Präsidentschaftswahl Viel spricht dafür, dass die neue PRI-Regierung alte Arrangements mit den Kokain-Kartellen belebt – und so einen zermürbenden Drogenkrieg beendet
Einer nach dem anderen saßen die Präsidentschaftskandidaten schweigend vor der eindrucksvollen Kulisse des Chapúltepec-Palastes, während ein Dichter sie rügte. Javier Sicilia sprach für die Opfer des Drogenkrieges: „Die 60.000 Toten, die über 20.000 Verschwundenen, Hunderttausende von Vertriebenen und Gejagten, Zehntausende Witwen und Waisen, die uns dieser törichte Krieg gekostet hat, existieren für Sie und Ihre Parteien nicht“, warf der Redner den Politikern vor. „Sie tun so, als gäbe es keinen nationalen Notstand.“ Einer nach dem anderen gab sich betroffen, versprach zu handeln und ging zurück zu dem, was als eigentliche Mission der vergangenen Wochen galt: zum Wahlkampf.
Der Begegnung mit Javier Sicilia, zu d
ilia, zu der es im Mai kam, konnte sich freilich kein Bewerber um das höchste Staatsamt entziehen. Dafür hat die Bewegung, die der Dichter verkörpert, zu viel moralisches Gewicht. Zugleich war es das einzige Mal während der dreimonatigen Wahlkampagne, dass über Mexikos Tragödie gesprochen wurde.Die wird dem Wahlsieger Enrique Peña Nieto, in Mexiko nur „EPN“ genannt, von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) keine Schonfrist gönnen. Ihm fehlt noch eine erkennbare Strategie, um die Gewalt und damit die Verstrickung des Staates in die Selbstverstümmelung der eigenen Gesellschaft aufzuhalten. Man erfährt jedoch unter der Hand, eine neue, von der PRI dominierte Regierung werde der Anti-Drogen-Politik der USA nicht mehr so ergeben folgen wie die bisherige Exekutive. Eduardo Medina Mora, heute Mexikos Botschafter in London, früher Generalstaatsanwalt seines Landes, sagt unumwunden: „Mir gefällt der Begriff war on drugs nicht übermäßig. Er vereinfacht ein äußerst komplexes Problem. Wir müssen uns fragen, ob es keinen besseren Weg gibt. Priorität müssen Bemühungen haben, unseren Bürgern ein friedliches Leben zu garantieren. Was sonst?“Das kolumbianische ModellBisher reagiert Mexiko robust auf die globale Wirtschaftskrise, ist zu einem Kraftzentrum des produzierenden Gewerbes in Zentralamerika geworden und steht besser da als der krisengeschüttelte Nachbar im Norden. Die Luftfahrt- und Automobilindustrie sorgen trotz Rezession für ansehnliche Zuwachsraten. 84 Prozent der mexikanischen Ausfuhren bestehen inzwischen aus Industriegütern. Schon 2017 könnte das Außenhandelsvolumen auf 85 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) steigen.Es bleibt die innere Gewalt, sie ist der Klotz am Bein eines Landes mit beträchtlichem Potenzial. Auch deshalb haben sich am 1. Juli viele Wähler für Enrique Peña Nieto entschieden, der eine andere Haltung zum Anti-Drogenkrieg der USA einnimmt und mehr will, als dem Dogma der Repression zu gehorchen. Ein Indiz dafür ist der Umstand, dass er schon vor der Wahl Oscar Naranjo, pensionierter Polizeichef Kolumbiens, zu seinem Sicherheitsberater ernannt hat. Naranjo habe – so Peña Nieto – immer gewusst, was in seinem Land zu tun war, um die Kokain-Syndikate zu entmachten.Unter dem Eindruck dieser Personalie verweist in Mexiko-City der Drogen-Experte Alejandro Hope auf das kolumbianische Modell. Es setze auf „Entmachtung, Entwaffnung und Wiedereingliederung“ von