Irans Augenblick der Wahrheit: Schafft es die Protestbewegung, das Regime zu stürzen?
Iran Drei Monate nach Beginn der Proteste gegen die Regierung riskieren Demonstrant:innen im Iran weiter ihr Leben. Bisher wurden alle Versuche, die islamischen Hardliner abzusetzen, immer zerschlagen. Kann die jetzige Generation es schaffen?
Die anhaltenden Proteste im Iran werden von Exil-Iraner:innen weltweit unterstützt
Foto: Imago / ZUMA Wire
In den vergangenen zwölf Wochen haben sich revolutionäre Anwandlungen in den Städten des Iran breit gemacht. Ausgelöst wurde die Bewegung durch den Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini am 16. September, kurz nach ihrer Verhaftung durch die Sittenpolizei in Teheran. Von Anfang an war die Bewegung eine feministische. Aber sie vereint zugleich Bürger:innen verschiedener Schichten und ethnischer Zugehörigkeit in dem gemeinsamen Wunsch, der islamischen Republik ein Ende zu bereiten.
In den vergangenen fünfzehn Jahren gab es im Iran bereits zahlreiche Protestbewegungen. Aber durch eine Kombination aus Härte und Ausnutzung der Spaltungen innerhalb der Opposition gelang es dem obersten Führer des Landes, Ayatollah Ali Chamenei, alle vorangegangen Bewegungen
Bewegungen zu zerschlagen. Dieses Mal heben die Standhaftigkeit und Einheit, die die Gegner des Regimes zeigen, die Bewegung von den episodischen Unruhen der Vergangenheit ab. Im Iran hat also eine Phase des anhaltenden Protests begonnen, in der die Islamische Republik sich gegen Welle um Welle öffentlichen Ärgers verteidigen muss.Bei ihren Repressionsmaßnahmen gegen die Demonstrierenden haben die Sicherheitskräfte bisher mindestens 448 Menschen getötet, darunter 60 Kinder und 29 Frauen. Sie nahmen bis zu 17.000 Personen fest. Hadi Ghaemi vom Zentrum für Menschenrechte im Iran mit Sitz in New York zufolge wurden 36 Demonstrierende wegen Kapitalverbrechen angeklagt, darunter mehrere, die beschuldigt werden, Mitglieder der Sicherheitskräfte getötet zu haben. Mehrere Demonstranten wurden bereits zum Tode verurteilt und hingerichtet.Dennoch betonen die Behörden, dass sie sich zurückhaltend verhalten. Am 9. November warnte der Kommandeur der iranischen Bodentruppen, Khamenei müsse nur ein Wort sagen und die Oppositions-„Schmeißfliegen“ hätten „ohne jede Frage keinen Platz mehr in diesem Land“.Eine Bewegung ohne AnführerJeden Tag gibt es neue Demonstrationen, sei es in den Universitäten, auf den Straßen oder auf Friedhöfen, auf denen die Opfer von Polizeikugeln und Schlagstöcken begraben werden. Und wann immer ein Demonstrant oder eine Demonstrantin getötet wird, kann man sicher sein, dass es 40 Tage später, wenn die schiitische Trauerzeit ihren Höhepunkt findet, am Grab Proteste gibt und damit die Möglichkeit weiterer Todesfälle, was den Kreislauf von Grausamkeit und Reaktion fortsetzt. Genau dieser Kreislauf – von Todesfällen, die zu Beerdigungen, Protesten und weiteren Toten führten – war es, der das Regime des Schahs 1978 erschütterte und in der Revolution 1979 und der Flucht des Schahs gipfelte.Diese Bewegung ohne Namen und ohne Anführer ist vielfältig und anpassungsfähig. Sie macht sich eine riesige und bisher nicht ausgeschöpfte Ressource zu Nutze – die latente Unzufriedenheit der Frauen mit ihrem Zweite-Klasse-Status – und verwandelt sie in einen enormen Aktivposten. Sie hat auch bereits einen Erfolg erzielt, wenn auch einen umkehrbaren: Zum ersten Mal seit den frühen Tagen der Revolution geht eine bedeutende Zahl von Frauen in den Städten im ganzen Land völlig ohne Hidschab ihrer Beschäftigung nach. Am 4. Dezember teilte Irans Oberster Staatsanwalt mit, die Sittenpolizei sei „aufgelöst“. Das lässt den Schluss zu, dass die seit Beginn der Proteste erkennbare Politik der Behörden, Frauen, die den Hidschab nicht tragen, zu ignorieren, dauerhaft ist. Skeptische Stimmen in den sozialen Medien wenden dagegen ein, die Ankündigung sei ein Trick der Regierung, um die Opposition zu spalten und zu schwächen.Neu an der aktuellen Protestbewegung ist einerseits der gesellschaftliche Radikalismus, den die Frauen in die Bewegung bringen, zum anderen, dass sie von der Jugend geprägt ist. Von älteren Iranern – denen, die zuhause bleiben, und sich Sorgen um ihre protestierenden Kinder machen oder sie widerstrebend begleiten, in der Hoffnung, sie aus der Gefahr herauszuhalten zu können – hört man häufig den Satz: „Die Angst ist verflogen“.Angst und Vorsicht findet man gewöhnlich bei Menschen, die etwas zu verlieren haben. Aber das lässt sich über die jungen Leute, die den Hauptteil der