Kein Ende der Angst

Renaissance The Screamers waren eine interessante, aber wenig bekannte Band des L.A.-Punk. Nun verhilft Youtube ihnen zu mehr Zuhörern als sie je hatten. Eine Erinnerung

Der Clip beginnt mit der Frontalaufnahme eines Hubschraubers: der Lärm der Startgeräusche wird von einer absteigenden Synthesizer-Melodie überlagert. Ein Titel erscheint: „Screamers.“ Das nächste Bild ist unscharf, ein pink-brauner Fleck vor einem meergrünen Hintergrund. Die ominöse Melodie bricht nicht ab, doch nun arbeitet eine aggressivere Synthesizer-Melodie dagegen an. Ein Live-Schlagzeug setzt ein und beschleunigt das Tempo, das Ganze schlägt in einen manischen Punk-Song um.

Der verschwommene Fleck wird schärfer: Ein Hinterkopf mit stacheliger Frisur zuckt im Takt des aggressiven Tempos, dann hält er stocksteif still. Die Kamera entfernt sich von ihm, während die Musik weiter peitscht. Sie bricht abrupt ab, die Person dreht sich um: „Be quiet or be killed“, brüllt sie und man sieht ihr von Wut und Frust verzerrtes Gesicht in Nahaufnahme. Die Spannung ist gebrochen, der Song beginnt.

Der Titel 122 Hours of Fear ist eine Überschrift aus der Tageszeitung Los Angeles Herald-Examiner, unter der 1977 über die Entführung der Landshut berichtet wurde. Die Lyrics sind aus Perspektive einer Geisel geschrieben. Dieses Themas nahmen sich im selben Jahr auch Brian Eno and Snatch in ihrem Song R.A.F. an. Immerhin war es die Zeit von Entebbe und Mogadischu, die Entführungen der Air-France- und der Lufthansamaschine sorgten weiltweit gleichermaßen für Schlagzeilen.

Taschenmesser-Performance

Screamers-Sänger Tomata du Plenty zieht einen direkt in dieses grauenhafte Szenario hinein. Seine Fähigkeiten als Performancekünstler sind augenfällig: das wie gemeißelt wirkende Gesicht, halb Psychopath, halb Strichjunge aus den Fünfzigern, wechselt innerhalb von Sekunden von Wut zu absoluter Unbewegtheit. Er kann gleichzeitig mittendrin sein im Song und darüber stehen: das ist nicht einfach gerissen, sondern es zieht den Hörer umso mehr mit hinein.

Nach 2:15 Minuten weicht die Kamera weiter zurück, und man sieht die Band. K.K. Barrett; ein blonder Drummer in einem gestreiften T-Shirt, erweist sich als der emotionale Typ, während die beiden an den Synthesizern – Paul Roessler und Tommy Gear – Bewegungen darbieten, die irgendwo zwischen Gefallsucht und totaler Ablehung liegen. Die Kamera zoomt wieder auf du Plenty, als dieser wie ein Taschenmesser über seinem linken Knie zusammenklappt.

Es folgen ein paar Sekunden Stille: „You’d better shut up and listen“, schreit du Plenty und der Aufruhr geht wieder los. Der Rest des Clips entspricht eher einem der üblichen Live-Mittschnitte bei den Proben, doch am Ende kehrt die Kamera zum Sänger zurück, der mit einem Blick die Linse fixiert, der von einer glühenden Speed-Psychose zu einer gequälten Verletzlichkeit zu wechseln scheint.

Dieses bemerkenswerte Promo-Video wurde im September 1978 im Target-Video-Studio in San Francisco gedreht. Obwohl die Screamers zum innersten Kreis der Punk-Szene in Los Angeles zählten, hatten sie – anders als all ihre Kumpels – keinen Plattenvertrag. Sie sollten niemals einen bekommen – trotz ihres klar definierten Images und des hochtrabenden Ehrgeizes, den sie in Interviews und den Presseberichten, die tonnenweise über sie produziert wurden, an den Tag legten.

Plattenveröffentlichungen bedeuten nichts

Die Screamers waren ihrer Zeit in Los Angeles absolute Vorreiter. Es gab andere Synth-Punk-Bands wie Suicide, Throbbing Gristle und The Normal, aber die lebten in New York und Europa und tendierten langsam zu weicheren Electro-Pop-Platten. Am ehesten entsprachen ihnen noch die sagenhaft aggressiven Metal Urbain aus Paris.

Für das mangelnde Interesse der Musikindustrie gab es jedoch andere Gründe. Die Ära erfolgreicher Synthesizer-Bands wie Soft Cell und Human League lag drei Jahre zurück und mit konfrontativen Nummern wie 122 Hours of Fear, (If I Can’t Have What I Want, I Don’t Want) Anything und Punish Or Be Damned lockte man die punkfeindlichen Plattenfirmen auch nicht in Scharen an.

Viele andere kalifornische Punk-Bands wie die Germs, die Avengers und die Dils saßen im selben Boot und veröffentlichten ihre Songs ganz klassisch als 45er Independent-Singles. Doch als ich damals mit den Screamers im Anschluss an den Videodreh für 122 Hours of Fear sprach, wies Tommy Gear die ganze Idee weit von sich: „Was bedeutet es schon, eine Platte zu veröffentlichen? Hätte ich ein paar Tausender, dann könnte ich hingehen und eine Platte aufnehmen. Was bedeutet das schon? Nichts.“

Unser Interview war seltsam. Vollkommen von der Kraft seiner Konzepte eingenommen, war Gear zunächst extrem sarkastisch, bevor er sich dann doch dazu durchrang, einen Funken Charme an den Tag zu legen. Tomata du Plenty erwies sich als verträumt und erleuchtet, mit einem Hang zu klugen Floskeln, wie: „Ich glaube, dass in den meisten Fällen die Werbung spannender ist als das eigentliche Produkt.“ K.K. Barrett wiederum war die Stimme der Vernunft; nun, irgendeiner musste das ja übernehmen.

Renaissance auf Youtube

Mir machte ihr Wortschwall nicht allzu viel aus; ich hatte mit Devo Schlimmeres erlebt. Man erwartete das damals geradezu. Aber ich fand, dass sie etwas zu entschieden waren, insbesondere als Gear die Band mit den Monkees zu vergleichen begann: „Eine Sache die wir gerne machen möchten, ist Videoprojektionen von uns zu zeigen, anstelle einer echten Performance. Dann können wir das Geld einkassieren, ohne da sein zu müssen.“

Die Screamers redeten immer weiter, hatten all diese sensationellen Ideen, während die Welt sich nicht weiter um sie scherte. Als sich die erste Welle der L.A.-Punk-Szene um sie herum aufzulösen begann, warteten sie weiter beharrlich auf den perfekten Deal, der niemals kommen sollte. Sie veröffentlichten keine einzige Platte und verschwanden mit den vergilbenden Seiten der Fanzines, den verwesenden Flyern und den alten VHS-Kassetten; ein Beispiel dafür, was hätte sein können.

Doch dann kam Youtube. Wenn man The Screamers dort in das Suchfeld eingibt, dann findet man eine ganze Reihe von Live- und Studio-Mitschnitten, darunter auch 122 Hours of Fear. Die Klickzahlen belaufen sich auf über 100.000, das sind geschätzt 95.000 mehr Menschen als die Band während ihrer Karriere gehört oder gesehen haben. Im 21. Jahrhundert haben die Screamers endlich ihr Publikum gefunden.




Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Jon Savage | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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