Als vor fünf Jahren bekannt gegeben wurde, dass Brasilien im Frühsommer 2014 die Fußballweltmeisterschaft und zwei Jahre später auch noch die Olympischen Sommerspiele ausrichten werde, sagte der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva: „Unsere Stunde ist gekommen.“ Und die vor ihm jubelnden Massen stimmten ihm völlig zu. Niemand im Land zweifelte daran. Lange wurde Brasilien als ein ewiges Schwellenland abgetan, das nie recht in der Lage sein würde, seine Potenziale zu nutzen. Nun schien es endlich auf der Überholspur zu sein: Die Wirtschaft boomte, die Armut nahm ab, die Zerstörung des Amazonas verlangsamte sich und der aus der Arbeiterpartei kommende Präsident da Silva erfreute sich großer Beliebtheit. Irgendwie schien an der Vorstellung, dass Gott in Wahrheit ein Brasilianer sei, doch etwas dran zu sein.
Nun, leider, fünf Jahre später ist die Stimmung vorbei. Die Proteste, die im Juni 2013 begannen, haben die Unzufriedenheit der Menschen mit aller Macht gezeigt. Es waren die größten Unruhen in dem südamerikanischen Land seit dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er Jahren. Sie richteten sich gegen die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft, gegen Korruption, insbesondere in der Verwaltung, gegen soziale Missstände, gegen die Erhöhung von Preisen im öffentlichen Nahverkehr und unrechtmäßige Polizeigewalt. Seit 2011 hat die Wirtschaft dramatisch an Schwung verloren. Auch der Umweltschutz, dem sich das Land verschreiben hatte, geriet wieder in den Hintergrund, gewaltige Megaprojekte im Damm- und Bergbau fressen sich weiterhin in das Land der indigenen Stämme. Und die Rodung des Amazonas schreitet wieder so stark voran wie seit zehn Jahren nicht mehr.
Der Stadionbau indes verzögerte sich, auf den Baustellen gab es Todesfälle zu beklagen. Die Infrastruktur ist immer noch lausig, die Mordraten weiterhin hoch und nun stehen auch noch Präsidentschaftswahlen an. Es ist also durchaus möglich, dass Brasilien am Ende von 2014 schlechter dastehen wird als zu Beginn des Jahres. Ebenso gut möglich ist allerdings, dass die derzeit von Dilma Rousseff geführte Regierung irgendwie weitermacht, und auf typisch brasilianische Art mit kreativen Tricksereien in letzter Minute doch noch alle glücklich machen wird.
In diesem Jahr wird die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sich auf Brasilien richten, lange genug jedenfalls, um auch mal einen Blick hinter die Klischees von Karneval, Kaffee, Copa Cabana und Fußball werfen zu können. Das Land ist mehr als doppelt so groß wie Europa. Die Bevölkerung von 199 Millionen Menschen setzt sich aus vielen zusammen: Da sind die Nachfahren der kolonialen Siedler und ihrer Sklaven, Überlebende der von den Europäern dezimierten indigenen Bevölkerung. Und da sind jene, die im 20. Jahrhundert aus Japan, dem Libanon, Europa und anderen Teilen der Welt einwanderten.
Die vornehmlich weißen Eliten Rio de Janeiros, São Paulo und Brasílias erfreuen sich eines Lebensstandards, der so hoch wie in den westlichen Ländern ist und höher. Gleichzeitig trifft dieser Wohlstand auf engstem urbanen Raum auf eine Armut, die man sich hier in Europa nicht vorstellen kann. Von der sich hier nur schwer einen Begriff machen kann, wer sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Denn die Massen in Megastädten wie Salvador und Recife leiden unter Armut, schlechter Bildung, fehlender Gesundheitsversorgung, hohen Mord- und Crackabhängigkeitsraten. In ländlichen Gegenden im Nordosten des Landes haben die Plantagenbesitzer die Lokalpolitiker dermaßen im Griff, dass dort weiterhin beinahe feudalistische Verhältnisse herrschen; und auch die Soja- und Viehbarone im Landesinneren drängen die landlosen Bauern und indigenen Communities immer weiter an den Rand.
