Jenseits von jedem

Russland Wo Gangster zu Künstlern werden: Peter Pomerantsevs bitter-bizzare Chronik des Putinismus
Ausgabe 07/2015

So schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr verstehen sich Russland und der Westen, der Krieg in der Ostukraine hat eine tiefe Kluft aufgerissen. Zunehmend schrille nationalistische Töne sorgen in Russlands Medien dafür, dass Wladimir Putins Rückhalt in der Bevölkerung nicht schwindet. Der Kreml hat die Sender unter Kontrolle, der Versuch, die öffentliche Wahrnehmung zu verzerren, ist ein fester Bestandteil von Putins Regierungsstil, seit er vor 15 Jahren erstmals ins Präsidentenamt kam. Doch der Putinismus wurzelt tiefer. Wie das neue Buch von Peter Pomerantsev deutlich macht, liegen seine Ursprünge in den Wirren der postsowjetischen Umwälzungen.

Pomerantsev, als Sohn russischer Emigranten in Großbritannien geboren, hat als Fernsehproduzent in Moskau fast ein Jahrzehnt lang Dokumentarfilme und Reality-Shows fürs russische Publikum hergestellt. Er kehrte in den frühen Nullerjahren in das Land seiner Eltern zurück, mitten in einem großen Ölboom, der vielen Russen einen gewissen Wohlstand einbrachte – einigen wenigen sogar enormen Reichtum. Besonders in der Hauptstadt erblühten der Glamour und die Extravaganz. Pomerantsevs Nothing Is True and Everything Is Possible ist eine unterhaltsame, bisweilen auch trostlose Chronik jener Jahre.

Das Buch schildert eine Welt, in der „Gangster zu Künstlern werden, Goldgräber Puschkin zitieren, Hells Angels sich für Heilige halten“. Die Figuren sind so bizarr, dass sie nur echt sein können, von bärtigen Biker-Nationalisten bis zu selbsternannten Religionsstiftern und ihren Supermodel-Opfern. (Laut Pomerantsev kommen nur 15 Prozent des weltweit gehandelten Erdöls aus Russland, dafür aber jede zweite aller Laufstegschönheiten in Paris und Mailand.)

Auch Witali Djomotschka treffen wir im Buch an, einen sibirischen Bandenchef, der aufs Filmemachen umsattelte. Unzufrieden mit den Krimis im russischen Fernsehen – „alles Quatsch“ – drehte er seine eigene Serie und besetzte die Hauptrollen mit sich selbst und seinen Leuten. Drehbücher, Stuntmen oder Maske gab es nicht. „Alles Blut auf dem Bildschirm war echt“, schreibt Pomerantsev. „Auch die Waffen und Kugeln; wenn sie eine Schießerei in einer Bar filmten, lag die Bar nachher in Schutt und Asche.“ Angeblich erwirkte Djomotschka die Ausstrahlung, indem er seine Schläger bei lokalen Fernsehsendern vorbeischickte.

„Stabilität“ war im Russland der Nullerjahre eine allgegenwärtige Parole, sie sollte ein Gefühl der Ruhe vermitteln nach den Umbrüchen der 90er. Doch Pomerantsev beschreibt eine Zeit weiterer dramatischer Veränderungen, die sich besonders sichtbar im Umbau der Metropolen niederschlugen. Moskau nennt er „eine Stadt, die im Schnellvorlauf lebt“. Zum einen bedeutete dies eine entfesselte Bauwut: In wilder Stilmischung schoss Protzarchitektur in die Höhe. Die Glas-und-Stahl-Türme in der Moskauer City werden auch „die Zähne“ genannt, weil sie die Skyline in eine Art glitzerndes Gebiss verwandelt haben. Zum anderen wurden massenhaft alte Gebäude abgerissen, um Platz für neue zu schaffen. Ein beliebtes Vorgehen war, historische Häuser erst dem Erdboden gleichzumachen, um sie dann als Replika ihrer selbst neu zu errichten, diesmal mit Doppelverglasung und Tiefgarage.

Das Gefühl, dass alles im Fluss sei, ging aber weit über den plastischen Umbau hinaus. Russland, schreibt Pomerantsev, habe „so viele Gesellschaftszustände im Daumenkinotempo durchlaufen – vom Kommunismus zur Perestroika zur Schocktherapie zum Elend zur Oligarchie zum Mafiastaat zum Superreichtum –, dass seine neuen Helden den Eindruck gewannen, das Leben sei bloß ein grelles Kostümfest, bei dem jede Rolle, jede Haltung, jeder Glaube austauschbar ist“.

