Intellektuelles Fettabsaugen

Lesen Beim Lesen von Romanen sollte man besser die Zeit vergessen, statt auf die Geschwindigkeit zu achten

Der gefeierte Wissenschaftler Harold Bloom ist ein blitzschneller Leser. Man braucht nur einmal mit der Wimper zu zucken und er hat schon zweimal umgeblättert. In seiner Blütezeit schaffte er tausend Seiten pro Stunde. Das heißt, er konnte sich in seiner Mittagspause die ganze Jane Eyre zu Gemüte führen und hatte dann immer noch Zeit für den halben Ulysses, bevor er wieder in den Unterricht musste. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich so etwas höre, komme ich mir reichlich langsam und blöde vor.

Der durchschnittliche Leser kriecht mit einer Geschwindigkeit von 250 bis 300 Wörtern pro Minute durch Romane, Kurzgeschichten oder Gedichte, was in etwas einer Seite pro Minute entspricht. Bloom muss mit einer selten raschen Auffassungsgabe gesegnet sein, denn er schafft 16 Seiten pro Minute und kann sich dennoch an fast alles erinnern, was er gelesen hat. Für den Rest von uns ist das nicht immer ganz so leicht.

Bei den Schnelllese-Weltmeisterschaften bewältigen die Besten zwischen 1.000 und 2.000 Wörter pro Minute, verstehen dabei allerdings nur die Hälfte. Für Literatur reicht das einfach nicht. Wozu soll es denn beispielsweise gut sein, Hilary Mantels Wolf Hall mit seinem ganzen Panoptikum an Figuren zu lesen, wenn man nur die Hälfte des Textes versteht? Man kann es dann doch gleich bleiben lassen.

Gibt es wirklich Leute, die versuchen, schöne Literatur so schnell wie möglich zu lesen? Und wenn ja, warum? Ich kann dahinter nur das Bedürfnis vermuten, dass jemand damit angeben kann, wie viel oder wie oft er liest. Andrew Marr behauptet, er habe Krieg und Frieden mindestens 15 Mal gelesen, nicht 12 oder 13, 15 Mal. Wenn man dabei aber in Rechnung stellt, was er alles überlesen hat, dürfte er wohl lediglich auf zehn Mal kommen. Aber natürlich ist auch das noch eine beachtliche Leistung. Ich konnte mich auf bestimmte Passagen von Tolstois Epos nur schwer konzentrieren, als ich das Buch das erste (und letzte) Mal gelesen habe und kann mir nicht vorstellen, diese Passagen 15 Mal aufmerksam zu studieren.

Schlüsselbegriffe erfassen

Die meisten Schnelllesekurse lehren die Teilnehmer, die Wörter zu lesen, ohne sich dabei deren Lautung vorzustellen. Das nennt man dann Subvokalisierung. Querlesen funktioniert etwas anders. Man lernt, die Schlüsselbegriffe eines Textes zu erfassen, blendet den Rest aus und erhält somit eine Art semantisches Register in Stenoform. Wer den anderen Tolstoi-Wälzer – Anna Karenina – gelesen hat, der dürfte wahrscheinlich die Versuchung kennen, bestimmte Abschnitte dieses Textes wie etwa Levins Theorien über die russische Agrarreform querzulesen.

Ich jedenfalls kann mich daran erinnern, dass ich, während ich über Levins Gedanken und Taten nachdachte, gleichzeitig ebenso viel Energie darauf verwandte, nach den Schlüsselbegriffen zu suchen. Manchmal war mein Verstand sogar vollständig mit dieser Aufgabe befasst. Während ich mich fragte, welchen Teil eines im Konjunktiv stehenden Halbsatzes ich denn ignorieren könnte, ohne den Sinn des ganzen Satzgefüges zu verfälschen, überflog ich zwei oder drei weitere Absätze ohne irgendetwas davon aufzunehmen.

Die Vorstellung, den Literaturkanon querzulesen, hat für mich etwas gänzlich Unerhörtes. In gewisser umgekehrter und abstrakter Weise erinnert es mich ans Fettabsaugen: Man setzt intellektuelles Fett an, ohne dabei in den Genuss der gesundheitlichen Vorteile zu kommen und die Abkürzung der Lektüre bringt stets kaum aufzuwiegende Nachteile mit sich. Haben die großen Romanciers dieser Welt wirklich jahrelang verzweifelt an Klang und Rhythmus ihrer Sätze gefeilt, damit ein paar auf Zeitersparnis versessene postmoderne Leser den Text dann querlesen können wie ein politischer Spindoctor dies mit der Rede eines Ministers macht, wenn er nach einem prägnanten Zitat sucht?

Ich glaube nicht. Querlesen mag für Bürokorrespondenzen, Lehrbücher und Liebesbriefe von Leuten, deren Zuneigung man nicht erwidert, geeignet sein, die Literatur großer Schriftsteller sollte aber doch besser genossen werden. Und ein Teil dieses Genusses erwächst doch daraus, sich vorzustellen, wie das Gelesene laut ausgesprochen klingen würde.

Vergleichen Sie einfach einmal diesen Romananfang von Charles Dickens mit der quergelesenen Version und beantworten Sie sich dann die Frage, ob es sich wirklich lohnt, durch große Literatur hindurchzuhetzen wie Gordon Gecko (in dem Oliver-Stone-Film Wall Street) durch die Vermögenswerte eines neu erstandenen Unternehmens.

It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair.

Die quergelesene Version von Charles Dickens, A Tale of Two Cities (1859) würde dann so im Gedächtnis bleiben: Best times/worst times, age wisdom/foolishness, epoch belief/incredulity, season Light/Darkness, spring hope, winter despair.

Abgesehen vom ästhetischen Genuss, den einem das Lesen bereiten kann, wie soll man denn bitteschön die Feinheiten in der Beschreibung einer bestimmten Figur oder Situation erfassen, wenn man zehn Seiten pro Minute liest, ohne die Auffassungsgabe eines Harold Blooms zu besitzen? Ich glaube nicht, dass ein durchschnittlich begabter Leser es jemals fertig bringen wird, beim Querlesen gleichzeitig nach Belieben inne zu halten und nachzudenken. Das Querlesen von Belletristik kommt mir ein wenig so vor wie der Versuch, die Sehenswürdigkeiten von Paris zu verstehen, während man mit 200 Sachen durch die Stadt rast.

Ich weiß, wir leben in einem Zeitalter, in dem wir die Geschwindigkeit unseres Internetanschlusses in Sekundenbruchteilen messen und unsere Gefühle mit dem SMS-Daumen in der Form gr8 2 c u zum Ausdruck bringen. Ich weiß, dies ist das Zeitalter der Schnelllebigkeit und des Twenty20-Cricket, aber ich glaube nicht, dass wir auch noch unsere Lesegewohnheiten an die Geschwindigkeit des modernen Lebens anpassen sollten. Es sollte vielmehr als ein Vergnügen betrachtet werden, bei dem man, wenn auch nur für einen Augenblick, die Zeit vergisst.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Evan Malony, guardian.co.uk (Blog) | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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