Die anfängliche Begeisterung über den Arabischen Frühling ist einer gewissen Ernüchterung gewichen, seitdem sich zeigt, dass islamistische Parteien am meisten von der Demokratisierung profitieren. In Tunesien hat Ennahda den Sieg bei den Wahlen davongetragen, bei den Wahlen in Marokko am vorigen Wochenende die gemäßigt islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), und in Ägypten, wo an diesem Montag die Wahlen beginnen, sieht alles nach einem Sieg der Muslimbrder aus. Also fragen sich viele, in welche Richtung die Region sich entwickelt.
Allerdings: Der Erfolg traditionsreicher und gut organisierter islamistischer Parteien bedeutet nicht zwangsläufig einen Erfolg für den Islamismus. Was wir in der arabischen Welt stattdessen erleben, ist eine Entwicklung hin zum Post-Islamismus – die Position, zu der eine zunehmende Zahl moderaterer islamistischer Parteien gelangen, nachdem sie mit der politischen Realität konfrontiert wurden.
Die türkische AKP hat hierfür den Weg bereitet. Ihr Beispiel zeigt: In der Ideologie des Islamismus verwurzelte Parteien haben nur dann auf breiter Basis Erfolg bei der Bevölkerung, wenn sie ihre Dogmen und ihren Idealismus zugunsten von Pragmatismus und Kompromissbereitschaft aufgeben. Es gibt erste Hinweise darauf, dass die tunesische Ennahda diesen Weg beschreitet und die ägyptische Bruderschaft ihr mit nicht allzu großem Abstand folgt.
Islamische Realpolitik
Ennahda hat bereits erklärt, dass sie nicht versuchen wird, Alkohol zu verbieten oder eine Version des islamischen Bankwesens einzuführen. Post-islamistische Parteien bleiben dem Glauben zwar auf emotional-rhetorischer Ebene verbunden und versuchen einen kulturellen Wandel hin zu islamischen Prinzipen (wie sie sie definieren) zu bewirken. Sie wollen aber kein vorgefertigtes, vermeintlich islamisches politisches Modell einführen. Mit anderen Worten: Sie haben eine Gesellschaft im Blick, in der der Islam die Politik inspiriert und anleitet, aber ohne sie in dogmatischer und diktatorischer Art und Weise zu diktieren. Post-Islamisten sind Islamisten, die sich mit der politischen Realität konfrontiert sehen.
Globalisierung, der einfache Austausch von Informationen und die Entstehung heterogener Identitäten haben den Islamismus zu etwas gemacht, dass nicht lebbar erscheint und anachronistisch wirkt. Die islamistischen Gruppen mussten sich daher entscheiden, ob sie sich der sich verändernden Umgebung anpassen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Einige sind dem Dogmatismus verhaftet geblieben, andere haben angefangen, sich dem Pluralismus, der Gleichheit, der Universalität der Menschenrechte und religiöser Mäßigung zuzuwenden, um für ihr zunehmend immer gebildeteres Zielpublikum weiterhin eine Rolle zu spielen.
Diese Öffnung war nicht einfach. Während sie nach außen hin an Attraktivität gewannen, hat der Zusammenhalt innerhalb der Gruppen gelitten. Die traditionelleren Elemente haben Mühe, mit der Entwicklung Schritt zu halten. In Ägypten sind in den vergangenen Monaten mehrere prominente Mitglieder aus der Bruderschaft ausgetreten.
Demokratie gegen Machtmissbrauch
Man sollte das Aufkommen des Post-Islamismus begrüßen, da es ein Zeichen für das Scheitern des klassischen Islamismus darstellt und zeigt, dass die meisten Menschen in der Region nicht ideologisch motiviert sind, sondern eine pragmatische Politik bevorzugen. Langfristig gesehen wird der Post-Islamismus die extremeren Elemente schwächen, die immer noch davon träumen, eine totalitäre Theokratie zu errichten.
Es wird wohl auch weiterhin politische Parteien geben, die den Islam zum Vorwand nehmen, um Kritik an ihrer Politik abzuwehren und die bestimmte überkommene kulturelle Praktiken und Einstellungen etablieren wollen. Das Aufkommen demokratischer Praktiken in der Region sollte aber dennoch Anlass zur Hoffnung geben. Die Demokratie kann sicherlich auch unschöne Elemente an die Regierung bringen. Sie kann sie aber auch wieder von dort entfernen. Eine demokratische Kultur ist das beste Mittel, um Machtmissbrauch vorzubeugen und Transparenz, Verantwortlichkeit und Rechtsstaatlichkeit zu etablieren.
Aus der Perspektive der westlichen Politik ist dies ein sehr viel besserer Weg, das Entstehen eines theokratischen Totalitarismus zu verhindern. Anstatt unbeliebte Autokraten zu unterstützen, sollten wir die Demokratisierung fördern und an die Möglichkeiten glauben, dass Gesellschaften zum besseren umgestaltet werden können.
