Kameraleute des Grauens

Strategie Terroristen nutzen den Medienwandel, um über immer neue Kanäle Schrecken zu verbreiten. Mit Smartphones und Laptops werden wir unfreiwillig zu ihren Komplizen
Ausgabe 13/2016
In Brüssel und Paris machten die Täter keine eigenen Bilder, es gab genug
In Brüssel und Paris machten die Täter keine eigenen Bilder, es gab genug

Collage: der Freitag; Material (von r. im UZS): Bulent Kilic & Anne Gelbard/AFP/Getty Images, Imago, John Thys & Gabrielle Chatelain/AFP/Getty Images

Die letzten anderthalb Tage seines Lebens verbringt Mohammed Merah größtenteils vor seinem Laptop in seiner kleinen Wohnung in Toulouse. Es ist März 2012. Draußen sammeln sich Spezialeinheiten und Journalisten. Merah wärmt sich Tiefkühlessen in der Mikrowelle auf und prüft seine Waffen. Der 23-Jährige spricht mit Unterhändlern und schildert, wie er einige Monate zuvor nach Pakistan gereist ist und dort bei einer Al-Qaida-nahen Gruppe eine Kampfausbildung erhielt. Ziemlich wirr begründet er zudem, warum er in den vergangenen zwei Wochen sieben Menschen erschossen hat.

Die meiste Zeit jedoch arbeitet Merah am Computer. Wenige Stunden bevor ihn die Polizei nach einem Feuergefecht erschießt, stellt er ein 24-minütiges Video aus Bildern seiner GoPro-Kamera fertig. Die Nutzer von GoPro-Kameras sind vor allem Extremsportler, die ihre Adrenalin-Abenteuer aus der eigenen Perspektive mitschneiden wollen, indem sie sich die Kamera auf den Kopf schnallen. Merah nutzt die Technik, um die Vorbereitungen für seine Taten, die Morde selbst und seine Fluchten auf dem Motorrad zu filmen.

Warten auf den Tod

Seine ersten drei Opfer sind Soldaten außer Dienst, zwei Muslime und ein Katholik. Die anderen tötet er beim Angriff auf eine jüdische Schule – einen Rabbiner und drei Kinder. In Merahs Video ist zu sehen, wie er eins dieser Kinder jagt. Die achtjährige Miriam Monsonego zögert für einen Moment, als die anderen davonrennen, weil sie ihre Schultasche nicht zurücklassen will. Merah packt sie am Haarschopf, wechselt die Waffe, als die erste blockiert, und schießt dem Mädchen in den Kopf.

Rund 24 Stunden nachdem die Polizei sein Wohnhaus umstellt hat, gelingt es Merah, einmal durch die Absperrung zu schlüpfen. Er nutzt die Gelegenheit nicht, um zu entkommen, sondern um ein Päckchen in einen Briefkasten zu werfen, das einen USB-Stick mit seinem Video enthält. Dann kehrt er zurück und wartet auf den Tod.

Das Päckchen schickt er an den Fernsehsender Al Jazeera. Er ist überzeugt, dort werde sein Film ausgestrahlt. Al Jazeera zeige ja dauernd „Massaker und Bomben und so“, meint er. Doch Merahs Bilder kommen nicht ins Fernsehen. Sie enthielten „keine neuen Informationen“ und verstießen gegen die ethischen Grundsätze des Senders, begründet Al Jazeera die Entscheidung.

Diese verhindert aber nicht, dass islamistische Milizen und Einzeltäter in den Jahren seither massenhaft Gräueltaten abfilmen und die Bilder weltweit verbreiten. Der IS hat sich auf diese Form der Schockpropaganda geradezu spezialisiert – möglich gemacht durch eine Technologie, mit der sich Videos kinderleicht herstellen und hochladen lassen. Die Terroristen führen vor, wie sie ihre Opfer enthaupten, erschießen, in die Luft jagen. Wie sie Menschen von Hochhäusern stürzen oder bei lebendigem Leib verbrennen. Und mit ein paar Klicks kann sich jeder Internetnutzer die Bilder unzensiert auf den Schirm holen.

