Man wäre nicht ernsthaft überrascht, wenn Nadja Tolokonnikowa sich vom Protestieren zurückziehen und Russland verlassen würde, um ein ruhigeres Leben zu führen. Obwohl sie vergangenen Dezember nach 18 Monaten Haft von Präsident Putin begnadigt wurde, steht sie weiterhin unter strenger Aufsicht. Ihr E-Mail-Verkehr wird überwacht und vor kurzem erfuhr sie, dass Geheimdienstleute ihr Stammcafé abgehört hatten. In Sotschi wurde sie bei einer Protestaktion während der Olympischen Spiele von Polizisten geschlagen. Und in einer McDonald’s-Filiale schütteten ihr Zivilbeamte grüne Farbe ins Gesicht.
Viele ihrer Freunde und Mitaktivisten haben sich entschlossen, ins Exil zu gehen. Tolokonnikowa spricht von einer „Emigration der Desillusionierten“. Zweieinhalb Jahre, nachdem die Pussy-Riot-Frauen in regenbogenfarbenen Strumpfhosen und Sturmhauben in die Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale stürmten und ihr Punkgebet sprachen („Jungfrau Maria, Mutter Gottes, vertreibe Putin! Jungfrau Maria, Mutter Gottes, vertreibe ihn, wir bitten dich!“), sind in Russlands Anti-Putin-Lager Optimismus und Tatendrang weitgehend Verzweiflung und Trostlosigkeit gewichen.
Das Ende der Ironie
Aber Tolokonnikowa, mittlerweile 24 Jahre alt, gibt nicht auf. Sie denkt nicht daran, ins Exil zu gehen. Und sie hört auch nicht auf, sich politisch zu engagieren. Ihren Protest äußert sie momentan aber etwas ruhiger – sie engagiert sich gezielter. Anstatt Putin stürzen zu wollen, hat sie ein Projekt zur Reform der russischen Gefängnisse initiiert und die unabhängige Nachrichtenwebseite Mediazona gegründet.
Wir unterhalten uns früh am Morgen über Skype. Zuerst will sie die Kamera nicht einschalten. Sie sei gerade erst aufgestanden und noch nicht repräsentabel, sagt sie. Dann lässt sie sich doch überreden. Ihr Gesicht ist blass und makellos, ihr an den Spitzen grün gefärbtes Haar nach hinten gebunden. Sie läuft mit dem Laptop in ihrer Wohnung herum und sucht nach dem Punkt mit dem stärksten WLAN-Signal.
Obwohl sie im Ausland oft wie ein Rockstar gefeiert werde, ziehe es sie immer schnell nach Moskau zurück, weil sie ihre Arbeit fortsetzen wolle. Als sie erzählt, dass die Inlandsagentur FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation) ihr Lieblingslokal verwanzt hat, kommentiert sie trocken: „Das ist natürlich nicht besonders nett. Es macht einem bewusst, dass die Bedingungen, unter denen man hier draußen lebt, sich nicht allzu sehr von denen im Gefängnis unterscheiden.“
Obwohl Pussy Riot als Bewegung noch immer existiere, wie sie betont, haben die Ereignisse in der Ukraine bei Tolokonnikowa und ihren Mitstreiterinnen für Ernüchterung gesorgt. „Im Augenblick planen wir nichts, weil wir es problematisch finden, mit unserer Art von Performance gegen das zu protestieren, was in Russland gerade ganz oben auf der Agenda steht. Pussy Riot gibt es zwar als Gruppe, um auf politische Ereignisse zu reagieren. Aber es würde zynisch wirken, wenn wir einen Krieg, in dem jeden Tag Menschen ums Leben kommen, mit einer ironisch geprägten Performance in bunten Sturmhauben kommentierten. Das ist nicht angemessen. Das heißt aber nicht, dass wir in Zukunft keine Aktionen mehr machen.“
Sie und Maria Aljochina, die 18 Monate in einem anderen Gefängnis einsaß, haben stattdessen vor kurzem die Kampagne Zona Prava (Zone der Gerechtigkeit) gestartet, die die Haftbedingungen in russischen Gefängnissen verbessern will. Sie hatten gehofft, bereits im Gefängnis mit Zona Prava beginnen zu können, doch die Situation in den Lagern habe sich als äußerst schwierig erwiesen.
Vor einem Jahr schrieb Tolokonnikowa in einem Brief aus der Anstalt von „sklavenartigen Bedingungen“. Die Gefangenen müssten jeden Tag 16 Stunden lang Polizeiuniformen nähen. „Wenn es hochkommt, bekommen wir vier Stunden Schlaf. Alle anderthalb Monate haben wir einen Tag frei. Wir arbeiten fast jeden Sonntag. Die Gefangenen bewerben sich freiwillig darum, an den Wochenenden zu arbeiten. In Wahrheit ist daran natürlich überhaupt nichts freiwillig.“ Tolokonnikowa berichtete, wie inhaftierte Frauen, die bei der Arbeit nicht mithalten können, ausgezogen werden und man sie zwingt, nackt weiterzunähen. Eine Gefangene habe so starke Erfrierungen erlitten, das man ihr Finger und einen Fuß amputieren musste.