Demonstrierenden ausmachen und auf die 20 zugehen oder in ihren 20ern sind, nicht sagen. Einen Großteil ihres Lebens haben sie dabei zugesehen, wie die Inflation steigt, die iranische Währung Rial an Wert verliert und ihre Aussichten auf eine Ehe, eine Wohnung und ein Auto – die Dreifaltigkeit des Erfolgs in der iranischen Gesellschaft – schwinden. Als der Lockdown vorbei war, merkten sie, dass die Welt außerhalb der iranischen Grenzen unzugänglicher geworden ist, während die Sanktionen weiter Wachstum und Kaufkraft hemmen, die Behörden den Zugang zum Internet behindern und die Vertreter des Regimes und ihre Familien mehr und mehr Vermögen ansammeln.Der Rapper wusste, was er riskiertDie aktuelle Bewegung begann mit dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“; bewegende Protestvideos verbreiteten sich online. In einem Fall verjagten Schülerinnen, die ihre Maghnae, eine eng anliegende Kopfbedeckung, die in Schulen und Büros getragen wird, abgenommen hatten, einen männlichen Beamten aus der Schule und bewarfen ihn mit Schreibmaterial. Zur inoffiziellen Hymne der Bewegung entwickelte sich „Baraye“, deutsch: „Für“, von Shervin Hajipour. Das Klagelied des jungen Mannes mit honigsüßer Stimme aus dem Norden des Landes ist so voller Träume, so voller Traurigkeit und Sehnsucht, dass es um die Welt ging.Nach fast drei Monaten der Gewalt sind die Slogans schärfer geworden. Heute hört man eher „Ich werde den töten, der meinen Bruder tötet“. Auf Instagram findet man Videoanleitungen für die Herstellung von Molotowcocktails und Bilder von Brandanschlägen auf Kasernen der Basidsch, der Freiwilligenmiliz des Regimes. Die sich verdüsternde Stimmung wurde von dem beliebten Rapper Toomaj Salehi kurz vor seiner Verhaftung Ende Oktober eingefangen. Salehis letztes Musikvideo als freier Mann zeigt ihn beim Kaffeesatzlesen für ein gut gekleidetes Mitglied der herrschenden Elite. „Der Boden deiner Tasse ist ... voll von Lügen und Heuchelei“, rappt er. Und in Anlehnung an eine Vehörmethode der iranischen Behörden fordert er seinen Gesprächspartner auf, sein Geständnis aufzuschreiben, nur dass es dieses Mal „den Obersten Führer erreichen muss".Salehi ist einer von vielen Prominenten, die sich hinter die Demonstrierenden gestellt haben. Schauspielerinnen legten den Hijab ab, Filmregisseure veröffentlichten Videos, in denen sie die Razzien anprangerten, und der bekannteste Fußballkommentator des Landes trat vor einer ausgelassenen Menge an seiner früheren Universität, der Sharif University of Technology in Teheran, auf und forderte Freiheit für alle verhafteten Studierenden.Placeholder image-1Salehi selbst kann sich keine Illusionen über sein drohendes Schicksal gemacht haben, als er begann, seine Follower in den sozialen Medien zu Protesten aufzufordern. Er gab taktische Tipps (Nehmt keine Einladungen zu Protesten an, die eine Zeit und Ortsangabe haben – das ist eine Falle) und beschwor die ältere Generation, sich ihren Kindern auf den Straßen anzuschließen. Nach Salehis Verhaftung veröffentlichten die Behörden Videoaufnahmen, auf denen er mit verbundenen Augen Bedauern über seine Handlungen äußerte; prompt zeigte sich ein Onkel von ihm in den sozialen Medien und behauptete, der Salehi im Video sei eine Fälschung, was heißen würde, dass der echte Salehi ungebrochen und ungebeugt ist. Am 27. November verkündete ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, Salehi sei des Kapitalverbrechens der „Korruption auf Erden“ angeklagt.Der Mut der jungen Iraner:innen, die sich den Gewehren und Knüppeln der Sicherheitskräfte stellen, hat ihnen weltweit Bewunderung eingebracht. Aber die Aufmerksamkeit der Welt ist unbeständig, und das Regime verfügt über enorme Ressourcen. Die Frage ist, ob die derzeitigen Gegner:innen der Islamischen Republik die nötige Zahl, das Durchhaltevermögen und den taktischen Verstand haben, die ihren Vorgängern fehlten: mit anderen Worten, ob es diesmal anders sein wird.Chamenei ist ein gewiefter GegnerDas erklärte Ziel der Demonstrierenden ist ein Regimewechsel, doch die Islamische Republik von Ajatollah Ali Chamenei ist eine mächtige Gegnerin. Chameneis Iran ist ein Staat, der auf einer Idee basiert – dass die schiitische Geistlichkeit den Willen Gottes auf Erden vertritt –, die die Niederlage des Kommunismus erlebt hat und den Kapitalismus im Niedergang wähnt. Diese Idee ist auch heute noch auf dem Vormarsch.Das Regime wurde durch die jüngsten Erfolge in seinem vielfältigen Kampf gegen die USA bestärkt. In den vergangenen zehn Jahren trugen iranische