Wie ein solches Land tickt, lässt sich in einer einzigen Geschichte nicht wirklich darstellen. Wir haben deshalb versucht, so viele Menschen wie möglich ihre Geschichte erzählen zu lassen: der schwule Politiker, der nun im Parlament sitzt; die Krankenschwester aus der Favela, zu der Tag und Nacht Menschen kommen, um Rat zu suchen; die junge Polizeichefin, die nun, nachdem ihre männlichen Vorgänger gescheitert sind, die Armengebiete in Rio de Janeiro befrieden soll; der Journalist, der im vergangenen Jahr an den Protesten teilnahm und der, nachdem er bemerkte, dass die großen Medien nicht die Wahrheit, die sich auf der Straße abspielte, schrieben, ein Ninja-Journalistenkollektiv gründete.
Alle diese Menschen haben an das Jahr 2014 große Erwartungen. Die einen verdammen die Weltmeisterschaft und ihre immensen Kosten, die anderen hoffen, dass die Sozialproteste in diesem Jahr wieder aufflammen mögen; wieder andere freuen sich einfach auf ein gigantisches Sportereignis, das dem Land einen neuen Schwung Selbstbewusstsein geben kann. Die meisten von ihnen sind außerhalb Brasiliens relativ unbekannt, aber sie stehen jede und jeder für sich für die Wirklichkeit in diesem Land.
Das erwarten sich die Menschen von den kommenden Monaten: neun Protokolle
Jean Wyllys: Aus dem Big-Brother-Container ins Parlament
Ob man will oder nicht, man muss Jean Wyllys als einen postmodernen Politiker bezeichnen. Schließlich hat er es über das brasilianische Big Brother und die erste Wahlplattform für die Rechte Homosexueller bis ins Parlament geschafft. Oder wie sonst will man einen Professor nennen, der im Jahr 2005 explosionsartig zu einer Berühmtheit wurde, weil er für eine ethnografische Studie über die Funktionsweise einer Fernsehshow beschloss, selbst bei ihr mitzumachen?
Trotz der Vorurteile einer, wie Wyllys sagt, „homophoben Nation“ kamen sein Witz und seine Offenheit bei den Brasilianern so gut an, dass der schwule Wissenschaftler den Big-Brother-Container schließlich als Sieger verließ. Fünf
Jahre später wurde er dann zum ersten Abgeordeten eines Landesparlaments gewählt, der für die LGBT-Bewegung, also die Schwulen- und Lesben-bewegung, eintrat. Für den 39-Jährigen, der in einer der ärmsten Regionen des Landes im nordöstlichen Bundesstaat Bahia aufgewachsen ist, ist das keine schlechte Karriere.
Wyllys hat sechs Geschwister, seine Eltern sind Analphabeten und zu Hause gab es weder Strom noch trinkbares Wasser. Eine seiner Schwestern starb an Typhus. Mit zehn verkaufte er auf der Straße Popcorn, um ein wenig Geld dazuzu-verdienen. Doch er wusste, wie wichtig eine Ausbildung ist. Deshalb ging er immer
zur Schule und nahm noch zusätzlich Unterricht bei katholischen Priestern. Wyllys gehört heute der Partei „Sozialismus und Freiheit“ (PSoL) an, die sich vom Regierungslager abgespalten hat und ein radikaleres Programm verfolgt. Seiner Meinung nach werden die Spannungen zwischen den politischen Polen Brasiliens vor dem Hintergrund der WM wieder zunehmen: „Ich erwarte eine weitere Radikalisierung und auch Gewalt“, sagt er.
