Kabuls neue Herrscher

Afghanistan Religionsgelehrter, Diplomat, Militärstratege – das sind die Männer, die jetzt über die Zukunft des Landes entscheiden
Ausgabe 34/2021

Als die Taliban 1996 zuletzt die Macht in Afghanistan übernahmen, war keine Frage, welche Regierungsform sie einführen würden und wer als Regierungschef auserkoren war. Sie füllten ein Vakuum, und der Geistliche, der die Gruppe seit ihrer Gründung zwei Jahre zuvor angeführt hatte, übernahm das Kommando: Mullah Mohammed Omar.

Damals war die afghanische Hauptstadt Kabul ein Trümmerhaufen mit wenigen, dafür hungrigen und verängstigten Einwohnern, praktisch ohne Wirtschaftsleben; es gab kaum Telefone und auf den Straßen fuhren uralte, in Russland produzierte Autos sowie Busse aus den 1970er-Jahren, die ihren Weg hierher irgendwann aus Deutschland gefunden hatten. Die Taliban konnten durchsetzen, was sie wollten.

Heute sind die Umstände ganz andere. Seit der Absetzung der Taliban durch die US-geführte Militärkoalition nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich Kabul zu einer geschäftigen Metropole mit fünf Millionen Einwohnern und einem völlig verstopften Verkehrssystem entwickelt. Auch der Rest des Landes hat sich enorm verändert. Das macht die Aufgabe, vor der ein neuer Staatschef steht, zu einer schwierigeren und komplexeren Herausforderung. Aber wer wird die Regierung übernehmen?

Der wahrscheinlichste Kandidat ist der 60 Jahre alte islamische Rechtsgelehrte Hibatullah Achundsada. Er übernahm die oberste Führung der Taliban, nachdem sein Vorgänger Akhtar Mansur durch einen US-amerikanischen Drohnenangriff 2016 nahe der afghanisch-pakistanischen Grenze getötet worden war, und hat das letzte Wort bei politischen, religiösen und militärischen Entscheidungen. Achundsada wuchs in Panjwai auf, einem Bezirk in der Provinz Kandahar, unweit von deren gleichnamiger Kapitale, der drittgrößten Stadt Afghanistans nach Kabul und Herat. Wie die meisten hochrangigen Talibanführer gehört er als Paschtune der größten ethnischen Gruppe des Landes an, die seit jeher das Recht auf die Herrschaft über dieses beansprucht.

Der strenge Asket

Während der 1980er-Jahre kämpfte Achundsada in der Nähe seines Heimatorts gegen die Sowjetunion und ihre örtlichen Unterstützer, gemeinsam mit Brigaden junger religiöser Studenten und Geistlicher, die später den Kern der Taliban bildeten. Er studierte in Religionsschulen in Afghanistan und im Nachbarland Pakistan, war der wichtigste religiöse Berater Mullah Omars und erhielt schließlich als herausragender Gelehrter den Status eines „Sheikh ul-hadith“.

In den vergangenen Jahrzehnten klärte Achundsada als oberster Richter der Taliban heikle Fragen wie die nach der Rechtmäßigkeit von Selbstmordanschlägen oder die, ob es richtig sei, den Islamischen Staat zu bekämpfen, als dieser versuchte, sich in Afghanistan zu etablieren. Zudem behandelte er als Lehrender an Religionsschulen die komplexesten, wichtigsten Texte.

Bekannt für seine persönliche strenge, asketische Haltung, war Achundsada ein Kompromiss, als der oberste Führungsrat der Taliban ihn 2016 über die Köpfe von einigen anderen, besser bekannten Anführern hinweg zum Emir machte. Sein ethnischer Hintergrund und sein Ruf als religiöser Gelehrter sprachen für ihn. Seither hat er sich als pragmatischer erwiesen, als viele Beobachter das erwartet hatten: Er ließ Verhandlungen mit den USA zu und ermutigte Kämpfer und Entscheidungsträger der Taliban immer wieder, afghanische Gemeinden durch gute Regierungsführung und Disziplin für sich zu gewinnen.

Aus ihrer Verachtung für die Demokratie machen die Taliban keinen Hehl, sie haben bereits angekündigt, die afghanische Verfassung von 2004 außer Kraft zu setzen und statt der aktuellen Republik ein Emirat auszurufen. Das würde bedeuten, dass der derzeitige „Emir ul momineen“ oder „Anführer der Gläubigen“, Achundsada, automatisch die Führung übernimmt.

Doch die Taliban sind keineswegs monolithisch, und selbst der Emir kann nicht darauf zählen, dass seinen Entscheidungen uneingeschränkt gefolgt wird. Der Rat der religiösen Führer – bekannt als Quetta Shura nach der Stadt Quetta im Westen Pakistans, in der viele hohe Anführer der Taliban leben – ist zwar mächtig, aber während an der Spitze der Bewegung die ideologische Übereinstimmung groß ist, haben viele ihrer Mitglieder auf der zweiten Ebene ihre eigenen Strategien, Ambitionen und Verbindungen ins Ausland. Einige unterstützen das Streben nach internationaler Anerkennung, andere priorisieren die Durchsetzung strenger Verhaltensregeln und die Kontrolle der Bevölkerung. Viele sitzen im Führungsrat und leiten die Komitees, die die Politik in vielen Gegenden bestimmen und durchsetzen.