Waffen, Soldaten und Berater dazu bei, den syrischen Präsidenten und wichtigen Verbündeten der Islamischen Republik, Baschar al-Assad, vor in- und ausländischen Feinden zu schützen, einschließlich der USA. Durch die Unterstützung von Milizen im Irak trug der Iran zur Entscheidung von US-Präsident Joe Biden bei, den amerikanischen Kampfeinsatz in diesem Land im Jahr 2021 zu beenden. Der Iran stellt auch die Langstreckenraketen her und liefert Militärdrohnen, mit denen der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine bombardiert. Gleichzeitig hat die Islamische Republik – unter Missachtung der USA und ihrer Verbündeter – laut einer UN-Bewertung genügend waffenfähiges Uran angereichert, um eine Atombombe bauen zu können.Nachdem sie ihren weitaus besser mit Ressourcen ausgestatteten Rivalen, die USA, wiederholt ausgestochen haben, legen die Hardliner der Islamischen Republik eine überhebliche Selbstsicherheit an den Tag.In Ekbatan, einem Komplex von Wohnhochhäusern im Süden Teherans, wurde diese Selbsteinschätzung in der Nacht zum 31. Oktober auf erschreckende Weise deutlich. Die staatlichen Sicherheitskräfte gingen gegen die Demonstrierenden vor, trieben sie in ihre Häuser und terrorisierten sie dann mit modernster Ausrüstung. Schallbomben erzeugten einen gewaltigen Knall, der von den Gebäuden abprallte, Raketen schossen in den Himmel und Laserstrahlen liefen über die Fassaden der Hochhäuser und in die Wohnräume. Hoch oben in einem der Gebäude murmelte eine Frau, die mit ihrem Handy filmte: „Sie haben den Ort, an dem wir leben, in ein Kriegsgebiet verwandelt.“Während die Anwohner von ihren Wohnungen aus zuhörten, rief ein Offizier der iranischen Sicherheitskräfte in die Nacht hinein: „Wir geben unser Blut für die Nation, wir geben unser Leben für die Nation. Wenn es sein muss, ich schwöre bei Gott, würden wir unseren eigenen Frauen, unseren Ehefrauen und Kindern die Kehle durchschneiden, aber wir werden nicht zulassen, dass unser Land zu Schaden kommt.“ Anwohner veröffentlichten Bilder vom Eingangsbereich eines der Hochhäuser, dessen Boden mit Blut beschmiert war.In derselben Nacht schwang in einem anderen Teheraner Wohnkomplex, der Schauplatz von Protesten war, eine Gruppe von Männern Knüppel und feuerte Gewehre in die Luft, während die Bewohner sie von ihren Fenstern aus filmten. „Sie gehören leider zu den 85 Millionen“, rief der Anführer dieser Gruppe in sein Megafon, womit er die 85 Millionen Menschen meinte, die auf Gedeih und Verderb im Iran leben. Dann warnte er seine Zuhörer:innen: Sollten sie weiter protestieren, würde noch härter gegen sie vorgegangen. „Ihr seid keine Kämpfer“, sagte er. „Für uns ist das hier wie eine Freizeitveranstaltung.“Wieviel Unterstützung hat das Regime noch?Als Staat, der seinen revolutionären Schwung auf keinen Fall verlieren will, nutzte die Islamische Republik Krisen immer dazu, die ihr Treuen zu stärken und die Untreuen auszuschalten. Ajatollah Ruhollah Khomeini stürzte die westlich-orientierte Monarchie von Schah Mohammad Reza Pahlavi und ersetzte sie durch eine klerikale Regierung. Ein Jahr später, 1980, maschierte der Irak unter Regierungschef Saddam Hussein, der von den USA und den westlichen Alliierten unterstützt wurde, im Iran ein. Der folgende, achtjährige Krieg kostete hunderttausenden iranischen Menschen das Leben, aber die Islamische Republik überlebte den Angriff mit unveränderten Grenzen. Khomeini nutzte den Krieg, um sich seiner Gegner zu entledigen, und baute eine autarke Wirtschaft auf, die in der Lage ist, den Sanktionen standzuhalten, die verhängt wurden, nachdem die USA das Land 1984 als „Förderer des Terrorismus“ einstufte.Die Entfremdung des Landes vom Westen ist so gut wie komplett. Der Westen will kein iranisches Öl kaufen – und auch sonst nichts. Die jungen Leute des Landes haben Schwierigkeiten, Visa für Reisen ins Ausland zu bekommen. Zudem wurde die Frustration durch die Isolation von der Welt durch die Gleichgültigkeit und Inkompetenz der Behörden im eigenen Land noch verstärkt.Am 8. Januar 2020 schoss die Revolutionsgarde ein Passagierfluzeug mit iranischen Zivilisten ab und brauchte drei Tage, um ihren Fehler einzuräumen. Im Mai diesen Jahres stürzte ein Wohnhochhaus, das gerade unter staatlicher Verantwortung gebaut wurde, zusammen, was 41 Menschenleben kostete. Beide Katastrophen führten zu Protesten auf den Straßen, die schnell unterdrückt wurden.Seit dem Tod Khomeinis im Jahr 1989 hat der unauffällige Chamenei in aller Stille die absolute Herrschaft über das Land erlangt. Der gebrechliche 