Aus der Zeit gefallen: Joe Bidens Kreuzzug für die Demokratie ist zum Scheitern verurteilt

Meinung In Kiew und Warschau feierten sie Joe Biden. Doch der US-Präsident, den Olaf Scholz nun besucht, ist von der alten Mentalität des Kalten Krieges geprägt, die nicht mehr zu einer multipolaren Welt im Wandel passt
Joe Biden auf Besuch in Kiew
Joe Biden auf Besuch in Kiew

Foto: Dimitar Dilkoff/AFP/Getty Images

Das war zuletzt eine große Woche für US-Präsident Joe Biden. Seine energiegeladenen Auftritte in Kiew und Warschau erinnerten an den Wahlkampfstil eines viel jüngeren Mannes. Russische Medien spotteten, dass der US-Präsident sich für seine Wiederwahlkampagne 2024 warmlaufe. Sie haben das Thema verfehlt. Er hat mit ziemlicher Sicherheit die Absicht, erneut zu kandidieren. Doch der Adrenalinstoß der Woche mit den Besuchen in Osteuropa hatte einen anderen Grund.

Biden hat sich selbst als einen edlen, modernen Kämpfer dargestellt, der einen globalen Kreuzzug gegen die Bösen anführt – „eine Prüfung für die Ewigkeit“, wie er es nennt. Biden im Hochgefühl. Er glaubt, dass er und die Demokratie haushoch gewinnen werden. Leider irrt er sich.

Biden erinnert an George W. Bush

Mit „Bösewichten“ meint Biden in erster Linie Russlands Staatschef Wladimir Putin, der sich in seiner wahnhaften Rede in Moskau als unbestrittener Erbe von Ronald Reagans „bösem Imperium“ bestätigt hat. Aber Biden zielt rhetorisch auch auf Autoritäre, Autokraten und Tyrannen überall – auf jeden, der das westliche Demokratiemodell infrage stellt. Dazu gehören Regierungen, die mindestens die Hälfte der Menschheit regieren, wie China, Indien und viele afrikanische Staaten.

Bidens Einteilung der Welt in „Für uns oder gegen uns“-Lager erinnert auf unangenehme Weise an George W. Bush um das Jahr 2001 herum und an Putin selbst. Dass es Amerikas offenkundige Bestimmung ist, Freiheit und Demokratie überall zu verteidigen und zu fördern, ist eine Botschaft, die bei US-Wählern normalerweise gut ankommt.

Zumindest war das einmal so, während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion, in der Zeit, als Bidens Weltanschauung geprägt wurde. Jetzt nicht mehr. Trotz Putins aggressivem imperialem „Irredentismus“ ist diese Ära vorbei. Die heutige zerklüftete, fragmentierte Welt ist multipolar und geopolitisch komplex.

Nach Afghanistan und dem Irak fragen sich viele Amerikaner, warum die USA weiterhin die Lasten und die Verantwortung einer globalen Führungsrolle übernehmen, wie sie von Politikern der Generation von Biden unreflektiert befürwortet wird. Der nächste Präsident, ob Demokrat oder Republikaner, könnte eine weniger expansive, nach innen gerichtete Sichtweise einnehmen. Biden ist der letzte seiner Art.

Donald Trump ante portas?

Wenn das stimmt, dann werden die kühnen Versprechen, die er in Warschau gemacht hat, nur so lange Bestand haben wie Biden selbst. Es ist ein beunruhigender Gedanke, dass die Sicherheit Europas von den Ansichten eines gebrechlichen 80-jährigen Mannes abhängt, der schon bald durch einen Unbekannten – oder, um Himmels willen, durch Donald Trump – ersetzt werden könnte, wie leidenschaftlich Biden auch auftreten mag. Das ist ein starkes Argument für mehr Autarkie. Biden ist zu Europas Ein-Mann-Puffer geworden. Aber er ist ein alter Puffer. Er könnte scheitern.

„Im Krieg in der Ukraine geht es um Macht und um das Prinzip der territorialen Souveränität, und darum, ob die [von den USA geführte] westliche Weltordnung ... die neuen Herausforderungen aus Moskau und Peking überleben wird. Aber es ist zunehmend ein Kampf zwischen zwei alternden kalten Kriegern, einem 70-jährigen [Putin] und einem anderen, der gerade 80 Jahre alt geworden ist“, so die New York Times.

