Dürfen Demente Sex haben? „Juristisch ein Albtraum“

Sexualität und Missbrauch Einverständnis sei bestenfalls komplex, von den Ungewissheiten der Demenz ganz zu schweigen: Großbritannien diskutiert eine kaum lösbare Frage
Ausgabe 36/2019
Nur weil ihr im Alter manchmal weniger Privatheit vergönnt ist, hört Liebe nicht auf
Nur weil ihr im Alter manchmal weniger Privatheit vergönnt ist, hört Liebe nicht auf

Foto: Jan Nordström / Plainpicture

Frank und Mary* liebten es, Zeit miteinander zu verbringen. Sie saßen zusammen, hielten Händchen. Beide waren demenzkrank und lebten in einer Pflegeeinrichtung. Ihre Nähe machte sie glücklich, und auch ihre Familien freuten sich sehr für die beiden. Mary störte es nicht weiter, wenn Frank sie mit dem Namen seiner Frau ansprach. Und sie hatte auch nichts dagegen, als er anfing, sich in ihren Alltag einzumischen. Sie waren vernarrt ineinander. Irgendwann fing er an, sie auf sein Knie zu setzen, und nach ein paar Drinks konnte man sie schon bald knutschend in der Ecke wiederfinden.

Dies ist kein fiktionales Szenario, sondern die reale Erzählung einer Altenpflegerin. Sie berührt ein Tabu über Sex und Demenz. Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass sich Sexualität und sexuelle Intimität mit dem Alter – und mit einer Demenzerkrankung – zwar ändern können, aber nicht verschwinden und sich positiv auf das geistige Wohlbefinden auswirken. Aktivisten mahnen mit Verweis auf die Zahlen, das Thema nicht länger zu ignorieren. In Großbritannien, wo Frank und Mary leben, wird erwartet, dass die Zahl der Demenzkranken im Jahr 2025 von heute 850.000 – davon 40.000 unter 65 – auf über eine Million ansteigen wird (weitere Informationen zu Deutschland: siehe Kasten).

Bestenfalls komplex

„Es gibt kaum empirische Belege – und einige Betroffene sind eher bereit, über das Thema zu sprechen, als andere“, sagt Colin Capper, der die Abteilung für Forschungsentwicklung bei der britischen Alzheimer-Gesellschaft leitet, „doch unserer Erfahrung nach handelt es sich um ein weitverbreitetes Phänomen in Pflegeeinrichtungen.“ Aus diesem Grund hat die Gesellschaft eine Box mit DVDs, Broschüren und weiteren Materialien entwickelt, die darauf abzielt, Diskussionen unter Altenpflegern anzuregen und sie im Umgang mit dem Thema Sexualität im Alter, insbesondere bei Demenzkranken, zu unterstützen. Die britische Pflegebehörde CQC (Care Quality Commission), die die stationäre Pflege reguliert, sowie die Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing) haben im vergangenen Jahr jeweils eine Leitlinie zu diesem Thema veröffentlicht. So wichtig und hilfreich all das sein mag: Keine Richtlinie macht das Thema zu einer einfachen Sache, räumt Dawne Garrett ein. Sie leitet die Ausbildung für die Pflege von älteren Menschen und Demenzkranken am RNC und hat ihre Dissertation über sexuelle Intimität bei älteren Menschen geschrieben.

Einverständnis sei bestenfalls komplex, von den Ungewissheiten der Demenz ganz zu schweigen. „Juristisch ist es ein Albtraum“, sagt Garrett. Auf der einen Seite ist es das Recht jedes Erwachsenen, selbst zu entscheiden, welche Beziehungen er eingehen möchte, und sexuell aktiv zu bleiben, wenn er will (was auch das Recht einschließt, „schlechte“ Entscheidungen zu treffen). Auf der anderen Seite besteht die Notwendigkeit, schutzbedürftige Menschen vor Missbrauch zu schützen und sicherzustellen, dass die sexuelle Aktivität einvernehmlich stattfindet. Das Kernproblem, so Alex Ruck Keene, der sich als Anwalt in Fragen geistiger Leistungs- und Entscheidungsfähigkeit spezialisiert hat, sei der Zusammenprall dieser „zwei konkurrierenden politischen Ziele – die beide absolut löblich und absolut unvereinbar sind“.