83-Jährige hat eine treue Gefolgschaft unter den hartgesottenen Anhängern des Regimes, deren Zahl unmöglich zu ermitteln ist. Sie wird aber allgemein auf nicht mehr als 30 Prozent der Bevölkerung geschätzt. Die Demonstrierenden treten unter dem Slogan an, ihr Land „zurückzuerobern“. Chameneis Gefolgsleute sehen das anders. Wir sind der Iran, sagen sie, nicht ihr.Vor Beginn der Proteste konnte sich jeder hinter die Fußball-Nationalmannschaft stellen, die in einer polarisierten Gesellschaft eine verbindende Kraft darstellte. Doch die Weltmeisterschaft in Katar hat gezeigt, dass Sport und Politik inzwischen miteinander verschmolzen sind. Vor dem ersten Gruppenspiel gegen England am 21. November entschieden die Spieler sich dagegen, die Nationalhymne zu singen. Vielen Demonstrierenden reichte das nicht, da sie beobachtet hatten, wie andere Sportstars ihre Karriere und ihre Freiheit riskierten, um die Bewegung zu unterstützen. Für die Behörden dagegen war es schon zu viel; vor den verbleibenden zwei Gruppenspielen sang die Mannschaft pflichtbewusst die Hymne.Sportlerinnen als HeldinnenUnter den Sportler:innen, die mehr riskierten, waren ein Kletterin, die bei einem Wettkampf im Ausland ohne Hidschab antrat, ein Tischtennisspieler, der aus Protest gegen die Niederschlagung der Demonstrationen aus der Nationalmannschaft austrat, sowie der beliebteste frühere Fußballstar des Landes, Ali Karimi, der von Dubai aus eine Flut regimekritischer Twitternachrichten absetzte.Placeholder image-4Das Ausscheiden Irans aus dem Turnier am 29. November wurde von vielen im Iran mit Jubel begrüßt. Berichten zufolge wurde ein Feiernder von den Sicherheitskräften erschossen, weil er in seinem Auto gehupt hatte. Früher im Turnier hatte der Starstürmer des Teams, Mehdi Taremi, es abgelehnt, der internationalen Presse gegenüber die politische Situation zu kommentieren: „Ich bin kein Politiker“, sagte er. Aber das ist es, was die Iraner:innen zunehmend von ihren Helden erwarten. Irans Fußballer profitierten lange von extremer Bewunderung, weil sie die Nation in ihrer optimistischsten und einigsten Form repräsentierten. Aber damit ist Schluss: Die Pfiffe der Fans erinnern sie daran, dass sich in einem Land, in dem eine revolutionäre Stimmung herrscht, jeder positionieren muss.Während die ausländischen Medien den feministischen Charakter der Demonstrationen betonen, ist der Protest, der sich über ganz Iran ausgebreitet hat, viel diverser, als diese Darstellung suggeriert. Die meisten Opfer gab es in der Region Belutschistan im Südosten und im kurdischen Nordwesten. In Belutschistan gibt es weniger weibliche Demonstrierende; es handelt sich um einen Aufstand frommer sunnitischer Männer gegen einen schiitischen Staat, der sie diskriminiert und sie als potenzielle fünfte Säule des sunnitischen Extremismus betrachtet.In der kurdischen Region sind die Proteste eine Fortsetzung der langen und erfolglosen Bemühungen der Kurden um kulturelle Rechte und Autonomie, wenn nicht gar um die völlige Unabhängigkeit. Angesichts des zunehmend militärischen Vorgehens des Staates wirkt die Bewegung in kurdischen Städten immer mehr wie ein Aufstand: Die Demonstrant:innen errichten Barrikaden und die Revolutionsgarden erschießen Dutzende von Menschen.Überall, wo die Menschen aufgewühlt sind, von der Stadt Babol an der kaspischen Küste bis Assaluyeh am Persischen Golf, sind die Demonstrierenden das spitze Ende eines Meinungskeils. Es ist der viel größere Teil der nicht Stellung beziehenden Iraner:innen, die das Schicksal der Bewegung bestimmen werden. Ich berichte seit den 1990ern über den Iran. Über die Jahre hin hörte ich immer wieder Iraner:innen, die keine Sympathie für die Islamische Republik hegen, Angst vor dem Sturz der Regierung ausdrücken. Sie befürchteten, dass das Land unter dem Druck des ethnischen Separatismus auseinander fallen oder ein scheiternder Staat werden könnte. Auf diese Angst setzt die Regierung jetzt. Die regierungsfreundlichen Medien stellen die landesweiten Proteste als von separatistischen, den Iran spalten wollenden Gruppen angezettelte „politische Intrige“ dar. Wenn der Iran und viele seiner Kritiker:innen sich in etwas einig sind, dann in dem zwingenden Gebot, das Land als Ganzes zu erhalten.Das Regime hat es bis jetzt immer geschafft, alle Protestbewegungen zu spaltenJahrelang stellte das iranische Regime seine Gegner als gespalten und unglaubwürdig dar, und es war schwer, das anders zu sehen. Exilgruppen wie die Mujahedin-e Khalq, eine linksgerichtete Sekte mit wenigen Anhängern im