Meist dienen diese Videos einem doppelten Zweck: Für Sympathisanten sollen sie inspirierend wirken, bei allen anderen sollen sie Panik, Angst und Ekel auslösen. Ein aktuelles Beispiel der IS-Videos beginnt mit Fernsehbildern über die Mordanschläge von Paris im vergangenen November. Es folgen Aufnahmen von einigen der Attentäter, die vorab in Syrien gefilmt wurden. Die Männer tragen Messer und Ansteckmikrofone. Erst stoßen sie Drohungen gegen den Westen aus, dann ermorden sie Gefangene. Ein weiteres Video zeigt, wie ein kleiner Junge ein Auto sprengt, in dem vier angebliche Spione sitzen. Und ein dritter Clip zeigt zwei Kinder beim Wettlauf durch ein Labyrinth – am Ausgang kauern Gefangene, die von ihnen erschossen werden. Die Gewalt in diesen Videos nimmt immer krassere Formen an und ist zunehmend aufwendig choreografiert.

Diese Propaganda des Grauens hat Debatten darüber ausgelöst, welche Rolle die Clips für die Rekrutierung von IS-Kämpfern spielen und inwiefern die Medien mitverantwortlich sind, weil sie den Terrorismus mit dem „Sauerstoff der Öffentlichkeit“ versorgen. Dabei werden aber zwei entscheidende Punkte bisher kaum berücksichtigt. Zum einen, dass die neue Technologie Medien und Terrorgruppen auf erschreckend ähnliche Weise prägt. Und zum anderen, wie viel wir selbst – unwillentlich – zur Entwicklung der terroristischen Medienstrategie beigetragen haben.

Nach den Anschlägen von Brüssel konnte man sehr genau beobachten, welche Bedeutung Bilder und Videos von Augenzeugen mittlerweile bekommen haben. Über die sozialen Netzwerke Twitter und Facebook rauschte schon Minuten später ungefiltert ein Strom von Handyfotos und verwackelten Videos, die Menschen vor Ort von am Boden liegenden, blutenden Opfern und den Anschlagsorten gemacht hatten. Viele etablierte Medien – von Online-Portalen über Zeitungen bis zu den großen Fernsehsendern – griffen darauf zurück, ohne Rücksicht auf die Würde der abgebildeten Opfer zu nehmen. Und auch ohne groß zu reflektieren, inwieweit das Reproduzieren dieser Bilder den Tätern und ihren Absichten in die Hände spielt.

Dass Terrorismus und Medien zusammenhängen, ist natürlich nichts Neues. Terroristen wollen bei möglichst vielen Menschen Ängste wecken, um Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben. Es ist kein Zufall, dass sich der Terrorismus in seiner modernen Form seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete – zur selben Zeit wie die Massenmedien und die Demokratie. Ohne Massenmedien würden von einem Attentat nur wenige Menschen erfahren. Und ohne Demokratie hätten die Mächtigen nur wenig Grund, auf Terrorängste der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich der Terrorismus zwar fort, stand aber im Schatten des Grauens der beiden Weltkriege. Einen neuen Anstieg terroristischer Gewalt gab es dann in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es war die Phase, als in nordamerikanischen und europäischen Haushalten das Fernsehen Einzug hielt. Die Freiheitskämpfer in den Kolonien erkannten schnell dessen Potenzial. 1956 fragte der algerische Revolutionär Ramdane Abane laut, ob es besser sei, in einer abgelegenen Schlucht zehn Feinde zu töten, „wenn niemand darüber spricht“ – oder „einen einzigen Feind in Algier, was am nächsten Tag alle wissen“.

