In Flip-Flops nach Kasachstan

Guantánamo Es wird nur so getan, als würden Ex-Häftlinge des US-Gefangenenlagers resozialisiert
Ausgabe 51/2016
Kein geeignetes Schuhwerk für den kasachischen Winter
Kein geeignetes Schuhwerk für den kasachischen Winter

Foto: John Moore/Getty Images

An ganz schlechten Tagen holt Bin Ali seinen Häftlingsoverall aus Guantánamo Bay unter einem Wäschestapel hervor und zieht ihn an. Die Kluft, deren Orange mittlerweile in ein Lachsrosa übergeht, erinnert ihn daran, dass es eine Zeit gab, in der es ihm noch schlechter ging als heute. Manchmal hilft das, sich zu beruhigen, doch dann gibt es Momente, in denen sich Bin Ali fragt, ob seine jetzige Lage nicht schlimmer ist als in den 13 Jahren, die er in dem berüchtigten US-Gefangenenlager auf Kuba verbringen musste. Vereinsamt und verloren in der kasachischen Steppe, fristet der 51-jährige Tunesier ein Dasein, das seit seiner Entlassung Ende 2014 nicht wirklich lebenswerter wurde als in der Zeit zuvor. „In Guantánamo hatte man wenigstens jemanden zum Reden. Hier habe ich niemanden.“ Sagt Bin Ali und meint sein neues Zuhause, eine verschlafene Stadt im Norden Kasachstans, die in der Sowjetzeit wegen ihres Atomtestgeländes bekannt war.

Bin Ali wird Ende 2001 an der pakistanisch-afghanischen Grenze verhaftet und von einem Geheimgefängnis der CIA ins nächste verlegt, bevor man ihn nach Guantánamo bringt. Der US-Geheimdienst beschuldigt ihn, in Afghanistan – als Mitglied einer tunesischen Dschihadisten-Zelle – mit Al-Qaida-Mitgliedern verkehrt zu haben. Bin Ali streitet alles ab, beharrt darauf, nach Pakistan und Afghanistan gereist zu sein, um eine Frau zu finden und kleineren Gesetzeskonflikten in Italien zu entkommen, wo er zuvor über zehn Jahre lang gelebt hat. Einem geleakten, internen Assessment aus Guantánamo zufolge wird im Juli 2004 empfohlen, Bin Ali entweder freizulassen oder zur weiteren Internierung in ein anderes Land zu bringen. Obwohl ihn das US-Verteidigungsministerium von seinem „nachrichtlichen Wert und Terrorpotenzial“ her als „geringes Risiko“ einstuft, soll es noch über zehn Jahre dauern, bis er schließlich freikommt.

Als die Obama-Regierung ab 2009 versucht, Guantánamo zu schließen, wird der Eindruck erweckt, es sei möglich, einen Teil der Häftlinge in ihre Heimatländer zu überstellen. Bin Ali nennt das bewusste Irreführung. Die Amerikaner hätten gewusst, dass er nicht nach Tunesien zurückgehen konnte, nachdem sie ihn als Terroristen gebrandmarkt hatten. Er wäre zu Hause sofort verhaftet worden.

Minus 30 Grad

Zugleich wird suggeriert, Ex-Gefangene wie Jemeniten, Tunesier und Libyer würden an Drittstaaten überstellt, um sie dort zu resozialisieren. Weit gefehlt, in Kasachstan gibt es zwar ein auf zwei Jahre angelegtes Programm, um – wie es offiziell heißt – Ex-Guantánamo-Häftlinge in die kasachische Gesellschaft zu integrieren, die Wirklichkeit aber sieht anders aus, wie der Fall von Bin Ali zeigt. Er leidet an einer schweren Herzerkrankung, so dass ihm bereits 1999 eine künstliche Herzklappe eingesetzt werden musste. Mark Denbeaux, Alis amerikanischer Anwalt, räumt ein, er habe den Versprechen der US-Behörden geglaubt und seinem Mandanten dazu geraten, einem Transfer nach Kasachstan zuzustimmen. „Mir wurde erklärt, Kasachstan sei ein muslimisches Land, verfüge über ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem sowie Programme zur Resozialisierung. Nach zwei Jahren könne mein Mandant gehen, wohin er wolle. Nichts von dem hat sich bewahrheitet.“

Im Dezember 2014 wird Bin Ali zusammen mit einem weiteren Tunesier und drei Jemeniten nach Kasachstan überstellt. Das heißt: an Händen und Füßen gefesselt in einem Militärjet transportiert. Nach zwei Tagen und mehreren Fahrzeugwechseln kommen Bin Ali und einer der Jemeniten in Semei an, einer Stadt nahe der Grenze zu Russland. Die anderen drei werden nach Qysylorda gebracht, das tief im Süden Kasachstans liegt. Nach der langen Reise wird Bin Ali während der Silvesternacht in einer Übergangswohnung untergebracht. Draußen gibt es Feuerwerk und Alkohol, die Menschen feiern. Drinnen ist es eiskalt. „Die Temperaturen lagen bei minus 30 Grad, und ich hatte immer noch meine Flip-Flops aus Guantánamo an, weil ihre Schuhe nicht groß genug für mich waren.“