Da die Arbeitstage für die Wärter ebenso lang waren wie für die Gefangenen und sie sich deshalb immer mal wieder für eigentlich verbotene Teepausen zurückzogen, gelang es Tolokonnikowa, auf Papierstücken, die sie unter ihrem Gürtel versteckte, Briefe zu verfassen. Einer ihrer Briefpartner war Slavoj Žižek. Der Briefwechsel zwischen den beiden erschien vergangenen November im Philosophie Magazin.
Politik für Gera
Tolokonnikowas Haltung gegenüber Putin bleibt unverändert. Sie ist überzeugt, dass die Entscheidung, sie und die anderen beiden Pussy-Riot-Aktivistinnen strafrechtlich zu verfolgen, von Wladimir Putin persönlich kam. Sie sei aber nicht durch die Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale motiviert, sondern durch seine Wut über eine frühere Performance auf dem Roten Platz, bei der sie „Putin hat eingenässt!“ gesungen hatten. „Wahrscheinlich hätte niemand von unserer Aktion etwas mitbekommen, wenn Putin nicht selbst die ganze Welt darauf aufmerksam gemacht hätte. Das war dumm. Deshalb glauben wir, es war eine persönliche Reaktion. Kein politischer Berater würde einem so etwas nahelegen“, sagt Tolokonnikowa. „Wladimir Putin hat jeden Kontakt zur Realität und zur Welt um ihn herum verloren. Er ist fest davon überzeugt, dass er im Amt bleiben wird und alles tun kann, was er will.“
Zu den Anti-Putin-Protesten geht sie jedes Mal, aber es finden immer weniger davon statt. Die Entscheidung, die Pussy-Riot-Aktivistinnen einzusperren, hat die Bewegung genauso eingeschüchtert wie die Verhaftung von Oppositionsführer Alexej Nawalny und seinen Unterstützern.
Während sie im Gefängnis war, hatte Tolokonnikowa keinen Kontakt zu ihrer vierjährigen Tochter Gera. Sie ist ein bisschen genervt, als ich sie auf das Thema anspreche. Wenn Männer politische Gefangene wären, kämen diese Fragen nicht so automatisch, sagt sie. Doch dann erklärt sie, dass sie ihre Tochter gut auf die Situation vorbereitet habe. Geras Vater, Tolokonnikowas Mann Petja Wersilow, der 2010 als Teil eines Künstlerkollektivs dabei half, einen Penis auf die Zugbrücke vor dem Hauptquartier des Geheimdiensts FSB zu malen, war auch schon in Haft.
„Ich habe Gera erklärt: Da ist dieser Mann. Er heißt Putin, und er mag es nicht, wenn die Leute gegen ihn protestieren. Deshalb sperrt er ab und zu welche ins Gefängnis. Gera hat das verstanden.“ Seitdem sie wieder draußen ist, macht Tolokonnikowa mit der politischen Erziehung der inzwischen Sechsjährigen weiter. „Sie spielt viel mit Gleichaltrigen, aber sie weiß auch, wer Lukaschenko ist, wer Stalin war. Wir reden mit ihr über so was.“
Tolokonnikowas Entscheidung, sich jetzt auf eine Reform der Haftbedingungen zu konzentrieren, rühre nicht daher, dass sie Angst vor einer erneuten Verhaftung habe. Sie habe aber überlegt, wo sie momentan am nützlichsten sein könne. Das übergeordnete Ziel bleibe weiter das Ende der Ära Wladimir Putin. „Jedes Mal, wenn wir über eine Gefängnisreform sprechen, wird uns klar, dass wir erst dann etwas erreichen können, wenn Putin nicht mehr an der Macht ist. Unser grundlegendes Ziel bleibt also unverändert. Und irgendwann werden wir es erreichen.“
Ihre Webseite Mediazona verfolgt Gerichtsverhandlungen kritisch, berichtet über Gefängnisse und Haftbedingungen. Die Morde an kremlkritischen Journalisten wie jener an Anna Politkowskaja schreckten sie nicht ab, sagt Tolokonnikowa. Sie fährt weiter allein mit der U-Bahn und hat keinen Personenschutz. „Es ist nicht sonderlich sicher ohne, aber es ist teuer, sich die ganze Zeit mit Bodyguards zu umgeben. Das Geld kann ich sinnvoller für Projekte einsetzen.“ Und dann sagt sie wieder einen dieser typischen Tolokonnikowa-Sätze, die man makaber oder einfach nur pragmatisch nennen kann. „Ich glaube nicht, dass sich meine Sicherheitslage seit den ersten Pussy-Riot-Aktionen verschlechtert hat. Ich hab nichts mehr zu verlieren.“
Übersetzung: Holger Hutt
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