Klassenkampf jetzt!

Gesellschaft Jahrelang hieß es, der Kapitalismus habe gewonnen und der Sozialismus sei tot. Jetzt ist es Zeit für ein Comeback
Vor allem junge Leute arbeiten heute länger für einen geringeren Lohn
Vor allem junge Leute arbeiten heute länger für einen geringeren Lohn

Foto: Kevork Djansezian/Getty Images

Vor der Finanzkrise von 2008 hielten viele Klassenpolitik für tot. Eine ansteigende Welle, so hieß es, würde alle Boote anheben. Stattdessen verdunkelten eine beispiellose Kreditvergabe und steigende Vermögenspreise die wachsende Kluft zwischen dem einen Prozent und dem Rest. Jetzt, wo die Blase geplatzt ist, ist klar, wessen Interessen unser Wirtschaftssystem dient – und die Klassengegensätze verschärfen sich wieder.

1992 verkündete Francis Fukuyama, die Geschichte sei an ihr Ende gekommen und der Kapitalismus habe gesiegt. Margaret Thatcher hatte schon vorher erklärt, es gebe keine Alternative zum freien Markt. Die Welt geriet in den Bann dessen, was Mark Fisher als „kapitalistischen Realismus“ bezeichnete – es war für die meisten Menschen mittlerweile einfacher geworden, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.

In diesem Jahr jedoch, also drei Jahrzehnte später, hat der Economist seine Titelgeschichte der Analyse eines besorgniserregenden neuen Trends gewidmet: dem Aufstieg des millennial socialism, des Sozialismus der Millenials. Überall auf der Welt wenden sich junge Leute massenhaft Politikerinnen und Politikern zu, die ihr ganzes Leben lang gegen die Übel des Systems der freien Marktwirtschaft gekämpft haben. Auf einmal ist der Sozialismus wieder cool. Was ist aus dem Ende der Geschichte geworden?

Hatte sich Marx geirrt?

Die treibende Kraft der historischen Entwicklung im Kapitalismus ist der Konflikt zwischen verschiedenen Klassen – und für eine Weile schien die Klassenpolitik zu verschwinden. In den 1990ern behaupteten Soziologinnen, Ökonomen und Politikerinnen allesamt, die traditionellen Klassenschranken seien durch die Ausweitung von Eigentum und Verteilungsstaat sowie die Zunahme von Angestelltenberufen verschwommen. Mit anderen Worten: Karl Marx hätte sich geirrt.

Doch seit 2008 ist die Klassenpolitik mit voller Wucht zurück. Schon 2017 musste der Economist einräumen, die Politiker von heute könnten von Marx viel lernen. Von vielen Liberalen, die noch immer in den Neunzigern feststecken, werden Politiker, die den grundlegenden Gegensatz zwischen den Vielen und den Wenigen – zwischen denjenigen, die von ihrer Arbeit und denjenigen, die von ihrem Vermögen leben – herausstellen, zwar als Populisten verschrieen, in den vergangenen Jahren sind sie jedoch bemerkenswert erfolgreich.

Die Geschichte kam mit dem Fall der Berliner Mauer nicht an ihr Ende – ein Punkt, den Fukuyama mittlerweile einräumt –, weil die Klassenpolitik nicht aufhörte. Vielmehr wurde der Klassencharakter des Kapitalismus durch die Geburt eines neuen Wachstumsmodells noch weiter verschärft, das seine Wurzeln im Aufstieg des Neoliberalismus der 1980er Jahre hat. Thatcher beseitigte Beschränkungen im Kapitalverkehr, deregulierte den Finanzmarkt, entmündigte Bausparkassen und privatisierte den kollektiven Reichtum des Landes. Deregulierte Banken vergaben Kredite in noch nie dagewesener Höhe an Konsumenten in der reichen Welt.

Die Logik des Finanzkapitals drang in den öffentlichen Sektor ein

Unternehmen waren geradezu besessen von ihrem Aktienpreis sowie ihrem Ansehen an der Wall Street und der Londoner City. Der Siegeszug des „Shareholder Value“ führte in der westlichen Welt zu sinkenden Löhnen und einem Rückgang langfristiger Investitionen zugunsten von Fusionen und Übernahmen, Dividendenausschüttungen und Aktienrückkäufen.