Iran, stritten sich mit alternden Monarchisten, die sich um Reza Pahlavi, den in den USA lebenden Sohn des verstorbenen Schahs, scharten. Seine Anhänger wollen, dass er den Thron besteigt, der seit der Vertreibung seines Vaters vakant ist. Unterdessen gibt es seit Beginn der Revolution sporadische Angriffe auf iranische Militärziele seitens bewaffneter kurdischer und Belutschen-Gruppen. Aber die separatistischen Ziele dieser Gruppen entfremden sie den Persisch sprechenden, schiitischen Iraner:innen, die die Mehrheit der Bevölkerung bilden.In den späten 1990ern und den frühen 2000ern versprach die Regierung des gewählten reformistischen Präsidenten Mohammad Khatami politische Liberalisierung und bessere Beziehungen zum Westen. Sie gab sowohl den jungen Leuten als auch revolutionären Hitzköpfen die Chance, ihre Forderungen für einen friedlichen Wandel zu artikulieren. Aber der Wächterrat, der über der gewählten Regierung sitzt und das letzte Wort in allen wichtigen politischen Fragen hat, ließ Khatami seine Agenda nicht umsetzen – mit zwei wichtigen Konsequenzen. Seit 2005, als Khatami als Präsident von Hardliner Mahmoud Ahmadinejad abgelöst wurde, erlebte der Iran einen Brain-Drain, der das Regime einer Generation junger Fachkräfte und Studierender beraubte, die eine effektive Opposition im Land hätten bilden können. Gleichzeitig hatte Unzufriedenheit dort keinen anderen Platz mehr als die Straßen.Placeholder image-2Obwohl die Proteste immer häufiger wurden, stellten sie keine existenzielle Bedrohung für die Islamische Republik dar, da jeder einzelne Protest ein anderes Ziel verfolgte und eine andere Wählergruppe ansprach. 2009 kam es als Reaktion auf den umstrittenen Wahlausgang zu einer großen, friedlichen Bewegung, der „Grünen Bewegung“. Aber es war weitgehend eine gediegene, bürgerliche Angelegenheit. Eine Warnung des obersten Führers und etwas sorgfältig abgewogene Brutalität genügten, um sie niederzuschlagen.Im November 2019 brachte ein starker Anstieg der Benzinpreise arbeitslose Jugendliche aus der Arbeiterklasse auf die Straße. Sie zündeten Banken an und warfen Steine auf die Bereitschaftspolizei. Aber das Regime ist nicht zimperlich darin, mit scharfer Munition gegen Minderheiten und Arme vorzugehen; Hunderte wurden erschossen und die Unruhen beendet.Schafft es die Opposition, alle an Bord zu halten?Es ist demoralisierend, seine Freiheit und sein Leben aufs Spiel zu setzen und nichts zu erreichen. Niedergeschlagen zu werden und zu verlieren, erzeugt ein Gefühl der Unterlegenheit und Machtlosigkeit. Das erklärt, warum viele Iraner:innen die Politik meiden und ihre Energie darauf verwendeten, in einem sich verschlechternden wirtschaftlichen Klima zurechtzukommen oder Wege zu suchen, ins Ausland zu gehen.Bisher war die iranische Opposition gespalten und leicht zu unterdrücken. In diesem Punkt unterscheidet sich die aktuelle Bewegung deutlich von ihren Vorgängern. Die Gruppen, die jetzt auf den Sturz der Islamischen Republik drängen, bemühen sich, eine einheitliche Front zu bilden.Iranische kurdische Guerrilla-Gruppen auf der anderen Seite der Grenze im irakischen Kurdistan widerstanden der – durch wiederholte iranische Raketenangriffe auf ihre Stützpunkte verstärkten – Versuchung, militärische Angriffe auf den Iran auszuüben, was als Versuch der Eroberung interpretiert würde. In Zahedan, der größten Stadt in Belutschistan, riefen die Demonstrierenden patriotische Parolen wie „Von Kurdistan nach Zahedan, mein Leben für den Iran.”Am 4. November forderte der einflussreiche Leiter des Freitagsgebets Mowlavi Abdulhamid Ismailzahi eine Volksabstimmung darüber, welche Regierung der Iran haben sollte. Er sagte dabei nicht, welche Alternativen den Wähler:innen präsentiert werden sollten, obwohl eine Form des Föderalismus bei seinen Anhängern populär wäre. Mit dieser kühnen Forderung, die leicht zu seiner Verhaftung führen könnte, verfolgte Ismailzahi, ein graubärtiger sunnitischer Geistlicher, dasselbe Ziel wie der Sohn des verstorbenen Schahs im amerikanischen Exil, Reza Pahlavi. Der Name des Schah-Sohns war bei einigen Protesten im Iran als Sprechgesang zu hören, vor allem in Arbeitervierteln. Es lässt sich unmöglich sagen, wie viel Unterstützung eine Wiedereinführung der Monarchie finden würde. Pahlavi selbst zitierte kürzlich auf einer Pressekonferenz in Washington DC die kurdische Originalfassung von „Frau, Leben, Freiheit“.Die Exil-Iraner:innen stehen hinter den ProtestenEin weiterer Punkt unterscheidet diese Bewegung von früheren: Die Iraner:innen außerhalb des