Der Präsident wäre dann 86 Jahre alt

Selbst wenn man davon ausgeht, dass Biden bereit für den Wahlkampf ist, sind viele Wähler immer noch der Meinung, dass er das Handtuch werfen sollte. Das liegt nicht daran, dass sie ihn nicht mögen (viele tun das), sondern daran, dass sie ihn einfach für zu alt halten. Am Ende einer zweiten Amtszeit wäre er 86. Freunde Bidens weisen darauf hin, dass er den Wahlkampf 2020 größtenteils im Sitzen bestritten hat, eingeschlossen in seinem Keller in Delaware wegen der Pandemie-Beschränkungen. Der Schwergewichtskampf im nächsten Jahr wird körperlich unendlich viel anstrengender sein.

Die Kolumnistin Michelle Goldberg ist der Meinung, dass Biden aufhören sollte, solange er noch im Vorteil ist: „Biden ist ein großartiger Präsident gewesen. Er hat eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Wahlversprechen erfüllt. Er sollte gefeiert werden ... Aber er sollte nicht wieder kandidieren.“ In einer kürzlich durchgeführten Umfrage waren 78 Prozent der Demokraten und der den Demokraten nahestehenden Unabhängigen mit Bidens Performance einverstanden, doch 58 Prozent wünschten sich für das nächste Jahr ein neues Gesicht.

Ukraine, Taiwan, Palästina

Der Analyst Ezra Klein meinte, Biden habe alle überrascht, als er bei den Zwischenwahlen im November die Zugewinne der Republikaner begrenzen und die Trump-freundlichen MAGA-Extremisten („Make America great again“) besiegen konnte. Vielleicht kann er das 2024 wiederholen. Es war ihm auch gelungen, aus dem Schatten von Barack Obama herauszutreten, für den er acht Jahre lang die zweite Geige spielte. Doch während Biden zu Hause seiner Vergangenheit entkommen sein mag, ist dies in der Außenpolitik nicht der Fall. Wie Obama ist auch er übermäßig zurückhaltend. Seine übertriebene Sorge, dass die Lieferung der besten Waffen und Luftabwehrsysteme an Kiew Putin provozieren könnte, hat in der Ukraine zu großen, vermeidbaren Zerstörungen geführt.

Taiwan hat immer noch nicht die strategische Klarheit und die Waffen, um eine chinesische Invasion abzuwehren. Bidens Atomdiplomatie mit dem Iran ist gescheitert. Israel-Palästina ist ein politisches Vakuum, in dem schlimme Dinge passieren. Sein Abzug aus Afghanistan war ein beschämendes Desaster. Wenn es um das geht, was er als den folgenreichsten Kampf von allen ansieht – für globale Freiheiten, Gesetze und Werte –, verliert Biden auf der ganzen Linie an Boden. „Die Demokratien der Welt sind stärker geworden ... Die Autokraten der Welt sind schwächer geworden“, erklärte er in Warschau.

Russland und China

Wirklich? Die Ukraine hat bisher überlebt, aber was ist mit dem benachbarten Belarus, wo der Westen zusah, wie pro-demokratische Aktivisten zerschlagen wurden? Was ist mit Myanmar, wo eine von Peking unterstützte Junta täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht? Denken Sie auch an Hongkong, wo die freie Meinungsäußerung eine schöne Erinnerung ist, und an die unterdrückten Völker in Xinjiang, Kaschmir, Nicaragua, Venezuela, dem Westjordanland, Syrien, Jemen, Tigray, Mali, Kambodscha und anderen demokratischen schwarzen Löchern, wo die USA (und ihre Verbündeten) nicht gehandelt haben, weggeschaut haben – oder aktiv mitschuldig waren. Dies ist das alternative Narrativ von Bidens Amtszeit, und um die Freiheit steht es dabei nicht besonders gut.

Das ist auch die komplizierte Realität einer in viele Richtungen gespaltenen Welt, zwischen nicht immer geeinten Demokratien, Russland und China (einzeln oder in Kombination) und den aufstrebenden Mächten des 21. Jahrhunderts im globalen Süden, die sich nicht an die euro-atlantischen Werte des 18. Jahrhunderts, den chinesischen Kollektivismus oder den sowjetischen Totalitarismus alter Schule halten. Die ganze Idee, dass der Westen erfolgreich einen universellen, modernen Kreuzzug für die Demokratie – oder einen zweiten Kalten Krieg – führt, ist geschichtsvergessen, blind für Veränderungen und heimlich neoimperialistisch. Mehr noch, es ist ein aussichtsloses Unterfangen.

Biden meint es gut. Aber man merkt ihm sein Alter an. Seine blumige, überholte „Wir und sie“-Rhetorik ist eine geopolitische Sackgasse. Die Welt hat sich weiterentwickelt. Wie sein russischer Sparringspartner hat Biden das nicht getan.

Simon Tisdall war US-Redakteur für den Guardian und ist heute außenpolitischer Kommentator der Zeitung.

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Simon Tisdall | The Guardian

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