Drogen-Dealern des großen Kalibers, habe aber ursprünglich dazu gedient, linke Guerilleros und kriminelle Gruppen zu reintegrieren.Keine Frage, die PRI hat in mehr als 70 Jahren Regierungszeit einen Modus Operandi im Umgang mit den Kartellen gefunden, wenn davon Politiker, Juristen, Unternehmer bis hin zu Strafvollzugsbeamten profitieren konnten. Es gab ein weiteres Motiv für derartige Arrangements, die in Italien pax mafiosa – Frieden mit der Mafia – genannt werden: Ein Mindestmaß an Verständigung zwischen den Drogen-Kartellen und einer PRI-Regierung sollte einen reibungslosen Warenverkehr über die amerikanisch-mexikanische Grenze garantieren. Im Gegenzug achteten die Kartelle untereinander auf die nötige Machtbalance, respektierten die Claims der anderen und hielten einen allgemeinen Frieden ein. Ein solches Agreement hielt bis in die späten achtziger Jahre, als Mexikos organisiertes Verbrechen von seiner inneren Struktur her einer Pyramide zu gleichen schien. Ganz oben stand der „Don“ des Drogenhandels. Der hieß Félix Gallardo und ließ sich von seinem Guadalajara-Kartell decken. Weil es die damalige US-Regierung unter George Bush senior so wollte, wurde Gallardo 1989 verhaftet, was einer Kriegserklärung gleichkam und eine Schlacht um seine Nachfolge in den vom Guadalajara-Kartell beherrschten Grenzregionen auslöste – danach eskalierte die Gewalt.2007 setzte dann Präsident Felipe Calderón vom konservativ-katholischen Partido Acción Nacional (PAN) die Armee in Marsch, um den illegalen Grenzhandel in Nuevo Laredo einzudämmen. Zugleich sollte dadurch die Konfrontation zwischen dem Sinaloa-Kartell, das inzwischen Gallardos Syndikat beerbt hatte, und dem Golf-Kartell Los Zetas erstickt werden. Was als Befriedung gedacht war, geriet zur Initialzündung für einen verdeckten Krieg. Es gab das Gerücht, Calderón stehe auf der Seite des Sinaloa-Kartells und beschütze dessen schwer zu fassenden Anführer Joaquín Guzmán, den reichsten Mafioso der Welt.Nach Angaben von US-Geheimdiensten gehören tatsächlich nur zwölf Prozent der seit 2007 Verhafteten zum Sinaloa-Kartell. Auch lässt sich eine politische Positionierung der Kartelle nicht bestreiten. Dies hat den Drogenkrieg in Veracruz, Michoacán und Zacatecas – ausnahmslos Bundesstaaten an der Grenze zu den USA – angefacht. Rebecca Rodríguez, Menschenrechtsaktivistin in der vom Terror der Gewalt heimgesuchten Stadt Reynosa im Grenzstaat Tamaulipas, meint dazu: „Diese Positionierung setzt sich fort. Während des Wahlkampfes haben die Narcos klar Partei für die PRI ergriffen. Auf der einen Seite steht die Armee – auf der anderen die Macht der Syndikate. Dazwischen brechen Mexikos Wirtschaft, sein Bildungswesen und das politische Leben zusammen.“Befehlskette wie ein KonzernMexikos Drogenkartelle sind heute nicht mehr und nicht weniger als Pioniere des modernen Kapitalismus. Sie agieren auf einem zersplitterten freien Markt und lagern einen Teil ihrer Geschäfte in einen Sumpf aus Mördern und Straßengangs aus. Damit ist es für jeden pax mafiosa zu spät. „Die Kartelle haben die pyramidale Befehlskette von einst durch das Konzessions- oder Lizenzsystem ersetzt wie normale Firmen“, meint der Journalist Ignacio Alvarez Alvarado aus Ciudad Járez. „Wie ein guter moderner Kapitalist, schreibt ein Kartell Aufträge öffentlich aus und gibt ausgewählten Klienten die Möglichkeit, sich im Wettbewerb zu beweisen. Die Kartelle sind in unternehmerischer Hinsicht demokratischer geworden, leistungsorientiert und opportunistisch.