Landes - die nach 2005 abgewanderten, gut Ausgebildeten – setzen sich unermüdlich für die Demonstrierenden ein. Auf einem durchgesickerten Mitschnitt eines iranischen Geheimdiensttreffens in der zentral gelegenen Stadt Yazd, der vom persischen Programm der BBC ausgestrahlt wurde, hört man einen Beamten sagen, dass von den 92 Millionen Social-Media-Posts nach dem Tod von Mahsa Amini 60 Prozent aus dem Ausland stammten.Zu den prominentesten iranischen Exilanten gehört der im kanadischen Ontario lebende Zahnarzt Hamed Esmaeilion. Als die Revolutionsgarde im Jahr 2020 das Flugzeug abschoss, in dem kanadisch-iranische Staatsbürger:innen saßen, die von einem Familienbesuch im Iran nach Kanada zurückkehren wollten, waren Esmaeilions Frau Parisa Eghbalian und seine Tochter Reera unter den Opfern. In der Folge gründete Esmaeilion eine Vereinigung der Familien der Opfer, die seit Beginn der Unruhen weltweit Demonstrationen gegen das Regime organisiert.Die größte dieser Demonstrationen fand am 22. Oktober in Berlin statt. 80.000 im Ausland lebende Iraner:innen forderten die Abschaffung der Islamischen Republik. Esmaelion und andere prominente Exilant:innen, darunter Masih Alinejad, einer von drei iranischen Aktivist:innen, die am 11. Oktober vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron empfangen wurden, forderten, dass die USA und ihre europäischen Alliierten die Verhandlungen abbrechen, die seit 2003 mit Unterbrechungen geführt werden, um die atomare Entwicklung des Irans gegen Aufhebung von Sanktionen zu beschränken.Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen der Perspektive von Iraner:innen im Land und solchen, die im Ausland leben. Für ungeduldige, im Exil Lebende bedeutet ein Atom-Deal und die Aufhebung von Sanktionen ein Rettungsring für die Islamische Republik – ein Ergebnis, das sie inakzeptabel fänden. Für Iraner:innen in der Islamischen Republik dagegen würde es eine Verbesserung der Lebensbedingungen bedeuten, die in den vergangenen Jahren praktisch unerträglich geworden sind.Aufrufe zu einem landesweiten Streik, der auch die Basare, die Lehrer und – besonders wichtig – die Ölarbeiter einschließt, sind bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Das ist nicht allein auf die Einschüchterung durch die Regierung zurückzuführen. Es liegt auch an den Gehalts- und Beihilfeerhöhungen, die die Regierung den Beschäftigten des öffentlichen Sektors und armen Familien in den vergangenen Monaten zukommen ließ. Und es liegt an der Tatsache, dass bei allem Heldentum der Demonstrierenden für den unwahrscheinlichen Fall eines plötzlichen Zusammenbruchs des Regimes niemand die geringste Ahnung hat, was danach kommt.Auch Chamenei denkt nicht, dass die Protest bald zu Ende gehenEinem internen Bericht des Regimes zufolge, der am 25. November von Hackern, die sich Black Reward nennen, veröffentlicht wurde, wollen 51 Prozent der iranischen Bevölkerung, dass der Hidschab eine Frage der persönlichen Entscheidung ist. 56 Prozent erwarten, dass die Proteste weitergehen. Derselbe Bericht deutet darauf hin, dass Chamenei das auch so sieht. „Die Proteste werden nicht so bald enden“, wird er gegenüber hochrangigen Regierungsvertretern zitiert. Aber mit welchem Ziel?Placeholder image-3Eine Opposition ohne klare Führung hat den Vorteil, dass sie nicht enthauptet werden kann. Aber so vielfältig wie diese Opposition ist, würde jede Diskussion über einen Iran nach der Islamischen Republik die mühsam aufgebaute Einheit gefährden. Bei den aktuellen Revolutionären wird jeder, der die Frage „Wie geht es weiter?“ aufwirft, regelmäßig mit Sätzen wie „Jetzt ist nicht die Zeit für solche Diskussionen“ und „Alles ist besser als dieser Haufen“ abgewimmelt. Es besteht sogar die Gefahr, der Komplizenschaft mit der Taktik der Islamischen Republik beschuldigt zu werden, nämlich die Angst zu verbreiten, dass auf den Sturz des Regimes Chaos folgen wird.Auch die Behörden zeigen Zeichen der Zwiegespaltenheit. Einerseits bestehen sie darauf, dass die „Aufrührer“ niedergeschlagen werden. Gleichzeitig initiieren sie einen Dialog mit den Studierenden, deren Universitäten ein Zentrum der Proteste sind.Doch der Dialog birgt auch Risiken, wie ein Regierungssprecher feststellen musste, als er am 10. November an der Ferdowsi-Universität in Mashhad im Nordosten des Landes von Studierenden öffentlich scharf kritisiert wurde.