Derzeit hat Achundsada drei „Stellvertreter“ mit ganz unterschiedlichen Profilen: Ihre Eigenschaften könnten nicht nur bestimmen, welche Position sie in einer künftigen Taliban-Regierung einnehmen. Wer etwa den Posten einer Art Ministerpräsident übernimmt, wenn Achundsada sich aus dem alltäglichen Regierungsgeschäft zurückzieht, wird auch bestimmen, welcher Art das neue Regime ist. Ein westlicher Regierungsvertreter beschrieb das Trio als „den, der gerade noch geht, den, der schlecht, und den, der sehr, sehr schlimm ist“.

Am bekanntesten ist wohl Mullah Abdul Ghani Baradar. Der Anfang-50-Jährige gehörte zur Gründergeneration der Taliban und leitete vor seiner Rückkehr nach Kandahar deren Vertretungsbüro. Sein Name bedeutet „Bruder“ und wurde ihm als Zeichen der Zuneigung von Mullah Omar selbst gegeben. 2010 wurde Baradar in der südpakistanischen Hafenstadt Karatschi verhaftet und verbrachte acht Jahre in einem pakistanischen Gefängnis. Schließlich wurde er entlassen, mutmaßlich auf Bitte Washingtons, um die Taliban zu Friedensgesprächen mit den USA zu bewegen. Baradar entwickelte sich zum wichtigsten Diplomaten der Gruppe, traf Vertreter regionaler Mächte wie Pakistan und China sowie Anführer anderer islamistischer Bewegungen zu persönlichen Gesprächen und telefonierte mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump.

Der zweite Mann aus der Stellvertreter-Riege ist Mullah Mohammad Yaqoob, Sohn von Mullah Omar. Yaqoob übernahm kürzlich die Leitung des „Militärkomitees“ der Taliban, er gilt daher als maßgeblicher Stratege hinter dem militärischen Vorgehen, das die Taliban zurück an die Macht katapultiert hat.

Der Sohn des Veteranen

Yaqoob, der auf Mitte 30 geschätzt wird, galt vor fünf Jahren als möglicher Kandidat für die oberste Führungsrolle, entschied sich dann aber dafür, Hibatullah Achundsada zu unterstützen. Er habe sich selbst für noch zu jung und unerfahren im Kampf gehalten, erklärte damals ein Taliban-Kommandeur auf dem Treffen, auf dem Akhtar Mansurs Nachfolger bestimmt wurde.

Der dritte und möglicherweise einflussreichste Mann des Trios ist der, der die westlichen Geheimdienste am meisten in Unruhe versetzt: Siradschuddin Haqqani ist der Sohn des verstorbenen prominenten Mudschahidin-Befehlshabers Dschalaluddin Haqqani, ein Kriegsveteran im Kampf gegen die Sowjets, der eine mächtige Kampftruppe entlang der durchlässigen Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan aufgebaut hat. Das Haqqani-Netzwerk unterstützte die Taliban 2001 und wird für Dutzende tödlicher Angriffe in Kabul und anderswo verantwortlich gemacht. Haqqani, der wahrscheinlich Ende 40 ist, wacht über die finanziellen und militärischen Mittel der Taliban – und zwar in den für staatliches Recht und Gesetz kaum zugänglichen Stammesgebieten Pakistans. Er unterhält zudem enge Beziehungen zu hochrangigen Vertretern der internationalen Terrorgruppe al-Qaida und der pakistanischen Geheimdienste. Haqqani steht auf der Liste der meistgesuchten Verdächtigen der US-Bundespolizei FBI, die ihn als „bewaffnet und gefährlich“ beschreibt. Im vergangenen Jahr firmierte er als Autor eines in der New York Times veröffentlichten Meinungsbeitrags mit dem Titel „Was wir, die Taliban, wollen“.

Alle drei Männer werden voraussichtlich zentrale Rollen in der neuen Regierung übernehmen, die in Kabul gebildet wird – egal, wie diese dann im Detail aussieht. Nur wenige versuchen sich an Spekulationen, was Achundsada und sein Stellvertreter-Trio mit ihrer zurückgewonnenen Macht konkret zu tun gedenken. Die vier selbst geben darauf auch kaum Hinweise. „Das sind erfahrene Männer, die Jahrzehnte des Krieges überlebt haben“, so formuliert es ein afghanischer Beobachter, der namentlich nicht genannt werden möchte. „Die lassen sich nicht in die Karten gucken.“

Jason Burke ist einer der erfahrensten Reporter des Guardian und hat unter anderem über die Kriege in Afghanistan und im Irak berichtet

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Jason Burke | The Guardian

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