„Die Menschen wollen mehr als nur konsumieren. Sie wollen Transparenz in der Politik und bei den öffentlichen Ausgaben, weniger Korruption und mehr politische Teilhabe.“
So denken heute viele Linke in Brasilien. Sie sind nach zehn Regierungsjahren der Arbeiterpartei enttäuscht. Luiz Inácio Lula da Silva hatte 2003 mit dem Versprechen begonnen, soziale Ungleichheit und Korruption zu bekämpfen. Doch die Regierung – jetzt unter der Leitung seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff – wurde von Skandalen erschüttert und zu Kompromissen gezwungen, die viele für inakzeptabel halten. So näherte sie sich der rechten Evangelikalen-Bewegung an. Einer ihrer Vertreter, der Prediger Marco Feliciano, nennt Aids den „Krebs der Schwulen“ und erklärte, Afrikaner seien „seit den Zeiten Noahs verdammt“. Trotzdem wurde er 2012 zum Präsidenten der Kommission für Menschenrechte und
Minderheiten des brasilianischen Unterhauses ernannt. „Ich habe Angst, dass Brasilien eine theokratische Republik wird und die Rechte von ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten eingeschränkt werden“, sagt Wyllys. In der
Aufmerksamkeit, die sein Land nun überall in der Welt erfahren wird, sieht er aber auch eine Chance. „Brasilien könnte zu den führenden Nationen der Welt gehören, doch die Qualität unseres Schul- und Gesundheitssystem bleibt weit hinter den Möglichkeiten zurück. Wir müssen unseren Bürgern einen gewissen Lebensstandard garantieren können.“ Aber
solche eigentlich normalen Rechte durchzusetzen, dafür wird es einen politischen Kampf geben müssen, ist Wyllys überzeugt. Jonathan Watts
Leonardo Pereira Motta: Der Musiker hat Angst, weiter in Angst zu leben
Leonardo Pereira Motta stammt ursprünglich aus Rocinha, jener riesengroßen Favela in Rio de Janeiro, die eine der größten in ganz Südamerika ist. Schon als Teenager wurde er in den neunziger Jahren zu einem der ersten Stars des Rio-Funk, eines neuen Musikgenres: „Wir sind Underground, das ist unsere stärkste Waffe“, sagt er. „Funk ist demokratisch und deshalb gefährlich. Wir ärgern den Markt, weil wir es sind, die komponieren, produzieren und vertreiben. Die Kids in der Favela rappen nur über das, was sie selbst sehen.“ MC Leonardo legt noch immer viel Wert auf seine Texte, ist politisch engagiert. Vor zwei Jahren kandidierte er für den Stadtrat von Rio. „Die einzige Angst, die ich habe, ist die, weiter in Angst zu leben“, sagt er. Ich treffe ihn zufällig bei einem der noch immer regelmäßig statt-findenden Proteste im Stadtzentrum. Hier ist er nur eine Stimme unter vielen, aber er sprüht vor Energie und Tatendrang, als stehe er auf einer Bühne.
Brasilien sei keine Demokratie, sagt er. „Die meisten Organisa-tionen in den Favelas sind in irgendeiner Weise korrupt. Aber ich glaube, dass man die Dinge verändern kann, ohne Autoreifen anzuzünden, Steine zu werfen oder jemanden zu erschießen. Die Leute müssen nur auf die Straße gehen und sagen, was sie wollen, organisiert und gut vorbereitet. Es spielt keine Rolle, ob man vor einer Million oder vor einem einzigen Menschen auftritt. Richtig singen muss man immer.“ Gibby Zobel
Major Pricilla: Die Polizeichefin
soll die Favelas kontrollieren
Als im vergangenen Jahr bekannt wurde, dass Polizisten den Maurer Amarildo de Souza aus Rocinha, Rio de Janeiros größter Favela, mit Elektroschocks gefoltert und getötet hatten, rief man Major Pricilla de Oliveira Azevedo an. Zwar ist die Frau erst 35, aber in den Armen-vierteln kennt sie sich aus wie ein alter Hase. Und nun in der Krise machte man sie zur Verantwortlichen des sogenannten Befriedunsprogrammes.