„Man kann nicht einer Gesellschaft ständig ins Gesicht schlagen und dann, wenn jemand die Hand zur Kritik hebt, sagen: ,Lasst uns reden‘“, erklärte Amin Majidifar, der lokale Vertreter einer landesweiten Studierendenorganisation. Unter Jubel und Beifall kritisierte er die Gewohnheit des Regimes, „die Wut, die von der Jugend dieser Gesellschaft ausgeht, ... den Feinden dieses Landes, Amerika und Israel, zuzuschreiben“. Er forderte die Regierung auf, „zu akzeptieren, dass die Menschen im Iran nicht so sind, wie Sie denken. Akzeptieren Sie, dass manche Leute in diesem Land nicht in den Rahmen passen, den Sie sich vorgestellt haben. Akzeptieren Sie, dass sie auf eine andere Art und Weise leben können, dass sie das Recht auf vollständige Bürgerschaft haben und dass sie nicht Bürger zweiter Klasse sind. Akzeptieren Sie, dass dieses System eine fundamentale Reform braucht.”Der Tenor von Majidifars Rede war pluralistisch, liberal und integrativ. Außerdem wurde sie – was sehr ungewöhnlich ist – live von einem staatlichen Fernsehsender übertragen. Die Hardliner im klerikalen und sicherheitspolitischen Establishment werden sich nun fragen, ob die Gelegenheit, ihren Unmut zu äußern, die Studierenden besänftigen kann, die wütend darüber sind, dass ihr Campus überfallen und ihre Freunde geschlagen, verhaftet und suspendiert wurden, oder ob sie dadurch ermutigt werden.Kann die Opposition zusammen halten?Der schlimmste Alptraum der Opposition ist, dass das Regime einen Keil zwischen sie treibt. Und die Islamische Republik ist eine Klasse für sich, wenn es darum geht, Misstrauen und Paranoia zu säen. Aber Paranoia und Misstrauen können auch nach hinten losgehen. Das zeigte jüngst ein kurzer Film, der heimlich mit einem Handy in einer Mädchenschule in der südirakischen Großstadt Schiras aufgenommen wurde. Die Aufnahme zeigt eine Auseinandersetzung zwischen den Mädchen der Klasse und ihrer Lehrerin.Die Stimmen der Kinder sind voller Wut, die der Lehrerin, einer Frau mittleren Alters in der vorgeschriebenen dunkelblauen Maghnae, verrät Fassungslosigkeit. Die Schülerinnen sind davon überzeugt, dass hinter dem Anschlag auf das Grab eines verehrten schiitischen Heiligen in Schiras am 26. Oktober, bei dem 15 Menschen getötet wurden, die iranischen Sicherheitskräfte stecken. Immer verzweifelter versucht die Lehrerin vergeblich, die Schülerinnen davon zu überzeugen, dass sie sich irren. „Meine Lieben“, wendet sich die Lehrerin in dem Tumult an ein Mädchen, „unter wessen Einfluss stehen die Täter? Sie stehen unter dem Einfluss des IS und der Zionisten.“ Die Kinder sind außer sich vor Empörung. Ein Mädchen schreit: „Falsch!“Die Lehrerin zupft ihr Kopftuch zurecht, um sich etwas Luft zu verschaffen. „Gott sei mein Zeuge“, sagt sie, „unsere Sicherheitskräfte haben es nicht getan, das schwöre ich.” Ein Mädchen schreit: „Woher wissen Sie das?” Die Lehrerin antwortet: „Ich weiß, was ich sage. Beim Leben meiner Kinder: Der IS hat sich am gleichen Abend zu der Tat bekannt.”Es würde wenig Sinn für den Iran ergeben, das Grab ihres eigenen schiitischen Heiligen zu zerstören, und der IS hat sich stolz dazu bekannt. Aber Verschwörungstheorien haben eine lange und erfolgreiche Geschichte im Iran. Im Sommer des Jahres 1978 wurden die Türen des vollen Kinos Cinema Rex in der Ölraffinerie-Stadt Abadan verschlossen und das Gebäude niedergebrannt. Mindestens 370 Menschen wurden getötet. Wir wissen heute, dass die Geheimpolizei des Schahs nicht für diese Gräueltat verantwortlich war, aber damals dachten das viele im Iran. Die Niederbrennung des Kinos führte mehr als jedes andere Ereignis dazu, die Bevölkerung gegen ihr Staatsoberhaupt aufzubringen. (Tatsächlich wurde das Kino von islamistischen Eiferern angezündet. Von Schuldgefühlen gequält gestand einer von ihnen das nach der Revolution der Regierung Khomeini und wurde still und leise exekutiert.)Verschwörungstheorien und ZensurUnd jetzt scheint eine bedeutende Zahl von Iraner:innen – angestachelt von Oppositions-TV-Sendern im Ausland – zu glauben, dass ihre Regierung den Anschlag auf den Schrein verübte, um Angst vor einem Zusammenbruch von Recht und Ordnung zu verbreiten. Kürzlich verkündete das Geheimdienstministerium in einem Statement die Verhaftung von 26 Ausländern im Zusammenhang mit dem Anschlag, es waren Männer aus Tadschikistan, Aserbaidschan und Afghanistan. In diesem Zusammenhang machte es sich die Mühe, sich gegen die Anschuldigungen zu verwahren – ein sicheres Zeichen dafür, dass man sich deswegen Sorgen macht.