familie lebte damals im Großraum London, sie war gerade aus Fontainebleau zurückgekehrt, wo ihr Vater, ein Armeeoffizier, stationiert gewesen war. Charlotte und ihre Schwester Sarah traten beim alljährlichen Kabarett The Smoking Gun Concert in Stanmore auf. Sie war 14 und zu ihrer Überraschung liebte sie es. „Ich fühlte mich großartig auf der Bühne. Wir trugen Netzstrumpfhosen, Mäntel und Baskenmützen und sangen französische Liedchen. Ich wusste, ich war gut, denn ich fühlte mich in diesem Moment absolut im Einklang mit mir selbst.“ Im echten Leben sah es anders aus. „Mir war nicht wohl in meiner Haut. Alles war schwierig, aber dort fühlte ich mich großartig.“ Sie nahm keinen Schauspielunterricht und sie trat auch nicht in Schultheaterstücken auf. Sie wartete einfach ein Jahr auf die nächste Gelegenheit, vor der guten Gesellschaft von Stanmore aufzutreten.

Sie lacht, es ist eine Warnung

Ramplings familiärer Hintergrund ist ungewöhnlich: Ihre Mutter Anne war Malerin und zählte zu den Erbinnen des Textilkonzerns Gurteen. „Meine Mutter hatte ein herrliches Leben. Ihre Familie liebte und wertschätzte sie sehr.“ Charlottes Vater Godfrey gewann bei Hitlers Olympiade 1936 in Berlin mit der britischen Mannschaft eine Goldmedaille im 4-mal-400-Meter-Staffellauf, später wurde er Oberstleutnant in der Royal Artillery. „Mein Dad war tough und sah gut aus, ich war vernarrt in ihn.“ Er war die meiste Zeit seines Lebens aber auch extrem unglücklich. „Er war eine geplagte Seele. Wie viele Männer seiner Generation, die den Krieg erlebt hatten.“

Er soll die junge Charlotte als „prickly“, stachelig, beschrieben haben. Sie johlt. „Ihnen ist dieses Wort aufgefallen! Darüber muss ich lachen.“ Warum? „Es ist für mich ein Schlüsselwort. Denn ich bin stachelig. Dad hat das so gut verstanden.“ Wenn sie stachelig sagt, meint sie jemanden, den man nicht unbedingt knuddeln möchte? „Ganz genau. Jemand, der Sie auf Abstand hält. Sie können sich ihm nähern, aber Sie müssen genau wissen, wie.“ Jemand, der einen verletzen könnte? „Ja genau, Sie müssen vorsichtig mit ihnen umgehen. Menschen, die stachelig sind, können nicht mehr verletzt werden. Das haben sie hinter sich.“ Wurde sie schlimm verletzt? „Hmmm! Das kann ich Ihnen nicht alles erzählen. Was ist das für ein Gespräch?“ Sie lacht, aber dieses Mal klingt es wie eine Warnung.

Rampling verließ mit 16 ihr Elternhaus und ging auf die Sekretärinnenschule in London. Mit 17 wurde sie von einem Castingagenten entdeckt und drehte ihren ersten Spielfilm, die Komödie Rotten To The Core (1965). Ein Jahr später landete sie einen Glückstreffer mit der Komödie Georgy Girl, in der sie die Rolle der Meredith spielte, das böse Mädchen aus gutem Hause. Viele dachten, sie und ihre Rolle seien eins. „Genau genommen hatten sie ja recht. Ich war keine dieser Schauspielerinnen, die auf allen Schulen waren, ihren Shakespeare draufhatten. Ich habe mir früh gesagt: Ich spiele die Rollen so, als wären diese Personen ich.“

Im Trailer wird sie als „sexy litte dish“ bezeichnet. „Ich fühlte mich nicht wie ein sexy Happen. Aber ich war mir meines Sex-Appeals bewusst. Wenn man mit dieser Energie spielt, entfaltet sie eine ungeheure Macht. Und es ist sexy, sie ausreizen zu können, ohne dass man verletzt werden kann. Fantasien anderer möglicher Leben ausleben zu können, macht die Schauspielerei so aufregend.“

In den Swinging Sixties war Rampling mittendrin. „Ich wuchs in den 50ern auf, die schwer waren. Als die 60er anbrachen, waren wir jung, wir hatten Geld, der Wirtschaft ging es gut. Wir hatten die wildesten Ideen, was möglich wäre.“ Rampling bricht ab: „Es endete mit dem plötzlichen Tod meiner Schwester“, sagt sie. Sarah, die drei Jahre älter als sie war, lebte damals in Argentinien mit ihrem Mann. Sie nahm sich 1967 mit 23 Jahren das Leben. „Ich konnte nicht mehr die sein, die ich vorher war. Ich konnte nicht mehr glücklich sein. Das ganze Leben änderte sich.“

Ihr Vater erzählte Charlotte und ihrer Mutter zunächst, Sarah sei an einem Gehirntumor gestorben. Erst drei Jahre später sagte er ihr die Wahrheit. Nach Sarahs Tod hatte Rampling, gerade mal Anfang 20, genug vom Hedonismus. „Es ging mir nicht mehr darum, lustige Filme zu machen, sondern ins Innere vorzudringen.“ Hilfe fand sie bei „Psychiatern, Psychotherapeuten, philosophischen Schriften, Literatur“. Sie sagt, The Road Less Traveled von Morgan Scott Peck habe ihr sehr geholfen.