Der Fall führte zu Massen-protesten und drohte die seit 2009 verfolgte Polizeistrategie scheitern zu lassen, in 40 Favelas
der Stadt wieder die Kontrolle zu erlangen. Eigentlich haben dort bewaffnete Gangs das Sagen. Aber Major Pricilla ist das freundliche Gesicht des Befriedungsprogramms. Sie führt nun in einem der brutalsten Polizeiapparate der Welt das Kommando über Hunderte von Beamten. Und muss sich täglich mit Morden, Drogenhandel, Waffenschmuggel und Schießereien zwischen Einwohnern und der Polizei auseinandersetzen, doch bei den Vertretern der Favelas um Vertrauen werben.
Wir treffen uns an einem ruhigen Tag im provisorisch eingerichteten Hauptquartier der Polizei in Rocinha. Offiziell wohnen hier knapp 60.000 Menschen, inoffiziell 250.000. „Orte wie Rocinha waren früher isoliert. Jetzt sind sie stärker mit den umliegenden Bezirken verschmolzen,“ erzählt sie. „Natürlich gibt es immer noch Kriminalität wie überall, aber es hat sich verändert. Die Mordrate ist drastisch zurückgegangen.“ Rio de Janeiros Favelas sind das Symbol für die krassen sozialen Unterschiede und die Gewalt, die in Brasilien herrscht. Obwohl das Befriedungsprogramm nur 40 der 600 Favelas der Stadt umfasst, stellt es eine logistische, physische und politische Herausforderung dar. „Ohne Zweifel handelt es sich um das weltweit ambitionierteste Polizeiprojekt“, sagt de Oliveira. „Wir sind in Gegenden hineingegangen, die die öffentlichen Institutionen seit Langem aufgegeben hatten. Das Entscheidende bei unserem Programm besteht darin, den Behörden die Verantwortung zurückzugeben.“
Aber wie der Fall Amarildo zeigt, ist das nicht einfach. Neben Morden von und an Polizeibeamten gibt es Kritik daran, dass die Behörden die langfristige finanzielle Unterstützung eingestellt haben. De Oliveira räumt ein: „Die Politiker
könnten mehr tun. Sie sollten soziale Dienste ebenso schnell in die Favelas bringen, wie sie Ein-heiten der Befriedungs-polizei geschickt haben.“ Nach ersten Erfolgen nämlich gibt es nun schon wieder Anzeichen für einen erneuten Anstieg der
Kriminalität. Anna Kaiser
Bernardo Paz: Der Bergbau-Magnat will
Dörfer für Arme und Reiche bauen
Ein riesiger Landschaftspark mit jeder Menge Open-Air-Kunstwerken in den vom Bergbau gemarterten Bergen rund um Belo Horizonte: So muss man sich Inhotim vor-stellen. Zwei Werke darin: Olafur Eliassons „Viewing Machine“, ein gigantisches Kaleidoskop, und Doug Aitkens „Sonic Pavilion“, eine mit Mikros und Laut-sprechern gefüllte Kuppel, in der man die Klänge der atmenden Erde hören kann.
Ausgedacht hat sich das der Bergbau-Magnat Bernardo Paz, 60+, der vor rund zehn Jahren so etwas wie eine Eingebung hatte. Für ihn ist Inhotim weder ein einfacher Park noch eine Galerie. Inhotim ist ein way of live.
Paz, zum sechsten Mal verheiratet, sieht aus wie ein alternder Rockstar. Die Welt gehöre den Reichen und Mächtigen, erzählt er: Vieles, was heute im Argen liege, sei auf die europäische Kolonisation zurückzuführen. Aber auch das tropische Klima und Bodenschätze wie Zucker, Gold und Kautschuk seien Segen und Fluch: Bodenschätze provozierten die Ausbeutung, das Klima mache die Menschen träge.