Gleichzeitig trug eine Lawine aus billigen Krediten in Verbindung mit einem von einer neuen Globalisierungswelle getriebenen Konsumboom dazu bei, die zunehmende Kluft zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen zu verwischen. Steigende Hauspreise sorgten dafür, dass viele Verbraucher sich reicher fühlten.

Anstatt zu versuchen, den Einfluss der Finanzmärkte auf den Rest der Wirtschaft einzuschränken, förderte der Staat diese Entwicklungen aktiv. Das Aufkommen privater Finanzierungen und Public Private Partnerships bedeutete das Eindringen der Logik des Finanzkapitals in den öffentlichen Sektor.

Die erste Generation seit 1800, die schlechter dran ist als ihre Eltern

Dieses von Grund auf nicht nachhaltige System ist 2008 zusammengebrochen. Die wirtschaftliche Misere, die wir seitdem erfahren haben – gekennzeichnet durch stagnierende Löhne, sinkende Investitionen, das Wachstum internationaler Monopole, steigende Verbraucherschulden und einem gewaltigen Anstieg der Ungleichheit – repräsentiert lediglich die Vertiefung von Trends, die schon zuvor sichtbar waren.

Heute hat sich das Versprechen der Blasenjahre völlig verflüchtigt und die meisten Leute gewöhnen sich daran, dass ihre Lage sich nicht verbessern wird. Junge Leute – die heute länger, aber für einen geringeren Lohn arbeiten – haben den Glauben an das System vollkommen verloren. Millennials sind die erste Generation seit dem Jahr 1800, die schlechter dran ist als ihre Eltern.

Das Wiederaufleben der Klassenpolitik ist keine Modeerscheinung, sondern eine Reaktion auf die materiellen Bedingungen, die durch den Zusammenbruch des finanzmarktgetriebenen Wachstums geschaffen wurden. Nach einer Rezession, die durch verantwortungslose Gier der Wenigen verursacht wurde, und einem Sparprogramm, das den Vielen die Kosten für die Sanierung aufbürden sollte, ist so offensichtlich wie nie zuvor, dass Reichtum und Macht der Wenigen auf Kosten aller anderen beruhen. Oder, um Bernie Sanders zu paraphrasieren: Es herrscht schon seit langem Klassenkampf – es wird Zeit, dass die Arbeiterklasse ihn gewinnt.

Das Ding ist noch nicht durch

In diesem neuen politischen Kontext geht es in der Wirtschaftspolitik nicht mehr länger darum, an den Rahmenbedingungen eines stabilen Modells herumzudoktern. Heute geht es in der Wirtschaftspolitik um Macht und ich vertrete die These, dass dies der Augenblick ist, in dem die abhängig Beschäftigten die Kontrolle über unsere wichtigsten Institutionen zurückgewinnen und das Machtgleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit wieder herstellen sollten.

Der einzige Weg, um eine solche Veränderung herbeizuführen, besteht darin, das Eigentum des Staates, der Beschäftigten und der Gesellschaft an den wichtigsten Ressourcen der Gesellschaft zu fördern. In einem Wirtschaftssystem, in dem das Eigentum durch den Finanzsektor vermittelt wird, erfordert dies eine sozialistische Regierung, um in einer Weise gegen die Banken vorzugehen, wie Thatcher dies gegen die Gewerkschaften tat.

Das durch den Finanzsektor gesteuerte Wachstum entstand, weil seine Befürworter ihre Kontrolle über den Staat nutzten, um die organisierte Macht der Werktätigen zu brechen und sie davon zu überzeugen, dass der Kapitalismus ein für alle Mal gewonnen habe. Als der Finanzsektor immer einflussreicher wurde und die Alternativen zum Kapitalismus immer weiter außer Sicht gerieten, fiel es immer schwerer zu glauben, dass es noch eine andere Art und Weise geben könnte, die Wirtschaft zu organisieren. Heute besteht die größte Herausforderung für die Linke darin, die Menschen daran zu erinnern, dass die Geschichte noch nicht vorbei ist, dass der Kapitalismus nicht gewonnen hat und dass wir noch immer über die Macht verfügen, die Welt zu verändern.

Grace Blakeley ist Wirtschaftskommentatorin des New Statesman und Autorin des Buches Stolen: How to Save the World From Financialisation

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Grace Blakeley | The Guardian

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