Als Schauspielerin versuchte sie mehr in die Tiefe zu gehen und sich auszuprobieren. Anders als bei so vielen Rollen in Hollywood war ihre Sexualität nicht süß oder passiv oder gefügig. Sie war schwierig, konfrontativ, kühn; sie starrte mit diesen bemerkenswerten Augen in die Kamera, forderte uns geradezu heraus, ihren Blick zu erwidern. Ihre Rollen gingen immer mehr an die Grenzen: In Der Nachtportier hat Rampling eine sadomasochistische Beziehung mit ihrem Nazi-Peiniger; in Schade, dass sie eine Hure ist eine Affäre mit ihrem Bruder; in Max Mon Amour betrügt sie als Diplomatengattin ihren Mann mit einem Schimpansen. „Ah, der Affe – ich liebe ihn“, sagt sie zärtlich.

Oscar-nominiert mit 69

Sie arbeitete selten in Amerika, und wenn, dann mit großen Namen wie Sidney Lumet für The Verdict oder Woody Allen für Stardust Memories. Rampling sagt, Hollywood habe sie einfach nicht interessiert. „Lassen Sie uns eine nette alte englische Redensart verwenden: It just wasn’t my cup of tea.“

Ihr Privatleben war so schlagzeilenträchtig wie ihre Filme. In den 60ern lebte sie mit ihrem Agenten Bryan Southcombe und dem Model Randall Laurence zusammen. Sie heiratete Southcombe und bekam einen Sohn, Barnaby, der heute Regisseur ist. 2012 drehte sie mit ihm I, Anna.

1976 lernte sie den Komponisten Jean-Michel Jarre bei einer Dinner-Party in Saint-Tropez kennen; binnen Tagen verließ sie Southcombe für ihn. Sie heirateten 1978 und bekamen einen Sohn, David. Die Ehe zerbrach 1995, als sie von seiner Untreue aus der Zeitung erfuhr. In den 90ern ging sie eine lange, glückliche Beziehung mit dem Journalisten und Geschäftsmann Jean-Noël Tassez ein, die bis zu seinem Tod 2015 hielt. Und seitdem? „Ich habe einen Freund, in Frankreich kann man das ,amitié amoureuse‘ nennen. Die Franzosen haben Worte, um über die Liebe zu sprechen, die dem Rest der Welt fehlen.”

Inzwischen hat sie über 100 Filme gedreht, darunter französische Dramen (François Ozons Unter dem Sand und Swimming Pool), Serien (Broadchurch, Dexter), sogar Feelgood-Filme (StreetDance). Im Remake des Sci-Fi-Klassikers Dune wird sie demnächst als Mutter Oberin zu sehen sein. Zwei ihrer bemerkenswertesten Rollen in letzter Zeit waren in den Filmen 45 Years and Hannah. In beiden spielt sie Frauen, die das geheime Leben ihres Ehemannes einholt.

2016 war sie das erste Mal für einen Oscar nominiert, für 45 Years. Es sollte ein Höhepunkt ihrer Karriere werden, ging aber komplett schief. Im Jahr zuvor war die Protestbewegung #OscarsSoWhite entstanden, nachdem ausschließlich Weiße in den Schauspiel-Kategorien nominiert worden waren. Als sich dasselbe 2016 wiederholte, wurde Rampling im französischen Radio zu den Boykott-Aufrufen befragt. „Das ist rassistisch gegenüber Weißen“, sagte sie. Noch am selben Abend veröffentlichte sie ein klärendes Statement: „Ich bedaure, dass meine Kommentare missverständlich waren. Ich wollte nur sagen, dass in einer idealen Welt jede schauspielerische Leistung die gleichen Chancen haben sollte. Diversität in unserer Branche ist ein wichtiges Thema, das angesprochen werden muss.“ Aber es war zu spät.

Heute sagt sie, sie habe nicht gewusst, wo ihr der Kopf stand. „Zwei Monate zuvor hatte ich Jean-Noël verloren, er starb an einem grausamen Krebs. Es war früh am Morgen und eine dieser Boom-boom-boom-Nachrichtensendungen, die alles sofort in die Welt donnern.“ Aber sie weiß, dass es nicht zu entschuldigen ist. „Ich habe es vermasselt, das wusste ich sofort.“ Was meint sie, hat ihr Kommentar sie den Oscar gekostet? „Yeah, vermutlich“, sagt sie leichthin. „So ist das Leben, nicht wahr?“

Manchmal, sagt sie, wolle sie wirklich keine Filme mehr drehen. Warum nicht? „Es ist enorm anstrengend, umso mehr, je älter ich werde. Körperlich, psychisch, das Reisen, die Locations, die Arbeitszeiten, es laugt mich aus.“ Geht ihr das schon lange so? „Nein, erst seit ich 70 bin. Meine 60er waren super. Ich fühlte mich stark. Aber in den 70ern muss man das Tempo drosseln. Den Ping erreichen zu müssen, wird anstrengend.“ Der Kontakt bricht kurz ab, dann steht das Bild wieder. „Sorry, ich bin eingenickt“, sagt sie trocken. Ich entschuldige mich dafür, dass ich sie langweile. „Nein, nein, aber wir sollten uns beeilen.“

Die Arbeit, hat Charlotte Rampling gesagt, wird schwerer, je älter man wird; aber was ist mit dem Leben, wird es in anderer Hinsicht besser? „Wird es“. Inwiefern? „Sie sehen, ich habe viel Arbeit investiert, damit mein Zustand mehr oder weniger okay ist. „Prickly old me“ findet vielleicht endlich ein paar bessere Dinge in sich. Und wenn man erst einmal sich selbst etwas mehr liebt, kann man auch andere mehr lieben. „Alles fügt sich.“ Mit diesen Worten verlässt sie das Meeting. „Bye-bye. God bless.“

Simon Hattenstone ist Feature-Autor des Guardian

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Geschrieben von

Simon Hattenstone | The Guardian

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