„Die Hälfte unserer Besucher ist unterprivilegiert. Man kann hier sehr reiche Menschen neben armen spazieren gehen sehen. Alle respektieren ein-ander, denn sie sind von etwas Größerem umgeben. Natur und Schönheit. Das Schöne verändert die Menschen.“ Paz will hier noch ein Theater, Hotels und ein Konferenzzentrum bauen. „Es werden Künstler kommen, um hier zu arbeiten. Ein Künstler kann seine Träume in einer großen Stadt oder in einem Museum gar nicht verwirklichen, aber ich habe hier Raum für Dauerausstellungen von Tausenden von Künstlern. Als Nächstes baue ich Dörfer, in denen Reiche neben Armen leben können. Alle werden online arbeiten. Das ist die Zukunft: die großen Städte niederreißen und sie in Dörfer umgestalten.“
Es ist sicher keine Über-raschung, dass für die WM in Paz’ Garten Eden kein Platz ist. „Die WM nutzt allein den großen Städten“, sagt er. „Sie bauen neue Straßen und Bahnlinien, um in die Stadien zu gelangen. Aber warum sollte man den
ganzen Tag im Stau stehen, um 90 Minuten Fußball zu gucken. Ich mache das nicht, ich bin doch nicht verrückt.“ James Young
Inês Ferreira de Abril: Die Krankenschwester
ist 24 Stunden am Tag im Einsatz
Inês Ferreira de Abril ist in der Gegend, in der sie wohnt, eine Mischung aus Guru
und Local Hero. Während wir in der Favela Borel-Indiana durch das enge Labyrinth aus roten Ziegelhäusern laufen, wird sie dauernd von Menschen ange-halten, die sie grüßen, mit ihr
reden wollen oder ihren Rat suchen. In Borel-Indiana wohnen 20.000 Leute, es liegt nur zehn Autominuten von Rios großem Maracanã-Stadion entfernt. Bei diesen Gesprächen merkt man, wie schockierend schlecht das brasilianische Gesundheitssystem ist: Ein kleiner Junge ist an einem nicht diagnostizierten Krebs gestorben; eine ältere Frau musste drei Jahre lang auf einen Termin beim Rheumatologen warten; ein Diabetiker muss sich sein Insulin selbst kaufen, wenn das staatliche Krankenhaus Posto de Saude, wo Inês arbeitet, keins mehr hat. Solche Fälle seien normal, sagt Inês. „Es dauert ewig, bis man einen Termin bei einem Facharzt bekommt. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass die Leute ihr hart verdientes Geld für Privattermine und Medikamente ausgeben, die sie eigentlich kostenlos bekommen sollten.“
Inês ist hier in Borel-Indiana aufgewachsen, vor zwölf Jahren entschloss sie sich, als Krankenschwester zu arbeiten. Für ihren Fulltime-Job bekommt sie 850 Real – das sind 270 Euro.
„Da wir hier wie in einer großen Familie leben, arbeiten wir eigentlich 24 Stunden am Tag. Die Menschen brauchen ununterbrochen Hilfe. Deshalb ist die geringe Bezahlung ein Problem“, sagt sie dann in ihrer Wohnung. Hier ist sie seit ihrem fünften Lebensjahr zu Hause. Auf einem Glastisch neben der Couch liegen ein Laptop und die Bibel.