In gewisser Weise ist das Gesetz recht eindeutig: Sexuelle Aktivität (ein breiter Begriff, der von einem Kuss bis hin zu Geschlechtsverkehr alles umfassen kann) erfordert Zustimmung. Dazu gehört, dass man in der Lage sein muss, zu verstehen, wozu man seine Zustimmung gibt, und dies im richtigen Augenblick zu kommunizieren. Sexuelle Beziehungen sind ausdrücklich von der Interessensprüfung ausgenommen, sodass niemand – auch nicht mit gesetzlicher Vollmacht – anstelle eines anderen oder für diesen seine Zustimmung geben kann.

„Es hat sie zerstört“

„Niemand von uns würde eine Welt wollen, in der Zustimmung keine wesentliche Rolle spielt“, sagt Ruck Keene. „Stellen Sie sich vor, was in einem zwielichtigen Pflegeheim passieren könnte.“ Er fügt hinzu: „Das bedeutet, dass das Gesetz sehr streng sein kann.“ Wenn beispielsweise ein Paar 50 Jahre verheiratet sei, dann ein Partner an Demenz erkranke und nicht mehr verstehe, wozu er sein Einverständnis gibt, werde der gesunde Partner praktisch zum Sexualstraftäter, wenn beide weiterhin miteinander schliefen, so Keene. Wenn aber beide Partner nicht mehr in der Lage sind, zu verstehen, wozu sie ihr Einverständnis geben, können sie nicht belangt werden; eine Mitarbeiterin des Pflegeheims, die den beiden den sexuellen Kontakt ermöglicht, könnte aber durchaus angeklagt werden.

Die Öffentlichkeit in einem Pflegeheim füge dieser normalerweise privaten Angelegenheit eine weitere Komplexitätsschicht hinzu, meint Esther Wiskerke, die Altenpfleger im Umgang mit Sexualität von Demenzkranken schult. Pflegerinnen und Pfleger müssten sich ihrer eigenen Überzeugungen sehr bewusst sein, um sicherzustellen, dass sie die Menschen, die sie pflegen, nicht beeinträchtigten, meint Wiskerke. „Ob jemand eine Beziehung weiterführen kann oder nicht, sollte nicht davon abhängen, wer gerade Dienst hat.“

In Deutschland

Hierzulande leben laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAG) etwa 1,7 Millionen Menschen mit Demenz, in den meisten Fällen handelt es sich dabei um die Alzheimer-Krankheit. Jedes Jahr kommen 300.000 hinzu. Die DAG schätzt weiterhin, dass ein Drittel davon in Pflegeeinrichtungen untergebracht ist.

Sexualität im Altersheim wird seit einigen Jahren verstärkt diskutiert. 2017 brachte die pflegepolitische Sprecherin der Grünen, Elisabeth Scharfenberg, den Vorschlag ein, Sexualdienstleistungen für Pflegebedürftige von den Krankenkassen zahlen zu lassen. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Auch auf dem Deutschen Seniorentag 2018 wurde Sexualität im Altersheim diskutiert. Die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen stellte eine Checkliste für ein „Lustfreundliches Altenheim“ vor.

Alle, die an ihren Übungen teilnehmen, haben aus erster Hand Erfahrungen mit dem Thema gemacht. Da ist es wenig verwunderlich, dass zahlreiche Geschichten durch den Raum schwirren. In vielen von ihnen geht es unter anderem um die Schwierigkeit des Umgangs mit den Familien der Heimbewohner – für gewöhnlich deren Kinder (selten die besten Ansprechpartner, wenn es um Rat hinsichtlich der Sexualität eines Menschen geht), die häufig auch die Rechnungen bezahlen. Einige Pflegerinnen glauben, sie müssten die Ansichten der Angehörigen sehr ernst nehmen, andere sagen „es geht nicht um sie – es geht um die Bewohner“. Eine Pflegerin meint, sie sei (ungewöhnlich, fügt sie hinzu) im Begriff, eine Bewohnerin beim Kauf eines Vibrators zu begleiten – und nein, das werde sie gegenüber der Tochter der Frau nicht erwähnen.