Fernseh-Großereignisse

Als Ende der 1960er im Nahen Osten die nächste Terrorwelle aufkam – die im folgenden Jahrzehnt in einer ganzen Serie von Politikermorden, Flugzeugentführungen und Bombenattentaten gipfelte –, erlaubte es die Technik erstmals, Filmbilder billig und schnell über große Entfernungen zu versenden. Die Olympischen Spiele 1972 in München waren die ersten, die weltweit live übertragen wurden – und die ersten, die Ziel eines terroristischen Angriffs wurden. Unweigerlich wandten sich die Kameras von den Wettkämpfen ab und der palästinensischen Terrorgruppe Schwarzer September zu, als diese elf israelische Athleten kidnappte und ermordete. In den Jahren danach wurden Geiselnahmen und Flugzeugentführungen geradezu regelmäßig zu Fernseh-Großereignissen, bei denen ein Massenpublikum jeden Schritt verfolgte.

Als Osama bin Laden und ein paar arabische Afghanistan-Veteranen 1988 Al-Qaida gründeten, waren die Massenmedien in der islamischen Welt von Staaten und staatsnahen Konzernen beherrscht. Extremisten mussten sich mit Flugblättern begnügen – und mit kopierten Audio- und Videokassetten, die in Moscheen und Läden verteilt wurden. Zur Mobilisierung von Kämpfern in der näheren Umgebung taugten diese Mittel, doch für eine größere Reichweite waren Fernsehsender unerlässlich. Vereinzelt gelang es der frühen Al-Qaida, per TV ein Millionenpublikum zu erreichen, doch die Hürden dafür waren hoch.

Bin Laden war sich über die Bedeutung der Medien von Anfang an im Klaren. Während des Kriegs gegen die Sowjets in den 80ern hatte er die Propaganda der afghanischen Mudschaheddin mitorganisiert. Um sein öffentliches Bild zu formen, ließ er sich bei seinen seltenen Exkursionen an die Front von ausgesuchten Filmemachern begleiten. Und während seiner Jahre im Sudan (1991-96) ließ er sich von seinem saudischen Landsmann Khalid al-Fawwaz ein Medienbüro in London einrichten. Doch die langatmigen Erklärungen, die bin Laden dort veröffentlichen ließ, wurden kaum beachtet – so etwa seine „Botschaft an die muslimischen Brüder in der ganzen Welt und vor allem auf der arabischen Halbinsel“ von 1996.

Ende der 90er eröffneten sich neue Möglichkeiten. Überall in der islamischen Welt gingen Satellitenkanäle auf Sendung und zeigten Bilder, die nicht erst von Regierungsstellen genehmigt wurden. Al Jazeera gab den Weg vor, viele andere folgten. Sie berichteten über Gewalt gegen Muslime im Kosovo, in Tschetschenien oder im Gazastreifen. Und sie übertrugen lebhafte, kontroverse Diskussionsrunden in Millionen Wohnzimmer, Kaffeehäuser und Büros.

Bin Laden, mittlerweile wieder in Afghanistan, nutzte diese Netzwerke für sorgfältig inszenierte Pressekonferenzen und ließ eine Serie von Video-Statements im Al-Jazeera-Büro in Islamabad abliefern. Doch noch immer hatten seine Worte nicht die erwünschte Wirkung. Die Verlautbarungen wurden redaktionell bearbeitet und, wenn überhaupt, nur in Schnipseln gesendet.

Für die Extremisten war die Lektion klar: Spektakuläre Anschläge waren nötig, so erschütternd, dass keine Nachrichtenredaktion sie übergehen konnte. Doch für solche Attentate musste erheblich in Ausbildung und Infrastruktur investiert werden. Die Doppel-Bombenanschläge gegen US-Botschaften 1998 in Ostafrika, der Versuch, vor der Küste Jemens ein amerikanisches Kriegsschiff zu versenken im Jahr 2000 und schließlich der 11. September waren komplexe Operationen.

Und anders als es oft heißt, hielt sich bin Laden zu dieser Zeit nicht in Höhlen versteckt. Das wäre nicht nur höchst unkomfortabel gewesen, sondern hätte auch die nötige Kommunikation unmöglich gemacht. Bin Laden bewegte sich damals mit Großfamilie und etlichen Bediensteten zwischen verschiedenen Anwesen und Camps hin und her. In den Camps wurden zugleich Hunderte von Rekruten trainiert.