„Man sagt, man solle nicht versuchen, die 80er-Generation zu verstehen“, erklärte Kulturminister Ezzatollah Zarghami kürzlich vor einem Publikum loyaler Studierender – damit bezog er sich auf das iranische Kalenderjahrzehnt der 1380er, in denen viele der Demonstrierenden, die auf die 20 gehen oder Anfang 20 sind, geboren wurden. Zarghami war früher Leiter des staatlichen Rundfunks, einer Propagandamaschine, zu deren Spezialitäten die Ausstrahlung von Geständnissen von Dissidenten gehört, die unter extremem Druck gebrochen wurden. „Ich habe mit dem Chef-Verhörer viele der jüngst Verhafteten gesprochen“, sagte Zarghami weiter, „Er sagte zu mir: ,Ich habe mein Leben lang Leute verhört, aber das war die härteste Aufgabe, die ich je hatte, weil ich nicht verstehe, was sie sagen und sie nicht verstehen, was ich sage.‘“Weiter erzählte Zarghami von einem Geistlichen aus einfachen Verhältnissen, dem beim Überqueren der Straße der Turban vom Kopf gerissen wurde. „Die Demonstrierenden sind wütend über etwas Anderes. Sie lassen ihre Schwierigkeiten an einem Mullah aus, der versucht, sein tägliches Brot zu verdienen.“ Nicht, dass man sich wegen der Probleme des Landes Sorgen machen müsse, fuhr der Kulturminister fort: „Unsere größten Probleme betreffen Fragen des Vorgehens und der Methode, nichts Grundsätzliches“, erklärte er. Mit dem Hinweis auf das „Vorgehen“ kritisierte Zarghami die harte Umsetzung des Hidschab-Gesetzes, die zum Tod von Mahsa Amini führte. Was er nicht tat, war das Gesetz selbst in Frage zu stellen.Zu Beginn der Proteste erhielt Zarghami Besuch von Bahman Farmanara, einem kultivierten und älteren iranischen Filmemacher, dessen Leben und Karriere, die er hauptsächlich im Westen verbracht hat, darauf schließen lassen, dass er keinerlei Sympathien für die Islamischen Republik hegt. Farmanara kam zu Zarghami wegen einer Erlaubnis für einen Film, den er machen wollte. Zarghami twitterte ein Foto von dem Treffen, woraufhin Farmanara online scharf kritisiert wurde. Die Opposition warf ihm empört vor, sich bei einer Regierung einzuschmeicheln, die auf der Straße Menschen tötete. Dass Zarghami in der Lage war, einen über ein halbes Jahrhundert aufgebauten Ruf zu zerstören, ist der Beweis – falls einer gebraucht würde – für den fast unheimlichen Instinkt der Islamischen Republik, den Schwachpunkt des Feindes zu nutzen.Anfang Dezember wurde eine Reihe Journalist:innen, Schriftsteller:innen, Schauspieler:innen und Filmregisseur:innen verhaftet, während der Chef der Justiz Ende November die Freilassung von 1.156 Verhafteten verkündete, die scheinbar für weniger einflussreich gehalten werden. Mindestens vier Todesurteile gegen Demonstranten wurden wegen Gewalt gegenüber den Sicherheitskräften oder öffentlichem Eigentum verhängt. Und es werden noch mehr werden. Das staatliche Fernsehen wird die Prozesse und Geständnisse übertragen und die Polizei wird mitteilen, dass sie Waffenarsenale entdeckt und Untergrundnetzwerke, die Gelder an die „Aufrührer“ vermitteln, zerstört habe. Mitglieder der Polizei und paramilitärischen Sicherheitskräfte, die von Demonstrierenden getötet werden, was bereits vorgekommen ist, werden als Märtyrer verabschiedet werden.Der Rapper und der Sohn des SchahEs ist unwahrscheinlich, dass die Auflösung der Sittenpolizei durch die Regierung zu einer Veränderung des Hidschab-Gesetzes führt. Chamenei kann damit leben, dass eine große Anzahl iranischer Frauen ohne Kopftuch herumläuft. Aber er wird niemals eine Gesetzgebung akzeptieren, die ihre Dreistigkeit legalisiert. Und wenn es die Umstände erlauben, wird er sie zwingen, es wieder zu tragen. Unwillkürlich kamen mir Kulturminister Zarghamis Worte über wechselseitiges Unverständnis in den Sinn, während ich dem Sohn des letzten Schahs, Reza Pahlavi, zuhörte. Er wies alle politischen Ambitionen von sich und sagte, er wolle nur das Beste für das iranische Volk. Er sprach ein steifes Persisch, so als habe er Kleidung übergestreift, die während der vergangenen 43 Jahre in seinem Kleiderschrank in den USA Spinnweben angesetzt hat.Was, wenn überhaupt, haben er und der Rapper Toomaj Salehi, der das Regime mit scharfer Sprache von der Straße angreift und jetzt irgendwo in einer Zelle sitzt, gemeinsam? Was die beiden und der Imam von Zahedan, die Studierenden in Maschhad, die militanten Frauen in Kurdistan?Vorsicht vor allen – ob auf Seiten der Regierung oder unter ihren Gegnern –, die behaupten, eine Antwort auf diese Fragen zu haben. Die Fähigkeit der Opposition, an einem Strang zu ziehen, wird erst jetzt auf die Probe gestellt. Aber, was immer im Iran in den kommenden paar Monaten auch passiert, sicher ist, dass sich etwas verändert hat: etwas Grundsätzliches.
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