Im Fall von Frank und Mary fanden ihre erwachsenen Kinder die zunehmend intimere Beziehung ihrer Eltern verstörend. Ein Treffen wurde einberufen. Es fiel die Entscheidung, die beiden zu trennen – und Frank auf einen anderen Stock zu verlegen. „Mary hat das zerstört“, erzählt Millie, eine junge Pflegerin, die damals noch relativ neu in der Einrichtung war, den anderen Kursteilnehmerinnen. „Sie wurde sehr schwierig. Es war grausam. Wir hatten keine Ahnung, wie wir damit umgehen sollten. Es gab kein Training, keine Unterstützung. Wir haben versagt. Es war schrecklich, schrecklich für alle.“

Wie nun kann älteren Menschen mit Demenz ermöglicht werden, Beziehungen einzugehen, ohne das Gesetz abzuschwächen, das sie beschützen soll? Zunächst, sagt Ruck Keene, müssen wir bedenken, dass „die rechtliche Grenze für die Fähigkeit, sexuelle Beziehungen einzugehen, absichtlich sehr niedrig gehalten ist“. Niemand möchte sich da einmischen, wenn es nicht notwendig ist; und die geistige Leistungsfähigkeit wirkt sich bei jedem Verhalten anders aus: Nur weil man kein eigenes Bankkonto mehr führen oder sich ein Bad einlassen kann, heißt das nicht, dass man nicht in der Lage ist, seine Zustimmung zu einer sexuellen Beziehung zu geben.

Die Richtlinie der britischen Pflegebehörde CQC ist deutlich: Menschen mit Demenz „können ihre Einwilligung zu Sex geben und tun dies auch“. Pflegeheime werden nun danach beurteilt werden, ob sie dies erlauben und – unter den richtigen Umständen – unterstützen. Das Pflegepersonal muss aufpassen und nonverbale Signale des Unbehagens bemerken, sagt Wiskerke. Sollten Zweifel bestehen, fügt sie hinzu, müsse ihr multidisziplinäres Team eingeschaltet und gemeinsam entschieden werden, was das Beste sei. „Die Leiter der Einrichtungen brauchen breite Schultern und dürfen nicht zu risikoscheu sein“, meint Ruck Keene. „Es ist eindeutig nicht im öffentlichen Interesse, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Liebespaares ermittelt, bei dem niemand irgendein Problem erkennen kann, auch wenn es sich technisch gesehen um einen Rechtsbruch handelt.“ Doch die Angst, dass ein solcher vorliegen könnte, könnte verzerren, wie die Einrichtungen mit ihren Bewohnern umgehen.

Ruck Keene arbeitet in einem Projekt, das herausfinden will, ob das Gesetz geändert werden sollte, um Personen mit sich verschlechternder kognitiver Leistungsfähigkeit, zu ermöglichen, eine Art bedingte vorherige Zustimmung zu Intimität mit einem existierenden Partner zu geben. Er räumt ein, dass dies kein einfaches Unterfangen sei. Auch wenn die rechtliche Situation bei Weitem nicht perfekt ist, besteht der einzige Weg nach vorn darin, das Tabu aufzubrechen, ehrlich darüber zu sprechen, zu diskutieren, auszuprobieren und an andere weiterzugeben, wie man damit umgeht. Jeder Fall muss für sich beurteilt werden, um den besten Weg aus diesem Minenfeld der Intimität zu finden.

Info

*Einige der Namen im Text wurden geändert.

Die preisgekrönte britische Journalistin Juliet Rix schreibt für Zeitungen und Magazine. Dieser Text erschien zuerst im Guardian

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Juliet Rix | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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