Während die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Bürgerkrieg in Syrien gerichtet ist, könnten die weniger dramatischen Ereignisse in Ägypten über die Frage entscheiden, ob die Demokratiebewegungen des Arabischen Frühlings wirklich in der Lage sind, in ihren Ländern eine demokratische Alternative zur Tyrannei zu etablieren.
Was sich jüngst in Kairo ereignet hat, dürfte ebenso bedeutsam sein wie die Vertreibung Hosni Mubaraks im Februar 2011. Damals wurde das Regime enthauptet, lebte aber in Gestalt des Militärrates fort, der für die Zeit des Übergangs die Macht übernahm. Seit Sonntag sind nun diejenigen entmachtet, die Ägypten jahrzehntelang dominiert hatten – offenbar geschah dies einvernehmlich.
Indem er die Entlassung seines Verteidigungsministers und des Vorsitzenden des Militärrates, Hussein Tantawi, erzwang, ist Präsident Mohamed Mursi nicht nur einen alten Feldmarschall der Ära Mubarak losgeworden und hat ihn durch das jüngste Mitglied des Rates ersetzt – er hat auch die Machtverhältnisse verändert.
Mursi hat sich mit dem Generalstabschef der Armee, Sami Enan, zugleich des Mannes entledigt, der als Tantawis Erbe gehandelt wurde. Der nun bestimmte Nachfolger – der bisherige Chef des Militärgeheimdienstes, Abdel-Fatah el-Sissi – wird künftig nicht mehr bis bisher dem Militärrat, sondern Mursi selbst Bericht erstatten. Des Weiteren hat der Staatschef die Rechte für ungültig erklärt, die sich der Militärrat während der Präsidentschaftswahl im Juni selbst eingeräumt hatte: Unter anderem die Befugnis, gegen die Verfassung ein Veto einlegen zu können, die derzeit ausgearbeitet wird.
Mursi ist kein Putin
Wurde dem aus der Muslimbruderschaft stammenden Präsidenten von Linken und Liberalen zunächst vorgeworfen, er könne sich nicht gegen die Armee durchsetzen und mache mit den Generälen gemeinsame Sache, kritisieren sie ihn heute dafür, sich zu viel Macht anzueignen. Es ist wahr, dass der ägyptische Präsident plötzlich über die gleiche Macht verfügt wie der in Russland. Aber Mursi ist kein Putin.
Zum einen sind die von ihm erworbenen Rechte zeitlich begrenzt. Die Verfassung ist bereits weitgehend geschrieben und soll Anfang September fertig sein. Über sie soll per Referendum abgestimmt werden, zwei Monate darauf sollen Parlamentswahlen folgen. Mursi behält seine weitreichende Autorität höchstens drei Monate lang, bis er seine Amtsführung der Prüfung durch eine Volksabstimmung unterzieht.
Zum anderen hat der Präsident mit den Muslim-Brüdern Mahmoud und Achmed Mekki zwei Juristen zum Vizepräsidenten beziehungsweise Verteidigungsminister ernannt, die hohes Ansehen genießen. Sie sind Teil der Reformbewegung innerhalb des Justizapparats, der die Macht des von der Politik ernannten Verfassungsgerichts zurückdrängen will. Dieses Gremium war die zweite Säule von Mubaraks Militärstaat. Die jetzt Ernannten waren nach der fingierten Wahl von 2005 am Aufstand der Richter beteiligt. Zivilgesellschaft und das Prinzip Rechtsstaatlichkeit hätten außerhalb des Lager der Islamisten keine besseren Fürsprecher finden können.
Eingelöstes Versprechen
Natürlich kann man Mursis Vorgehen auch mit mehr Skepsis betrachten. Wenn die Verfassungsgebende Versammlung sich nicht auf einen Entwurf für eine Magna Charta verständigen kann, kommt ihm die Macht zu, eine neue zu benennen. Er könnte auch per Dekret weiter regieren. Einige Analysten zeigen sich skeptisch darüber, wie die Bruderschaft ihre Legitimation durch die Wähler interpretiert. Zweifler sollten sich fragen, welche Alternative es denn gibt, wenn man bedenkt, dass die jetzige Phase eine neue Ordnung begründen soll, in der sich die Armee in die Kasernen zurückzieht. Kurz nachdem der Militärrat im Juni seinen Erlass bezüglich der Verfassung verkündete, kamen Oppositionelle im Fairmont-Hotel in Kairo zusammen und versprachen, diesen Schritt rückgängig zu machen. Mursi löst dieses Versprechen nun ein.
Die Macht, die er nun auf seine Person vereint, wird durch die Frage auf die Probe gestellt werden, ob es ihm gelingt, die Teile der Bevölkerung mit einzubinden, die der Bruderschaft skeptisch gegenüberstehen, also Christen, Säkulare, Liberale und Linke, und der Regierung die Wirksamkeit zu verschaffen, die sie dringend benötigt. Im Augenblick sollte man Mursi die Unschuldsvermutung zugestehen.
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