Herz eines Vogels

Semei, das bis 2007 Semipalatinsk hieß, erweist sich als verschlafene, 300.000 Einwohner zählende Stadt voller Wohnblocks aus Sowjetzeiten. Die Abgeschiedenheit und ein Klima der heißen Sommer und bitterkalten Winter trieben schon Fjodor Dostojewski in den Wahnsinn, als er Mitte des 19. Jahrhunderts für fünf Jahre nach Semipalatinsk verbannt war. Ihn plagten epileptische Anfälle und Depressionen. „Ich lebe ihn Semipalatinsk, das mich zu Tode langweilt. Das Leben ist mir unerträglich geworden“, schrieb der Romancier 1858 in einem Brief.

Über 150 Jahre später empfindet Bin Ali kaum anders. Nach seiner Ankunft wird ihm gesagt, er dürfe seine Gaststadt nicht verlassen. Auch muss er erfahren, dass seine Herzerkrankung nicht ausreichend behandelt wird. Als ihn ein Herzrasen immer heftiger quält, wird Anfang 2016 endlich eine zweite Operation genehmigt. Während der Zeit im Hospital ist er ständig von Polizisten umgeben. „Sie haben meinen Mandanten aufgegriffen, gebrochen und weggeworfen“, sagt Anwalt Denbeaux über den Umgang der US-Behörden mit Bin Ali. „Auch wenn er sich jetzt in Kasachstan aufhält, sind es die USA, die zu verantworten haben, wie er dort leben muss.“

Kasachische Offizielle weisen jeden Vorwurf zurück. Bin Ali könne ein gefährlicher Terrorist sein, trotzdem habe man ihm eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt und eine geräumige Wohnung zur Verfügung gestellt, die sich für örtliche Verhältnisse geradezu luxuriös ausnehme. Tatsächlich handelt es sich um wenig mehr als einen vergoldeten Käfig. Das einzige Dokument, das Bin Ali besitzt, ist ein dünner, von Hand geschriebener Zettel, der auf Kasachisch erklärt, er sei „eine Person, die einen Flüchtlingsstatus anstrebt“. Ihm sei es ausdrücklich verboten, das Stadtgebiet, geschweige denn das Land zu verlassen.

Bin Ali, 1965 in Tunis geboren, verließ mit zwölf die Schule und arbeitete als Möbeltischler. Mit 20 ging er auf Anraten von Freunden nach Italien und zog 14 Jahre lang als Arbeitsnomade durchs Land, von Mailand bis Brindisi. 1998 entschloss er sich, nach Pakistan zu gehen, aus ökonomischen, keineswegs religiösen Gründen, wie er beteuert. Bald jedoch droht ihm die Ausweisung, so dass er nach Afghanistan flieht. Er habe dort nur einen Monat verbracht, in dieser Zeit weder mit Al-Qaida-Leuten verkehrt noch jemals eine Waffe in die Hand genommen. Schließlich sei ihm klar geworden, dass er besser wieder nach Italien zurückkehrt. Also habe er versucht, über Pakistan auszureisen, und sei an der Grenze festgenommen worden.

Heute ist Bin Ali in Kasachstan völlig isoliert. Er lernt zwar Russisch, aber die Einheimischen haben Angst, mit ihm zu sprechen. Die Ausgrenzung wirkt wie eine zweite Strafe für eine nie nachgewiesene Schuld. „Da ich sehr gut kochen kann, würde ich hier gern ein kleines Restaurant eröffnen, das wäre wunderbar. Ich würde italienisch kochen, könnte für Desserts sorgen. Die Behörden sagen Nein. Sie wollen nicht, dass einer wie ich sichtbar wird.“

Manchmal denke er daran, seine orangene Häftlingskleidung anzuziehen, den Mund mit Klebeband zu verschließen, den Hauptplatz der Stadt aufzusuchen und in einen Hungerstreik zu treten. Er hat es bisher unterlassen, da ihn solcher Protest garantiert ins Gefängnis bringen würde. Auch ist er sich nicht sicher, ob sein Schicksal überhaupt jemanden interessiert. „Ich bin nicht wütend, denn mein Herz ist so schwach wie das eines Vogels, so dass ich ständig unter Schmerzen leide. Ich denke immerzu an eine Frau und Kinder, doch ein normales Leben werde ich wohl nie wieder führen dürfen.“

Shaun Walker ist Guardian-Reporter

Übersetzung: Holger Hutt

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Shaun Walker | The Guardian

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