Vielfach war zu lesen, die Attentate vom 11. September seien in diesen Trainingslagern ausgeheckt worden. Plausibler ist aber die umgekehrte Erklärung: Al-Qaida richtete die Camps ein, um die neue Strategie der spektakulären Gewalttaten mit weltweitem Medienecho umsetzen zu können. Vor dem 11. September konzentrierte die Organisation ihre ganze Energie auf die Planung der Anschläge und ließ ihr zweites Ziel, Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen, ruhen.

Strenge Hierarchien

Auch wenn Al-Qaida danach strebte, ihre Ideologie möglichst weit zu verbreiten und damit Muslime in aller Welt zu radikalisieren, behielt die Terrororganisation eine zentralistische Hierarchie bei. Lokale Ableger konnten Vorschläge machen, doch die Entscheidung lag immer bei bin Laden oder seinen Vertrauten. Diese Struktur entsprach ziemlich genau jener der meisten damaligen Medien: Eine strenge Zentrale unterhielt Zweigstellen in teils größerer Entfernung, die alle dem Zweck dienten, eine bestimmte Botschaft so weit wie möglich zu tragen.

Mit dem 11. September erreichte bin Laden, was viele andere Terroristen vergeblich versucht hatten – er zog die ungeteilte Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich. Über Jahre hin wurde nun jede seiner Äußerungen gesendet, oft in ganzer Länge, anschließend wurden sie unzählige Male diskutiert und wiederholt. Ebenso wie die Bilder von den Anschlägen selbst. Keinem Terroristen zuvor oder seither ist es gelungen, mit so vielen Menschen zu kommunizieren. Und doch wirkt diese Strategie heute bereits veraltet.

Als Islamisten Ende 2003 die irakische Stadt Falludscha in ihre Gewalt brachten, richteten sie dort Trainingslager, Bunker, Fernmeldestationen, Munitionslager, Gefängnisse und ein Fernsehstudio ein. Ein Jahr später eroberten US-Truppen die Stadt und fanden in dem Studio Videokameras und Schnittausstattung vor. An einer blutbespritzten Wand hing die Flagge des örtlichen Al-Qaida-Ablegers, der einem jordanischen Ex-Sträfling Mitte 40, bekannt unter dem Namen Abu Musab al-Sarkawi, unterstand. Sarkawi hatte für den Intellektualismus der älteren Al-Qaida-Kommandeure wenig übrig. Sein Ansehen verdankte er einer Mischung aus Organisationstalent und hemmungsloser Gewaltbereitschaft. Er zählte zu den ersten Dschihadisten, die sich die digitale Revolution zunutze machten.

Der Fortschritt bei den digitalen Medien in den Nullerjahren hat die Aktionsweise von Terroristen gründlich verändert. Binnen weniger Jahre waren einige ihrer bis dahin größten Probleme schlicht verschwunden. Den Umbruch brachten erschwingliche Digitalkameras und eine Software, die es erlaubte, mit minimalen Kenntnissen professionell wirkende Clips zu schneiden. Kostspielige Ausrüstung, unhandliche Videobänder, sperrige Schnitt- und Kopiertechnik – all das war nun obsolet. Ebenso die Kuriere, die zuvor das Material zu den Sendern gebracht hatten.

Man brauchte es auch nicht länger irgendwelchen Redakteuren recht zu machen: Sarkawi und seine Helfer konnten ihre Videos selbst anfertigen und ins Internet stellen. Und zwar so, dass sie genau die Leute ansprachen, die sie erreichen wollten. Um ihre Botschaft zu vermitteln, mussten die Dschihadisten keine Flugzeuge mehr in Gebäude krachen lassen. Die aufwendige Logistik entfiel.