Inês hat sich an ein paar der Demonstrationen beteiligt, die in Rio im Juni 2013 begannen. Zuletzt haben im Herbst dann auch die Lehrer für bessere Gehälter und bessere Arbeits-bedingungen protestiert. Der Staat würde die Bildungsein-richtungen genauso wie die Gesundheitsversorgung nicht angemessen finanzieren: „Und wenn die Dinge schlecht sind, dann muss man auf die Straße gehen. Die Straße ist der Ort für Protest.“
Als ich sie aber nach den vermummten Antikapitalisten frage, die die Proteste der Lehrer gekapert hatten, seufzt sie
und schüttelt den Kopf. „Das ist genau das, was die Regierung macht. Sie versteckt sich hinter Masken. Wir müssen unsere
Gesichter zeigen und zeigen, wer und wie unzufrieden wir sind.“Sam Cowie
Bep Torim: Der Aktivist kämpft für sein Amazonas-Volk
Vom Flugzeug aus kann man gerade einmal ein winziges Dorf erkennen. Es ist nicht größer als ein Punkt mitten in den Weiten eines ansonsten lückenlosen Urwaldes. Das ist das Land der Kayapó. Auf diesem geschützten Gebiet, das ungefähr so gr0ß ist wie England, gibt es 40 dieser Aldeias, wie man die Dörfer nennt.
Bep Torim ist einer von weniger als 9.000 Kayapó. Man schätzt, dass von fünf Millionen Indigenen, die hier einmal lebten, nur noch 350.000 übrig geblieben sind. Er arbeitet in einem Büro der Gesellschaft zum Schutz des Urwaldes.
2008 hatte die Gegend noch die höchste Abholzungsrate im ganzen Amazonasgebiet, seit 2010 jedoch kann sie den stärksten Rückgang verzeichnen – entgegen einer landesweiten eine Zunahme von 28 Prozent. Diese Wende geht auf alle Parteien zurück: Landwirte, Politiker und die Kayapó. Aber die Gefahren bleiben groß.
„Die größte stellt der Bergbau dar. Die Minen rücken immer näher an unser Gebiet heran. Die Politiker versuchen, die
Verfassung und die Gesetze zu hintergehen.“ Eine Petition der Kayapó zur Aufgabe des Belo-Monte-Damms wurde weltweit von fast einer halben Million Menschen unterzeichnet. Doch die Arbeiten gehen weiter.
Heute hilft die Vereinigung den Kayapó beim Verkauf von Nüssen, Koka und Jaborandi-Blättern, die zur Behandlung des Grünen Stars verwendet werden. „Die jungen Leute haben sich verändert. Das bedroht unsere Tradition. Doch nur ein paar verlassen das Dorf und gehen in die Stadt. Wenn die jüngeren Männer weggehen, lernen sie etwas und kommen zurück. Wir müssen für unsere Zukunft kämpfen“, sagt Torim. „Mein Sohn ist sieben. Er muss meinen Kampf fortsetzen. Er ist bereits heute ein kleiner Krieger,“ fügt Ben Torim hinzu und lacht. Gibby Zobel
Ronaldo: Verdient viel WM-Geld
Jeder Fußballer würde sich über den Titel „Pelés Erbe“
freuen. Doch wahrscheinlich gibt es keinen, der diese Rolle so gut spielt wie er: Ronaldo Luís Nazário de Lima ist nicht nur der König des brasilianischen Fußballs, keiner wurde wie er Teil des Marketing-Establishments. Der Ex-Stürmer ist offizieller WM-Botschafter und als Geschäftsmann auf vielfältige Weise mit dem Turnier verbunden. Seit seinem letzten Spiel für Corinthians im Jahr 2011 konzentriert Ronaldo sich auf die Sport-Marketing-Agentur 9ine,die ihm zu 45 Prozent gehört. Und so tritt er neben Pelé als einer der entschiedensten Befürworter des Turniers auf. „Ich bin so optimistisch, wie ich es nur sein könnte – wie alle Brasilianer. Die Stimmung ist gut.“ Nach der Zukunft des Landes gefragt, greift er aber viele Forde-rungen der Demonstranten auf. „Ein gutes Leben, Bildung, Gesundheit und Sicherheit für alle; Transparenz in der Politik und ein Ethos, das der natürlichen Schönheit und Energie der Menschen gerecht wird.“ Barry Wilson
Bruno Torturra: Der Ninja-
Journalist findet die WM schrecklich
Bruno Torturra ist einer der Chefs des Mídia
Ninja-Kollektivs, das sich während der Proteste im vergangenen Sommer gegründet hat. Er und die anderen bewaffneten sich mit Smartphones und Digitalkameras und waren entschlossen, das weiterzugeben und auszusprechen, was ihrer Meinung nach die Wahrheit war. Ihre Beliebtheit nahm derart rasch zu, dass sie in Talkshows eingeladen wurden und die übrigen Journalisten ziemlich schlecht über sie redeten.