Nur eine Phase
In einigen Kreisen sind Befürchtungen vor einer Theokratie nach iranischem Vorbild laut geworden, aber erste Anzeichen lassen dies in Ägypten, Tunesien oder Ägypten äußerst unwahrscheinlich erscheinen – insbesondere deshalb, weil die Aufstände nicht von den islamistischen Kräften angeführt wurden. Darüber hinaus kann sich keines dieser Länder leisten, von der Internationalen Gemeinschaft isoliert zu werden – sie alle hängen zu stark von ausländischen Investitionen, Know-How und Tourismus ab. Da es sehr unwahrscheinlich ist, dass islamistische Gruppen bei den Wahlen absolute Mehrheiten erringen werden, dürften Koalitionen mit säkularen, liberalen und nationalistischen Elementen mäßigenden Einfluss ausüben.
Der Post-Islamismus sollte als Phase betrachtet werden, die den Nahen Osten in den kommenden Jahrzehnten charakterisieren wird. Man sollte ihn nicht als Gefahr betrachten, sondern vielmehr als Möglichkeit zum Dialog. Während dieser Phase wird es viele Herausforderungen geben, aber die Wahl eines demokratischen Rahmens mit einer großen Bandbreite an politischen Stimmen wird es der Region hoffentlich ermöglichen, einer besseren Zukunft entgegenzugehen.
Ghaffar Hussain ist Berater und Trainer bei der Quilliam Foundation. Siewurde im April 2008 in London von Aussteigern aus der islamistischen Szenegegründet und versteht sich als anti-islamistischer Think-Tank
Kommentare 6
Na ja...
Mir gefiel dieser Kommentar im Guardian besser, da m.E. realistischer:
www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/nov/27/islamist-arab-spring-west-fears?CMP=twt_gu
all diejenigen die die angst vor "den islamisten" schüren vergessen, dass die islamistischen parteien auch "nur" konservative parteien sind und somit im weitesten sinne das pendant zu "unserer" cdu/csu (siehe: im dialog mit rafik schami www.phoenix.de/content/phoenix/die_sendungen/diskussionen/419161) . in jeder funktionierenden demokratie gibt es konservative und sie beziehen ihren programmatischen background natürlich aus der jeweiligen kultur und religion. jedwede einmischung "des westens" in die politischen vorgänge in diesen jungen demokratien(welches interessanterweise grade von "unseren" christlichen konservativen gefordert wird) - sei es durch das stützen von diktatoren in den letzten jahrzehnten oder vorgenanntes schüren von angst gegenüber den islamisten - ist somit falsch und kontraproduktiv. man sollte dem konservatismus - egal in welchem kulturkreis - das demontieren seiner selbst schon selbst überlassen. funktioniert ja ganz gut, wie wir grade "im westen" (vorwahlkampf usa / konservative regierungschefs EU) beobachten können.
im beitrittsgebiet hieß der post-sedismus cdu.
"...Libyen hat uns das scheinbar nicht bekannte Bündnis zwischen westlichem Imperialismus und islamischem Integralismus gezeigt. Es stammt aus der Zeit des gemeinsamen Kampfes gegen die russische Präsenz in Afghanistan und wurde erneuert. Al Kaida ist nicht zufällig der Name der Datenbank der CIA, mit der in Afghanistan islamische Kämpfer gegen die Sowjets rekrutiert und ihre Namen festgehalten wurden. Während das Imperium behauptet, in Afghanistan gegen den „islamischen Integralismus“ zu kämpfen, verbündet es sich gleichzeitig mit ihm im Mittelmeerraum um den Umsturz ihm verhasster Staaten zu erreichen. (Es ist eine Tatsache, dass sich die Milizen des Übergangsrates zum großen Teil aus radikalen Islamisten zusammensetzen). Das gilt für Libyen und Syrien. Man sollte beachten, dass dieses Bündnis es radikalen Islamisten ermöglich, die Zerstörung der letzten noch verbliebenen laizistischen Staaten in dieser Region in Angriff zu nehmen. Der erste dieser Staaten war Irak, jetzt ist die Reihe an Libyen und Syrien. Mit dem voraussichtlichen Sieg der Moslembrüder in Ägypten (dank Saudi Arabien) und
ähnlicher Kräfte in Tunesien entsteht ein gemeinsamer Block des islamischen Integralismus, der das ganze Nordafrika umfasst. Der Westen hat dazu entscheidend beigetragen. Die Frauen sind die ersten, die die Folgen tragen werden: Der Übergangsrat hat bereits verkündet, dass er das islamische Gesetz in Kraft setzen und die Heirats- und Scheidungsgesetze revidieren will..."
Luigi Ambrosi
u. a. hier zu finden
www.zeitfokus.de/politik/item/1210-10-geostrategische-anmerkungen-zur-besetzung-libyens.html
Ich fand den auch besser, weil konkreter und wegen der, wenn auch kurzen, Diskussion der Frage, was unter Islamismus denn überhaupt verstanden wird.
Nur leider hatten wir den hier schon länger übersetzt und hatten gestern auch wenig Zeit.
Schade, aber manchmal nicht zu ändern.
Danke, Phineas Freek, Du kommst zum Wesentlichen.