Ob die Bilder zu grauenhaft fürs Fernsehen gerieten, spielte auch keine Rolle mehr. Im Mai 2004 filmte Sarkawis Gruppe den Mord an ihrer amerikanischen Geisel Nicholas Berg und versuchte gar nicht erst, die Aufnahmen in die offiziellen Medien zu bringen, sondern lud sie auf einer extremistischen Webseite hoch. Die vielzitierte Zahl von einer halben Million Downloads innerhalb von 24 Stunden mag übertrieben sein, doch hatten derartige Bilder nie zuvor ein so großes Publikum erreicht. Der gefilmte Mord machte Sarkawi, der zuvor als Randfigur gegolten hatte, zu einem der bekanntesten Terroristen der Welt.

Genauso wie die traditionellen Medienunternehmen hatten auch Terrororganisationen, die noch nach altem Muster operierten, unter dem digitalen Umbruch und dem eskalierenden Wettstreit um Aufmerksamkeit im Internet zu leiden. Als Sarkawis Vorgesetzte bei Al-Qaida ihn zur Zurückhaltung ermahnten, stellte er sich einfach taub. Und als er 2006 bei einem Luftschlag der US-Armee getötet wurde, hatten sich Extremisten und Aufständische in aller Welt die Technologien längst angeeignet.

Aber die digitale Revolution ging weiter. Erst wurden die Videokameras so klein, dass sie sich in Mobiltelefone einbauen ließen. Dann folgte der Siegeszug der Smartphones, mit denen man von überall Bilder und Videos in die sozialen Netzwerke einspeisen konnte. Diesmal waren es aber nicht die Extremisten, die die Neuerungen zuerst für ihre Zwecke nutzten, sondern die demokratischen Aktivisten des Arabischen Frühlings. Als es den Protestierenden gelang, die alten Herrscher in Tunesien und Ägypten aus dem Amt zu jagen, wurde auch den Dschihadisten klar, wie nützlich dieser Medienwandel war.

Bin Laden, Jahrgang 1957, und seine alternden Vertrauten hinkten nun hinterher, während der IS, angeführt vom 1971 geborenen Abu Bakr al-Baghdadi, voll auf die neuen Mittel setzte. Ende 2011 schickte die Terrorgruppe Clips von Morden an irakischen Soldaten und Polizisten deren hinterbliebenen Kameraden auf die Smartphones. Zugleich begann sie, für Angriffe auf westliche Ziele auf Einzeltäter zu setzen. Diese Strategie des „führerlosen Dschihad“ geht auf die Schrift Aufruf zum globalen islamischen Widerstand zurück, die ein gewisser Abu Musab al-Suri 2005 online publizierte. Die Attentäter, so schreibt er, bräuchten „Prinzipien, nicht Organisationen“. Sie müssten keiner Gruppe angehören, sondern sollten individuell handeln, angeleitet von Texten aus dem Internet.

Dieses Konzept der „einsamen Wölfe“ findet sich im islamistischen Terror der vergangenen Jahre immer wieder umgesetzt. Zum Beispiel 2010, als eine junge Britin einen Parlamentsabgeordneten erstach, oder 2013 beim Mord an einem Ex-Soldaten in London. Auch die Männer, die bei den Attentaten auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris zwölf Menschen töteten, hatten nur lose Verbindungen zu bekannten Terrorgruppen.

„Terrorismus ist Theater“, schrieb der amerikanische Sicherheitsexperte Brian Jenkins 1974. Demnach ließe sich die heutige dschihadistische Gewalt als ein Strom unvorhersehbarer, aufeinander verweisender Pop-up-Performances beschreiben, die an die Stelle der einen großen Aufführung treten. Die terroristische Kommunikation nutzt eine Vielzahl von Kanälen zugleich: Das alte, zentralistische Modell hat ausgedient. Damit spiegelt die Struktur der Terrorgruppen – diversifiziert, fragmentarisch, beweglich – einmal mehr die gewandelte Struktur der Medien wider, deren Aufmerksamkeit sie suchen.