So begann alles: Als Torturra einmal über eine Demo zur Legalisierung von Marihuana berichten wollte, prügelte die Polizei auf die Demonstranten ein: „Ich wurde auch geschlagen und habe Tränengas eingeatmet. Danach habe ich auf meinem Blog einen Text gepostet, und am nächsten Tag hatten den alle auf Facebook geteilt.“ Der Blog bekam mehr Reaktionen als alles, was Torturra in neun Jahren bei Trip je geschrieben hatte. Dann begannen er und andere fortan, unter dem Namen Post TV immer mehr Proteste zu streamen, und das Interesse an ihrer Arbeit wurde immer größer. Schließlich schrieb Torturra eine Art Manifest, und die Gruppe gab sich den Namen Mídia Ninja.
Torturra weiß, dass es ein großes Interesse an Brasilien gibt und dass das noch zunehmen wird. „Die WM ist eine schreck-liche Idee. Ich denke, das ist auch der Regierung klar geworden. Aber jetzt ist es natürlich zu spät, die Sache noch aufzuhalten. Die Kosten sind immens. Es ist erwiesenermaßen eine Lüge, dass die WM die Infrastruktur verbessert und den Menschen etwas hinterlässt. Das Einzige, was bleiben wird, sind noch mehr teure Stadien und viel Geld, das die Toilette hinuntergespült wurde.“ Luke Bainbridge
Isis Valverde: Der Telenovela-Star hat 2012
auch protestiert
Isis Valverde marschiert im Bademantel und auf High-Heels in eine Suite des Copacabana Palace in Rio. Mit gerade einmal 26 Jahren ist die Schauspielerin eine der bekanntesten Frauen Brasiliens. Der Telenovela-Star lockt jeden Abend Millionen vor den Fernseher. „Die Tele-novelas sind bei uns das, was anderswo das Kino ist“, sagt sie.
Soeben hat sie die Mini-Serie Amores Roubados („Gestohlene Liebschaften“) abgedreht, heute wird sie von einer großen Zeitung fotografiert. Isis Valverde genießt sichtlich all den Glamour. Dabei steht der in einem ge-wissen Kontrast zu jener Rolle, mit der sie bekannt wurde: als freche, laute und sehr unterhaltsame Spieler-Frau der Novela Avenida Brasil.
Jene Seifenoper über die kon-sumfreudige neue Mittelschicht, die sogenannte Klasse C, war 2012 der Hit. Die Klasse C ist
ein Phänomen der vergangenen zehn Jahre, und obwohl ihr die Hälfte der Bevölkerung an-gehört, wurde sie noch nie so
gekonnt dargestellt. Valverde selbst wuchs in einer Kleinstadt auf. Ihr Vater war Chemiker, ihre Mutter Anwältin.
Bei den Protesten 2012 war sie dabei. „Bildung und Gesundheit sind die entscheidenden Bereiche, wenn eine Gesellschaft sich weiterentwickeln möchte.“ Das Geld, das für Stadien ausgegeben wurde, hätte besser investiert werden können. Dennoch ist sie optimistisch: „Die Infrastruktur ist wirklich schlecht. Aber ich glaube, die WM wird dem Land guttun.“ Dom Phillips
Jonathan Watts arbeitet als Lateinamerika-Korrespondent für den Guardian
AUSGABE
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 15/14 vom 10.04.2014
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