Wer den romantischsten Ort in Romeo und Julias Heimatstadt Verona sucht, der muss raus aus dem historischen Zentrum und stadtauswärts einer Schnellstraße folgen, bis er zur Einfahrt eines heruntergekommenen Industriegebiets gelangt. Jenseits des Friedhofs, neben einem Abstellgleis, stößt er auf ein Büro, dessen Warenbestand die geheimsten Wünsche und tiefsten Ängste der Menschen sind. Die Firmenzentrale des Club di Guiletta (Julias Club) stand auch für einen amerikanischen Film Pate, der im Sommer in die Kinos kommen soll. Briefe an Julia erzählt die fiktive Geschichte einer amerikanischen Journalistin, die sich in Verona dieser bemerkenswerten Gruppe von Freiwilligen anschließt, die auf Briefe antworten, die Liebende aus der ganzen Welt an
Briefe antworten, die Liebende aus der ganzen Welt an Shakespeares Heldin schicken, um sie um Rat zu fragen oder auch einfach, um sich auszusprechen.Rund um einen Tisch, der mit handgeschriebenen Briefen übersät ist, sitzen drei von Julias echten „Sekretärinnen“. Giovanna Tamassia, Elena Marchi und Gioia Ambrosi erzählen Geschichten, die abwechselnd berührend und irre sind, nachdenklich stimmen und einem das Herz zerreißen. „Wir haben eine große Verantwortung“, sagt Tamassia, deren Vater Guilio der Vorsitzende des Clubs und eines seiner Gründungsmitglieder ist. Ambrosi, eine 25-jährige Studentin, kommt der Heldin von Briefe an Julia, die von Amanda Seyfried gespielt wird, am nächsten. Sie beschreibt die Korrespondenz als „Blog über die Menschlichkeit“.Sekretärinnen der HerzenDer Film versetzt Julias Sekretärinnen in ein Büro mit Blick auf den Balkon des Hauses, in dem Shakespeares Heldin gelebt haben soll. Der echte Club hat dort zwar eine Außenstelle, aber die eigentliche Arbeit wird von 15 unbezahlten Kräften in diesem kleinen Backsteingebäude neben dem Abstellgleis erledigt. Soweit bekannt ist, kam der erste Brief der schlicht mit „Julia, Verona“ adressiert war in den 1930ern an, vermutlich im Zuge von George Cukors Verfilmung der Shakespearschen Tragödie. Der Brief fand seinen Weg zu „Julias Grab“, einer Gruft in einem Kloster vor den Toren der Stadt, deren Authentizität ebenfalls umstritten ist. Der dortige Wärter, ein Kriegsveteran, der im Ersten Weltkrieg ein paar Brocken Englisch gelernt hatte, beschloss zu antworten.Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm ein ortsansässiger Dichter heimlich die Rolle von Julias Sekretärin an, doch als seine Identität gelüftet wurde, hörte er, offensichtlich peinlich berührt, damit auf. In den Achtzigern legte der Bürgermeister von Verona die Aufgabe schließlich offiziell in die Hände des Club die Guiletta, der sich ursprünglich gebildet hatte, um Initiativen zu unterstützen, die ihre Stadt mit Shakespeares Stück in Verbindung brachten.„Wir bekommen im Jahr über 5.000 Briefe“, erzählt Tamassia. „Und dann wären da noch mehrere tausend Zettel, die an Julias Haus und an ihrem Grab zurückgelassen werden.“Sie geht davon aus, dass drei Viertel der Nachrichten von Frauen stammen und dass die größte Gruppe amerikanische Mädchen im Teenageralter sind. An der Wand des Torbogens, der zu Julias Haus im mittelalterlichen Stadtkern von Verona führt, hängen jedoch Nachrichten in allen erdenklichen Sprachen: komplette Briefe und Bekenntnisse unsterblicher Liebe von Hamid und Zineb, von Xona und Katrina, auf Chinesisch und Serbokroatisch. Manche sind ausgesprochen poetisch („Für die Hoffnung und die Liebe; für den, den ich am meisten geliebt habe, meinen Geliebten, mein Herz“, steht da zum Beispiel auf Französisch); andere weniger („Ich habe Magenschmerzen im Herz“, beschwert sich ein ungewöhnlich unromantischer Italiener).Anfang Mai bildet sich in Richtung des Torbogens ein permanenter Menschen-Stau, während die Besucher sich in das vermeintliche Haus einer fiktionalen Figur hinein- und wieder hinauszwängen. Ein Anschlag informiert die Besucher unmissverständlich darüber, dass