Was als Nächstes kommt, ist schwer zu sagen. Anscheinend strebt der IS, nachdem er für seine Attacken im Westen bisher fast ausschließlich auf den „führerlosen Dschihad“ setzte, nun auch verheerende Groß-Attacken nach Al-Qaida-Vorbild an. In den vergangenen Monaten mussten wir Beispiele für beide Strategien beobachten. Die Attentäter von Paris im November waren junge Männer mit Migrationshintergrund aus Belgien und Frankreich, die in Syrien zusammengefunden hatten – in einem der Trainingslager, die der IS dort eingerichtet hat. Vermutlich wurden sie dort ausgebildet und eigens für die Mordanschläge zurück nach Europa beordert. Das Paar hingegen, das im Dezember im kalifornischen San Bernardino 14 Menschen tötete, hatte zuvor keinen Kontakt mit dem IS und schwor Anführer al-Baghdadi erst per Facebook ihre Treue, als sie schon dabei waren, ihr Attentat zu verüben.

Technisch möglich wäre es nun jederzeit, dass ein Einzeltäter oder eine Terrorgruppe einen Anschlag per Livestream überträgt. Mit GoPro-Bildern aus der Perspektive der Mörder. Die Voraussetzungen dafür sind alle da. Und wenn es so weit kommt, werden wir zur Entscheidung gezwungen sein, ob wir hinschauen oder nicht.

An den Pariser Attentaten im November und den jetzigen Anschlägen in Brüssel mag erstaunen, dass die Mörder eben keine Kameras trugen. Das könnte ein Versehen gewesen sein – oder eine Reaktion auf die Medienumwelt, in der sich Terroristen heute bewegen. Beim Mord an dem Soldaten Lee Rigby 2013 in London hatten die Täter eine Erklärung vorbereitet, die sie vor Passanten am Tatort verlasen. Natürlich hatten diese Passanten Telefone mit Videokameras bei sich, und natürlich filmten sie. Einer dieser Zuschauerfilme brachte es in zahlreiche Nachrichtensendungen: Er zeigt, wie einer der Mörder mit blutverschmierten Händen auf die Polizei schimpft und sich entschuldigt, dass Frauen und Kinder solche Gewalt mitansehen mussten.

Der Drang, Bilder zu teilen

Auch beim Charlie-Hebdo-Attentat gingen nicht selbstproduzierte Bilder der Terroristen, sondern Aufnahmen eines Augenzeugen um die Welt. Ein Anwohner hielt per Smartphone fest, wie die Mörder auf dem Gehsteig vor dem Redaktionsgebäude einem verwundeten Polizisten in den Kopf schossen.

Von den Anschlägen im November wurden drei Mitschnitte millionenfach gesehen. Einer stammt von einer Überwachungskamera in einer Kneipe und zeigt, wie einem der Schützen beim Versuch, eine Frau zu töten, die Waffe versagt. Ebenfalls weltweit zu sehen war das Handy-Video von panischen Konzertbesuchern, die während des Angriffs aus dem Bataclan-Saal zu fliehen versuchen, manche schwer verletzt, eine Frau hochschwanger. Den wohl größten Eindruck aber hinterließen Bilder, die einer der Zuschauer filmte, unmittelbar bevor und während die ersten Schüsse fielen. Dutzende derer, die da tanzten und jubelten, waren kurz darauf tot.

All diese Bilder stammen von Menschen, die unmittelbar oder mittelbar Ziel der Anschläge waren. Und damit eröffnet sich eine beklemmende Perspektive: Die Attentäter von Paris genauso wie jene von Brüssel trafen vielleicht deshalb keine Vorkehrungen, ihre Morde zu dokumentieren, weil sie wussten, dass es nicht nötig war. Sie konnten sich darauf verlassen, dass heute überall Kameras sind. Und dass unser Drang, das Grauen festzuhalten und die Bilder zu teilen, keine Grenzen kennt.

Jason Burke ist Afrika-Korrespondent des Guardian. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit islamistischem Extremismus und hat als Reporter über die Kriege in Afghanistan und dem Irak berichtet

Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Jason Burke | The Guardian

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