Der Putinismus speist sich demnach aus einem Gemisch verschiedener Ideologien: Liberalismus, Nationalismus, Konservatismus, christlich-orthodoxe Tradition, „anti-hegemoniale“ Außenpolitik. Der Schlüssel zum Erfolg dieses neuen Autoritarismus, schreibt Pomerantsev, liege darin, dass er „anstatt die Opposition bloß zu unterdrücken, wie noch im 20. Jahrhundert, in alle Ideologien und Bewegungen selbst hineinschlüpft, sie ausplündert und ins Absurde wendet“. Die Folge ist ein politisches System, das wie eine Demokratie aussieht, doch nichts von deren Substanz enthält. Die Wahlen sind manipuliert, die Parteien stehen unter Kontrolle des Präsidenten, die Medien tun, was ihre Besitzer sagen, und die Besitzer gehorchen dem Kreml.

Als wichtigsten Konstrukteur des Systems porträtiert Pomerantsev den Politiker Wladislaw Surkow, der nicht nur ein Strippenzieher sei, sondern zugleich „Ästhet, der Aufsätze zur modernen Kunst verfasst, Experte für Gangster-Rap, der auf seinem Schreibtisch ein Foto von Tupac neben dem Bild des Präsidenten stehen hat“. Wie Surkow könne auch das Regime mühelos seine Identität wechseln. „Es kann sich morgens wie eine Oligarchie anfühlen, nachmittags wie eine Demokratie, zum Abendessen wie eine Monarchie und zur Nacht wie ein totalitärer Staat.“

Zerrspiegel des Westens

Doch nicht nur die Kreml-PR nährt sich von Verwirrung. Die Korruption, die von Konzerngeschäften bis zu Arztbesuchen fast alle Lebensbereiche durchdringt, fußt in einer ausgedehnten juristischen Grauzone, die in den 90ern entstanden ist und seither weitgehend unangetastet weiterblühen konnte. Eine der Geschichten, denen das Buch folgt, ist die der Geschäftsfrau Jana Jakowlewa. Sie wurde plötzlich verhaftet, weil sie „illegal“ mit Chemikalien gehandelt haben sollte, wenngleich sie diese seit Jahren rechtmäßig verkaufte. „Staatliche Überfälle“ nennt Pomerantsev solche Vorgänge, und seiner Schilderung nach sind sie ein verbreitetes Phänomen: Geschäftsleute werden wegen angeblicher Verstöße gegen den Brandschutz oder wegen erfundener Steuerschulden in die Zange genommen oder anhand neu erlassener Gesetze rückwirkend verklagt. Jana Jakowlewa saß Monate in Haft, ehe es zur Verhandlung kam. Erstaunlicherweise wurde sie freigesprochen, weniger wegen ihrer faktischen Unschuld als aus taktischen Gründen. Sie sei zur nützlichen Figur im Machtpoker zwischen zwei Kremlfraktionen geworden, heißt es bei Pomerantsev. „Um in Russland etwas zu erreichen, muss man sowohl großen Mut zum Protest haben als auch Machiavellist sein.“

2010 war Pomerantsev die Einschränkungen seiner Fernseharbeit leid. Der Sender wollte nur „positive“ Geschichten. Als er nach London zurückkehrte, traf er wieder auf Günstlinge des Systems: auf Bürokraten und Oligarchen, die dort ihre Pfründe ins Trockene gebracht hatten, Sprösslinge des postsowjetischen Geldadels, die in exklusiven Nachtklubs unter sich blieben. Die Bereitwilligkeit des Westens, das Geld der russischen Elite anzunehmen, ist für Pomerantsev das Anzeichen einer schleichenden Unterwerfung unter die Spielregeln des Kremls. Man kann auch umgekehrt argumentieren. Der Glamour und die Korruption, die himmelschreiende Kluft zwischen Reichen und Besitzlosen bezeugen Russlands spezielle Einpassung in eine globalisierte neoliberale Ordnung. Und für uns sind sie ein Zerrspiegel unserer eigenen Wirklichkeit.

Buch

Nothing Is True and Everything Is Possible: The Surreal Heart of the New Russia Peter Pomerantsev Public Affairs 2014

Tony Wood schreibt für den Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Tony Wood | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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