“Es gibt zudem einen Generationswechsel. Das Kartell Los Zetas steht für einen jungen, neuen Typ von Drogenhändlern. Der ist proletarisch und interessiert sich nicht für Patronage oder Ehre, wie das für Félix Gallardo oder die sizilianische Figur des „Paten“ noch typisch war. Los Zetas haben eine extreme Gewalttätigkeit zu ihrem Markenzeichen erkoren. Im Internet treten sie mit zynischem Humor auf. Sie wollen nicht selbst politisch agieren, sondern die Politik dazu zwingen, ihr Spiel zu spielen. „Es war einmal so“, sagt der Drogen-Experte Mario Trevino aus Tamaulipas, „dass die Politiker den Drogenhändlern gesagt haben, was sie tun sollen. Jetzt ist es andersherum.“Auf die Wall Street zeigen?Einer neuen mexikanischen Regierung wäre es natürlich möglich, einen radikalen Weg einzuschlagen, um ihren Kampf gegen die Kartelle stärker an Initiativen aus Lateinamerika auszurichten – besonders an Kolumbien. Dort hat Präsident Juan Santos gerade einen Aufruf zum vollständigen Überdenken der globalen Drogenpolitik veröffentlicht und erklärt, man müsse sich auch der Geldwäsche und den Profiten widmen, die europäische und US-Geldhäuser aus dem Drogenhandel schlagen. Für ein Land wie Mexiko, das von den USA abhängig ist, weil es von dort viel Militärhilfe erhält, wäre ein Einschwenken auf solcherart neues Denken nicht unproblematisch. Ungeachtet dessen gibt es Anzeichen dafür, dass eine PRI-Regierung bestrebt sein könnte, der kolumbianischen Position näherzutreten.Medina Mora, Mexikos Botschafter in London, argumentiert mit einer Mischung aus Sorge und Offenheit. „Wir brauchen eine Führung, die bereit ist, genau das zu versuchen. Es geht nicht allein um Drogenhandel, sondern um strukturelle Schwächen der Sicherheitskräfte, die in den vom Drogenkrieg gezeichneten Gegenden keine Sicherheit garantieren. Wir müssen am Polizei- und Justizsystem arbeiten, auf unseren sozialen Zusammenhalt achten und Jobs für junge Leute schaffen, die anfällig für kriminelle Versuchungen sind. Wir werden aus den kolumbianischen Erfolgen ebenso lernen wie aus den kolumbianischen Fehlern.“ Als Jurist erinnert er daran: „Genuss und Besitz von Drogen sind bei uns nicht strafbar, und das ist gut so und soll so bleiben. Ich halte es sowieso für falsch, alles über Gesetze regeln zu wollen.“Mit Blick auf den nördlichen Nachbarn meint Medina Mora noch: „Länder mit einem hohen Anteil an Drogenkonsumenten, Länder, die ihren Waffenhandel nicht kontrollieren können und am Ende der Wertschöpfungskette stehen, müssen ihre Verantwortung eingestehen. Gewiss fließt Geld aus dem Rauschgifthandel an US-Banken, aber es reicht nicht, immer auf die Wall Street zu zeigen. Man sollte akzeptieren, dass es nicht um die Frage zwischen gut und schlecht geht, sondern zwischen schlecht und schlechter, schlechter und viel schlechter. Lassen Sie uns eine Debatte führen, die weder ideologisch noch moralisch und emotional, sondern von Expertise und Wissenschaftlichkeit geprägt ist. Wir müssen uns mit den Amerikanern zusammensetzen, um zu diskutieren. Wenn die sich verschließen, müssen wir alles versuchen, damit sie sich wieder öffnen.“
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