sich das Haus seit dem 13. Jahrhundert im Besitz einer Familie mit Namen Capello befindet und dass „sich daraus der Name des Adelsgeschlechts, aus dem Julia Capuleti stammt, ableitet“.Die Briefe kommen per PostboteJulias Haus hat auch einen Briefkasten und vier Computerarbeitsplätze, die mit pseudo-antiken Metalverkleidungen umgeben sind, an denen die Besucher Julia eine Botschaft hinterlassen können. Allerdings machen die elektronischen Briefe nur zehn Prozent der Post aus, die in ihrem Sekretariat landen. Die überwiegende Zahl der Briefe ist handgeschrieben, mit Füller und Tinte. Und auf diese Art wird ihnen auch stets geantwortet. „Die Leute schreiben oft: „Du bist die Einzige, die mich verstehen kann“, sagt Giovanni Carabetta, der Archivar des Clubs.Der in Nigeria geborene Franklin Ohenhn, der die Arbeit im Sekretariat von seiner Schwester übernahm, sagt, er werde bisweilen in Welten entführt, die nicht weiter vom vornehmen, pittoresken Verona entfernt sein könnten. „Ein Mädchen aus den USA, die in die neunte Klasse ging, schrieb, sie weine, während sie diesen Brief schreibe. Ihr Freund sei bei einer Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Banden ums Leben gekommen.“ Der schwierigste Brief, den er bearbeiten musste, sei ebenfalls von einem amerikanischen Teeanger gekommen. Das Mädchen wollte wissen, ob sie das Kind behalten solle, das sie von einem Jungen erwarte, von dem sie wisse, dass er fremdgehe. „Ich habe ihr geschrieben, sie solle darauf hören, was ihr Herz ihr sagt“, meint Ohenhn und zuckt mit den Schultern.Die Sekretärinnen können die Hilfe eines Psychologen in Anspruch nehmen, die sie von Zeit zu Zeit auch gut gebrauchen können. „Ich denke, der merkwürdigste Fall in unseren Archiven ist der eines Jungen aus Verona“, sagt Giovanna Tamassia. „Mit 24 war er auf einem Friedhof und sah auf einem Grabstein die Fotografie einer jungen Frau. Sie war schon seit Jahrzehnten tot und das Grab war vernachlässigt. Er begann es zu pflegen und eine Beziehung zu der Toten aufzubauen. Er lebte sie, als ob es Liebe wäre.“Der Reiz des Briefgeheimnisses„Uns wundert mittlerweile gar nichts mehr“, fügt Tamassia hinzu. Sie kann sich nur an einen Fall erinnern, in dem der Club sich dazu entschloss, einen Brief nicht zu erwidern. Es gab da eine Zeit, in der eine Reihe amerikanischer Gefängnisinsassen an Julia schrieben, von denen einer die Korrespondenz sehr lange aufrechterhielt. „Er hatte in seinem Leben große Probleme und erzählte mir alles darüber: über seine Liebe zu seiner Freundin, die er verlor, als er ins Gefängnis kam; das Verhältnis zu seinem Vater, der ihn geschlagen hatte. Aber dann wurde er immer aufdringlicher und ab einem gewissen Punkt bekam ich es mit der Angst zu tun. Er fragte nach unserer Anschrift. Da entschloss ich mich, ihm nicht mehr zu antworten.“Das Außergewöhnlichste an dem ganzen Projekt ist vielleicht, dass die Sekretäre und Sekretärinnen ihre Arbeit ehrenamtlich verrichten. „Nun, die Stadt sollte eigentlich die Portokosten übernehmen, aber das Geld reicht nie aus. Ich habe gerade eben wieder Ärger mit der Verwaltung. Was wir hier machen, bringt Verona alle möglichen Vorteile und ich bin der Meinung, sie sollten endlich aufhören, uns so zu behandeln. Wir kriegen alle nichts für das, was wir hier machen“, sagt Giulio Tamassia. „Nichts ist nicht richtig, Giulio“, lächelt Carabetta. „Unser Lohn besteht in dem Genuss, diese wunderbaren Briefe lesen zu dürfen.“ Manchmal tun sie es aber auch aus anderen, persönlicheren Gründen. „Es hat mir geholfen, wieder an Gefühle zu glauben“, sagt Marchi. „Wenn eine Liebe glücklich ist, ist sie glücklich. Aber das Entscheidende ist doch, etwas zu spüren, oder? Egal, wie die Dinge laufen. Eine Garantie für die Zukunft kann es ohnehin nicht geben.“ Eine Einstellung, der die echte beziehungsweise fiktive Julia absolut zugestimmt hätte.
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